Gustav W. Heinemann

* geboren 23.07.1899 in Schwelm
† gestorben 07.07.1976 in Essen


Dr. rer. pol., Dr. jur., Jurist, Bundesminister, Bundespräsident, ev.

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Übersicht

1917-1918Kriegshilfsdienst
1918Studium der Rechtswissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte vornehmlich in Marburg/Lahn, daneben in München, Münster, Göttingen und Berlin
1921Promotion in Marburg zum Dr. rer. pol.
1929Promotion in Münster zum Dr. jur.
seit 1926als Rechtsanwalt in Essen tätig
1928-1936Justitiar
1936-1949Bergwerksdirektor der Rheinischen Stahlwerke in Essen
1945-1967Mitglied des Rats der EKD
1949-1955Präses der Synode der EKD
1945Mitgründer der CDU in Essen
1946-1949dort Oberbürgermeister
1947-1948Justizminister von Nordrhein-Westfalen
1949-1950Bundesminister des Innern
1951Gründung der Notgemeinschaft für den Frieden Europas
1952Austritt aus der CDU und Gründung der Gesamtdeutschen Volkspartei zusammen mit H. Wessel
1966Bundesminister der Justiz
1969-1974Bundespräsident

Biographischer Werdegang

Heinemann stammte aus einem bürgerlichen Elternhaus, von der mütterlichen Seite her gab es Rückbindungen an die liberalen und republikanischen Traditionen im Umfeld von 1848. Heinemanns biographische Prägungen befähigten ihn zu marktwirtschaftlichem und rechtsstaatlichem Denken, ökonomischer und juristischer Kompetenz sowie zum Dienst an der Kirche aus eingewurzeltem evangelischen Glauben. Heinemanns Auffassungen von Politik bildeten die Summe dieser Prägungen. Befürworter der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik, führte ihn sein Weg seit 1930 über den CSVD zur Opposition gegen die NS-Diktatur in der Bekennenden Kirche.

Bundesminister

Als Bundesinnenminister trat Heinemann am 10.10.1950 demonstrativ zurück, um gegen Konrad Adenauers selbstherrliches Vorgehen in der Wehrfrage zu protestieren, nachdem der Kanzler den Westmächten einen Verteidigungsbeitrag zur Stärkung des westlichen Bündnisses nach dem Beginn des Korea-Kriegs angeboten hatte. Heinemann lehnte aus nationalen Motiven die Wiederbewaffnung ab, weil sie ihm die Teilung Deutschlands zu zementieren schien. Sein politisches Engagement in der „Notgemeinschaft für den Frieden Europas" 1951 und in der GVP 1952-1957 galt dem Ziel, die Chance der nationalen Einheit durch den Verzicht auf Wiederaufrüstung und politische Integration ins westliche Bündnis zu bewahren. Heinemann wurde dadurch ein scharfer Gegner Adenauers und nahm in den 1950er Jahren eine konsequent neutralistische Haltung ein. Seine Gegnerschaft zu Adenauer resultierte auch aus unvereinbaren Auffassungen über den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Der Kanzler vertrat den Standpunkt, daß sich nur durch das Bewußtsein eines fundamentalen Neubeginns nach 1945 die Vergangenheit überwinden lasse; das erfordere von den Deutschen die klare Frontstellung gegen die totalitären Diktaturen des Nationalsozialismus im Dritten Reich und des Stalinismus in der DDR sowie die unzweideutige Parteinahme für die westlichen Demokratien und Einbindung in die westliche Allianz. Heinemann dagegen forderte von der Politik, daß sie sich den Wirkungen des Nationalsozialismus zu stellen, die Schuld der Deutschen zu bekennen sowie den Willen zur Umkehr zu artikulieren habe. Das lief auf die Ablehnung jeglicher Form von Machtpolitik und auf die Bereitschaft zur Toleranz auch gegenüber dem ideologischen Gegner hinaus.

