6. Juli 1957

Wir dürfen nicht die Geduld verlieren

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Die weltgeschichtliche Auseinandersetzung, die ohne unser Zutun in Gang gekommen ist, von deren Ausgang aber letzten Endes das Schicksal Deutschlands völlig abhängt, nähert sich in den nächsten Jahren einem entscheidenden Punkt. Deutschland ist durch seine geographische Lage, durch die Kraft und Intelligenz, das Potential seiner Bevölkerung, durch seine wirtschaftliche Macht mitten in dies Weltgeschehen hineingestellt und mit ihm unlöslich verbunden. Seine geographische Lage hat schon seit Jahrhunderten, besonders in den letzten 150 Jahren, Deutschland zu einem bestimmenden Faktor geschichtlichen Geschehens gemacht. Diese schicksalhafte Bedeutung ist Deutschland verblieben trotz seiner Niederlage, trotz seines Zusammenbruchs und trotz der Veränderung der ganzen Weltlage. Man mag das begrüßen, man mag es beklagen, an der Tatsache vorbeigehen, zu glauben, dass es für Deutschland ein politisch und wirtschaftlich isoliertes Dasein gebe, ist aus realen Gründen unmöglich, das ist ein Wunschtraum, eine Illusion. Zwei Riesenmächte sind aus dem Krieg hervorgegangen, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion. Alle anderen Mächte, auch die früheren Großmächte, haben diesen beiden gegenüber derartig an Macht verloren, dass keine von ihnen für sich allein den Gefahren der Weltlage die Stirn bieten kann. Die Gefahr der Weltlage aber hat sich entwickelt aus dem Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten, die Freiheit für alle wollen, und Sowjetrussland, das alle Völker seiner Diktatur unterwerfen will.

In der deutschen Öffentlichkeit, auch in den Parlamenten, wird nur zu leicht und zu gern dieser entsetzliche Ernst der ganzen Lage, auch unserer Lage, vergessen. Wenn es zu scharfen Verwicklungen und Auseinandersetzungen zwischen den Vereinigten Staaten und Sowjetrussland kommt, dann sind wir mitten in einem Brennpunkt dieser Auseinandersetzung, mit allen furchtbaren Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Eine deutsche Bundesregierung mag früher erklärt haben, wir sind neutral, wir haben keine Wehrpflicht, auf unserem Gebiet sind keine atomaren Waffen - das alles würde uns gar nichts helfen. Ein großer Krieg würde unsere Grenzen nicht beachten, und wir können sie nicht schützen, weil wir dazu zu schwach sind. In einem großen Atomkrieg würden die radioaktiven Wolken vom Winde, den wir doch wahrhaftig nicht aufhalten können, getrieben, auch über ein neutralisiertes oder sich für neutral erklärendes Deutschland hinweggehen. Aber der große Krieg, der weite Gebiete der Erde verwüsten, ungezählte Millionen und Menschenleben vernichten würde, ist nicht unvermeidbar, er kann verhütet werden und er muss verhütet werden, und zwar durch eine allgemeine kontrollierte Abrüstung. Diese wird kommen, wenn die freien Völker des Westens sich fest zusammenschließen, wenn sie zusammengeschlossen so stark sind, dass Sowjetrussland einsieht, diese Front steht fest, sie ist so stark, dass ein Angriff gegen sie Selbstmord für Sowjetrussland sein werde. Dann, aber auch nur dann wird es zu einer allgemeinen kontrollierten Abrüstung kommen. Aber sie wird niemals erreicht werden, wenn Sowjetrussland glaubt, dass diese Abwehrfront der freien Völker schließlich doch sich auflösen würde. Darum muss alles geschehen in der deutschen Politik, um das Band, das uns mit den freien Völkern im NATO-Bündnis vereint, zu stärken und zu festigen, und alles muss vermieden werden, was geeignet ist, dieses Band, das uns mit den freien Völkern umschließt, zu lösen oder zu schwächen. Der größte Fehler, den man in der Politik machen kann, insbesondere in der Außenpolitik, weil die hier begangenen Fehler sich in der Regel nicht mehr korrigieren lassen, ist, eine Entscheidung lediglich im Hinblick auf eine augenblickliche Situation zu fällen. Besonders in der Außenpolitik gibt es Entwicklungstendenzen und Entwicklungsreihen, die man niemals ungestraft außer Acht lässt. Darum müssen wir bei unseren Entschließungen das beachten, was sich seit 1945 ereignet hat, wodurch es denn eigentlich zu dieser, das Glück und den Frieden der Menschheit bedrohenden krisenhaften Spannung auf der Welt gekommen ist. Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten, warum es notwendig war, uns mit den freien Völkern des Westens im NATO-Bündnis zu verbünden, und ob wir nicht alles tun müssten, jede Lockerung dieses Bündnisses zu verhüten.

