Innen- und Gesellschafts­politik

Marie-Luise Recker

Mit seiner am christlichen Menschenbild orientierten Innen- und Gesellschaftspolitik hat Adenauer als Gründungskanzler der Bundesrepublik Deutschland die innere Verfasstheit des westdeutschen Staates maßgeblich geprägt.

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Grundlagen

Wenn die Gründungszirkel der CDU ihre neue politische Bewegung als „Sammlung der Mitte“ über konfessionelle Grenzen hinaus ansahen, die die christlich-sozialen, die liberalen und die wertkonservativen Traditionen der Vorgängerparteien zusammenführte, dann war dies auch der Orientierungsrahmen für ihre Innen- und Gesellschaftspolitik. Schon in ihren ersten programmatischen Erklärungen hatten sie „die Achtung vor dem Recht der Persönlichkeit, ihrer Ehre, Freiheit und Menschenwürde“ (Gründungsaufruf Berlin vom 26. Juni 1945) und „die Achtung der menschlichen Würde“ (Kölner Leitsätze vom 17. Juni 1945) in den Mittelpunkt ihrer Aussagen gestellt. Ihr Freiheitsbegriff speiste sich aus dem christlichen Menschenbild. Persönliche Freiheitsrechte, gesellschaftliche Mitwirkungsrechte und soziale Grundrechte waren somit der Dreiklang, aus dem heraus die Christdemokraten ihre Gesellschaftspolitik entwickelten.

Dieses neue Gesellschaftsbild vom Vorrang des Einzelnen, seiner Würde und seiner Freiheit vor dem Staat und staatlicher Macht hat auch Adenauer in öffentlichen Reden immer wieder beschworen. Das deutsche Volk, so betonte er am 24. März 1946 in der Aula der Kölner Universität, habe seit langem eine falsche Auffassung vom Staat und der sich im Staat repräsentierenden Macht gehabt. Ihren Kulminationspunkt habe diese Fehlsicht dann im Nationalsozialismus erreicht. Dem setze seine Partei den Kerngedanken der christlichen Ethik entgegen: „Nach der dem Programm der CDU zugrundeliegenden Auffassung ist die Person dem Dasein und dem Range nach vor dem Staat. An ihrer Würde, Freiheit und Selbständigkeit findet die Macht des Staates sowohl ihre Grenze als ihre Orientierung.“ Dies gelte auch für staatliches Handeln: „Nach dieser Auffassung ist weder der Staat noch die Wirtschaft noch die Kultur Selbstzweck; sie haben eine dienende Funktion gegenüber der Person.“

Rechtsstaat und demokratische Ordnung

Wie für andere Widerstandsgruppen im „Dritten Reich“ waren auch für die sich 1945 bildenden Gründungskerne der Christdemokraten die Abkehr von der Gewaltverherrlichung, von Terror und Rassismus sowie die Wiederherstellung des Rechtsstaats zentrale Anliegen. Ihr Staatsbegriff war antitotalitär, unterschied also zwischen Staat und Gesellschaft als Formen menschlichen Miteinanders und hob die Grundrechte als vorstaatliche, individuelle Freiheitsrechte hervor. Der Rechtsstaat sollte die Rechte des Einzelnen schützen, staatliche Machtausübung konnte demnach nur nach Maßgabe von Verfassung und Gesetz geschehen.

„Demokratie ist mehr als parlamentarische Herrschaftsform“, so Adenauer erneut am 24. März 1946 vor seinen Zuhörern in der Kölner Universität, „Demokratie muss die unveräußerlichen Rechte und den Wert eines jeden einzelnen Menschen achten im staatlichen, im wirtschaftlichen und im kulturellen Leben.“ Die grundrechtlich gesicherte Demokratie und eine gewaltenteilige politische Ordnung waren hierbei für ihn wie für seine Mitstreiter der übergreifende Zielpunkt.

Bewältigung der Kriegsfolgen

Plakat zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 1947

Generell musste es ein zentrales Ziel der Bundesregierung sein, die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft mit ihren vielen Verwerfungen zu stabilisieren – die Erinnerungen an die Weimarer Republik und deren heftige innere Konflikte waren Adenauer immer präsent. Gerade die Bewältigung der Kriegsfolgen kann als die zentrale innenpolitische Leistung seiner ersten beiden Kabinette angesehen werden. Mit der Aufnahme von knapp acht Millionen Flüchtligen und Vertriebenen, gefolgt vom Zustrom von mehr als drei Millionen DDR-Flüchtlingen, mit gravierenden materiellen Notlagen auch unter der einheimischen Bevölkerung, war diese gesellschaftliche Konsolidierung ein außergewöhnlicher Erfolg.