In der Spannungsphase des Kalten Krieges bis 1961/62 gewann Heinemanns moralische Haltung nur wenig Resonanz, aber sie qualifizierte ihn in der Epoche der Entspannung von den mittleren 1960er Jahren an als Repräsentanten einer auf Verständigung gerichteten Politik im Innern und nach außen. Nach der Auflösung der GVP 1957 trat Heinemann in die SPD ein. Während des Neuorientierungsprozesses der Partei im Kontext des Godesberger Programms seit 1959 entfalteten Heinemann und seine jungen Mitstreiter aus der GVP, die sämtlich fest im Protestantismus verwurzelt waren (Erhard Eppler, Diether Posser, Johannes Rau, Jürgen Schmude), deutlichen Einfluß. Sie formten das protestantische Profil der SPD mit und trugen dadurch zur Abgrenzung gegen das eher katholische Profil der Unionsparteien bei, wie es auch schon ein Anliegen der GVP gewesen war. Als SPD-Abgeordneter im Deutschen Bundestag seit 1957 wirkte Heinemann gegen Adenauer, nicht zuletzt durch seine scharfe Kritik an dessen Deutschlandpolitik. Befürworter von Entspannung in der Außenpolitik und von Liberalisierung in der Rechts- und Gesellschaftspolitik, wurde Heinemann 1966 Justizminister in der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger.

Bundespräsident

Seine Wahl zum Bundespräsidenten am 5.3.1969, die er im 3. Wahlgang mit 512 gegen 506 Stimmen gegen den Kandidaten der CDU und CSU, Bundesverteidigungsminister Schröder, gewann, bildete den Auftakt für den von Heinemann selbst so bezeichneten „Machtwechsel" von den unionsgeführten Regierungen seit 1949 zu den Kabinetten der SPD/FDP-Koalition seit 1969. Heinemann war ein deutscher Patriot und ein entschiedener Demokrat. Er vertrat die Auffassung, daß die Deutschen mit der Tradition des bürgerlichen Liberalismus im Vormärz und des Kampfes für eine parlamentarische Verfassung in der Revolution von 1848/49 über einen Fundus an liberaler Demokratie verfügten, den es nach 1945/49 in der Bundesrepublik kritisch neu anzueignen und in den Wertvorstellungen der westdeutschen Gesellschaft bewußt zu halten galt. Damit opponierte er gegen das dominierende politische Handlungsmuster in der Bundesrepublik, welches bei den Bundestagsparteien CDU, CSU und FDP von Anfang an, bei der SPD seit 1957/59 auf Westintegration gerichtet war und darüber in erster Linie die Orientierung am Vorbild der westlichen Demokratien sowie eine Hinwendung zum Wertehorizont des atlantischen Liberalismus in der Gesellschaft förderte. Als Bundespräsident war er bestrebt, die nationale Tradition der Demokratie durch das Gedenken an die Revolutionäre von 1848 wiederzubeleben. Er überzeugte, weil er seinen Grundsätzen seit der frühen Nachkriegszeit konsequent treu blieb und in der Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Reformen seit 1966 für sich beanspruchen konnte, schon längst entsprechende Auffassungen vertreten zu haben. Als im Reformprozeß am Beginn der 1970er Jahre Anzeichen doktrinärer Verhärtung nicht mehr zu übersehen waren, ließ Heinemann erkennen, daß er 1974 nicht erneut für das Amt des Bundespräsidenten kandidieren wolle. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in Essen.

  • Präsidiale Reden (1975); Allen Bürgern verpflichtet. Reden des Bundespräsidenten 1969-1974 (1975).
  • Glaubensfreiheit - Bürgerfreiheit. Reden und Aufsätze zu Kirche, Staat, Gesellschaft 1945-1975 (1976).
  • Es gibt schwierige Vaterländer. Reden und Aufsätze 1919-1969 (1977).
  • U. Schütz: Gustav Heinemann und das Problem des Friedens in Nachkriegsdeutschland (1993).
  • K.-L. Sommer, Die politische Tätigkeit Gustav Heinemanns und der Wandel parteipolitischer Grundpositionen in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Geschichte als Verantwortung. Festschrift für Hans Fenske zum 60. Geburtstag (1996).
  • Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Gustav Heinemann und seine Politik (1999).
  • E. Jesse, in: U. Kempf/H.-G. Merz (Hg.), Kanzler und Minister 1949-1998 (2001).

Anselm Doering-Manteuffel