Die heutige Entwicklung hat einen entscheidenden Anschluss bekommen durch die Vorgänge der Jahre 1946 bis 1951. 1946 waren die Vereinigten Staaten allein von allen Ländern der Welt im Besitz spaltbaren Materials, der Grundlage der Atombombe. Sie haben damals den Vorschlag gemacht, alles spaltbare Material an eine internationale Behörde zu übertragen, die allein über das spaltbare Material zu verfügen hätte. Es war ein Vorschlag von einer eindeutigen Großartigkeit und Selbstlosigkeit. Die USA waren damit bereit, einen großen Teil ihrer Macht, denn diese Macht beruhte wesentlich auf dem Besitz dieses Materials, freiwillig dahinzugeben. Die Verwirklichung dieses Vorschlages hätte der Menschheit unendlich viel Sorge und Angst erspart, es wäre niemals zu der gefährlichen Lage von heute gekommen. Die ungeheuren Summen, die seitdem für atomarische Aufrüstungen verbraucht worden sind, hätten für soziale, das Wohl aller Menschen fördernde Zwecke zur Verfügung gestanden. Dieser Vorschlag der Vereinigten Staaten aber ist abgelehnt worden, und zwar durch die Sowjetunion. Es gibt keinen schlagenderen und konkreteren Beweis für die wirklichen Tendenzen der beiden Weltmächte. Diese aggressive Tendenz der Sowjetunion, wieder andere Völker zu unterjochen, hat sich dann in den folgenden Jahren durch die Unterdrückung der Satellitenstaaten gezeigt, bis die Vereinigten Staaten, die nach 1945 abgerüstet hatten, durch die Tatsache einer neuen Aufrüstung dem weiteren russischen Vordringen in Europa Einhalt geboten haben. Diejenigen, die später den russischen Versicherungen Glauben geschenkt haben, Stalin habe diese Politik der Aggression und Unterdrückung anderer Völker gewollt, mit seinem Tode sei es anders geworden, kann man nur auf das verweisen, was im letzten Jahr und was zur Zeit in Ungarn geschieht. Sie wissen, dass die UNO eine Untersuchungskommission über die Vorgänge in Ungarn eingesetzt hat. Diese Kommission hat ihren Bericht erstattet. Sie hat einstimmig festgestellt, dass das Eingreifen der Sowjets in Ungarn am 4. November 1956 eine offenbare Aggression gegenüber einem freien Volke gewesen ist. Sowjetrussland hat mit Gewalt und Terror dieses freie Ungarn zertrümmert und eine neue kommunistische Herrschaft dort eingesetzt, die unter dem Schutz der in Ungarn stehenden sowjetischen Divisionen die freiheitsliebende ungarische Bevölkerung weiter peinigt und terrorisiert. Nicht Reden, nicht Drohen, nicht Reisen, nicht schöne Worte der Staatsmänner der Sowjetunion können an diesen Tatsachen etwas ändern. Trotz dieses Verhaltens der Sowjetunion begrüßen wir es, dass die Verhandlungen der Unterkommission der Abrüstungskommission der UNO, die im März dieses Jahres in London begonnen haben, nach einer kurzen Unterbrechung nunmehr wieder in Gang gekommen sind. Die Vorschläge der Vereinigten Staaten, die im Einvernehmen mit ihren Verbündeten gemacht werden, die uns bekannt sind, sind sehr weitgehend und geeignet, durch eine allgemeine kontrollierte Abrüstung, und zwar sowohl auf dem Gebiete der Atomwaffen wie auf dem Gebiete der konventionellen Waffen, endlich der Welt wieder Ruhe zu geben.

Wir haben nichts gegen eine Inspektion unseres Landes. Im übrigen sollte man sich daran erinnern, dass wir schon einer Inspektion durch die Westeuropäische Union unterliegen. Man sollte sich auch daran erinnern, dass in der Bundesrepublik sich aus der Zeit des Viermächteabkommens eine russische Militärmission befindet - ihr Sitz ist Baden-Baden -, die genau sich darüber unterrichtet, was bei uns auf militärischem Gebiete vorgeht. Die Russen werden sicherlich das Gebiet der Bundesrepublik aus irgendwelchen Flugzeugen heraus ständig kontrollieren und photographieren. Für den Entschluss der Vereinigten Staaten, zuerst eine Inspektion der Arktis vorzuschlagen, nicht zuerst eine Inspektion der europäischen Länder, war maßgebend allein der Gedanke, dass man schneller vorankommen müssen, wenn man wenigstens zunächst die europäischen Gebiete zurückstellte, weil zu deren Kontrolle der Beschluss zahlreicher Parlamente notwendig ist. Ich erkläre ausdrücklich, dass wir zu jeder möglichen Unterstützung einer kontrollierten Abrüstung auf dem Gebiete der atomaren konventionellen Waffen bereit sind. Wir gehen dabei von der Voraussetzung aus, dass gleichzeitig auch die Ursachen der verschiedenen Spannungen beseitigt werden. Dazu rechnen wir in erster Linie die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Hierfür haben wir von unseren Partnern, insbesondere von den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich, den drei westlichen früheren Besatzungsmächten, bindende Zusagen erhalten. Die Abrüstungsverhandlungen werden sehr lange dauern. Dulles schätzt ihre Dauer auf ein bis zwei Jahre. Man wird dem beipflichten müssen, wenn man die Vielfalt und Schwierigkeit der zu regelnden Tatbestände und die Verhandlungstaktik Sowjetrusslands berücksichtigt. Wir dürfen dabei nicht die Geduld verlieren, und wir werden sie nicht verlieren. Dafür ist das Ziel, das es zu erreichen gilt, zu groß. Ich bin der festen unerschütterlichen Überzeugung, dass Sowjetrussland zu einer solchen Abrüstung dann bereit sein wird, wenn es sich einer geschlossenen und festen und unerschütterlichen Front der westlichen freien Völker, in der NATO zusammengeschlossen, gegenübersieht.

 

Quelle: Schwäbische Landeszeitung - Augsburger Zeitung vom 6. Juli 1957.