Gewiss, das bald einsetzende Wirtschaftswachstum tat das Seine, um besonders Benachteiligten zu Hilfe zu kommen und generell gesellschaftliche Unterschiede einzuebnen, doch verstärkten die von der Bundesregierung initiierten Maßnahmen diesen Trend noch. In diesem Bemühen um soziale Sicherung und sozialen Ausgleich bewegte sich Adenauers Gesellschaftspolitik in den Bahnen der deutschen Sozialstaatstradition seit dem Bismarckreich.

Ehe und Familie

Franz-Josef Wuermeling, Plakat zur Bundestagswahl 1957

Gemäß christlicher Ethik und christlichem Menschenbild sollte ein besonderer Schutz der Ehe und Familie gewährt werden. Orientierungspunkt war hierbei das traditionelle Verständnis von Familie im Sinne der Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kindern als vorstaatliche Keimzelle menschlichen Zusammenlebens. Dieses Bild einer überkommenen Familienordnung schlug sich in vielen Gesetzesvorhaben der Adenauer-Ära nieder. So privilegierte die Steuerpolitik die eheliche Gemeinschaft und die vorgegebene Rollenteilung dort mit der alleinigen oder doch hauptsächlichen Erwerbstätigkeit des Ehemannes und der häuslichen Rolle der Ehefrau.

Mit den Kindergeldgesetzen der 1950er Jahre sollte das familiäre Einkommen durch ein nach Kinderzahl gestaffeltes Kindergeld ergänzt und zu einem bedarfsgerechten Familienlastenausgleich ausgebaut werden. In dieser Frage hat Adenauer als Regierungschef Familienminister Franz-Josef Wuermeling maßgeblich unterstützt.

In der Wohnungsbaupolitik förderte die Bundesregierung nachdrücklich das familiengerechte Eigenheim, schien ihr diese Wohnform doch in besonderer Weise geeignet, den Kindern ein behütetes und entwicklungsgemäßes Zuhause zu bieten. In der Eigentumspolitik schließlich sollte durch Sparförderung die Vermögensbildung breiter Schichten begünstigt und damit ein zentrales Anliegen der katholischen Soziallehre erfüllt werden. Auch die Sozialgesetzgebung der Kabinette Adenauer von der Sozialpartnerschaft in der Regelung der Arbeitsbedingungen über die Mitbestimmungsgesetzgebung, die Lastenausgleichspolitik bis hin zur Sozialhilfe lässt diese Orientierung am christlichen Menschenbild erkennen. Diese Ansätze entwickelten sich in der Ära Adenauer zu einer Gesellschaftspolitik, die nicht mehr additiv einzelne Risiken, Gruppen oder Lebenslagen in den Blick nahm, sondern eine umfassende Daseinsfürsorge anstrebte. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips sollte hierbei die Verantwortung des Einzelnen und der kleineren Sozialgebilde wie Familie, Genossenschaften oder Vereine vor staatlicher Unterstützung stehen; staatliche Hilfe sollte also ergänzend einsetzen, wenn vorstaatliche Gemeinschaften diesen Beistand nicht mehr oder nicht in ausreichendem Maße zu leisten vermochten.

Plakat zur Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen 1946

Angesichts ihres eher patriarchalischen Familienbildes fiel es den Christdemokraten schwer, Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes, nach dem Männer und Frauen gleichberechtigt sind, mit Leben zu füllen. Auf dem Weg von der traditionellen Vorstellung der klar auf die Hausfrauen- und Mutterrolle festgelegten Frau zu einer sich von dieser einseitigen Rollenzuweisung emanzipierenden Frau war das Gleichberechtigungsgesetz vom 18. Juni 1957 ein wichtiger Schritt. Es stärkte die Rechte von Frauen und beschnitt alte Vorrechte des Ehemannes in Bezug auf Lebensführung, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung. Allerdings blieben ihm in strittigen Entscheidungen immer noch gewisse Sonderrechte.

Das Leitbild der für die Aufgaben in Haushalt und Familie zuständigen Ehefrau hielt sich in Politik und Gesellschaft hartnäckig. Ähnliche Ungleichgewichte lassen sich im Ehe- und Scheidungsrecht, in der Stellung unehelicher Kinder wie im Umgang mit gesellschaftlichen Randgruppen ausmachen. Allerdings überschnitten sich diese gesetzlichen Normierungen mit tief greifenden gesellschaftlichen Umorientierungen zur Rolle der Frau in Familie und Arbeitswelt, die die vermeintlich „natürliche“ Funktionsteilung mehr und mehr hinterfragte. Ähnliches galt für die anderen genannten Themenfelder. In gesetzlichen Neuregelungen sollten sich diese Neubewertungen jedoch erst nach der Ära Adenauer niederschlagen.

Antitotalitärer Konsens

Im politischen und gesellschaftlichen Klima der 1950er Jahre war die Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von einem starken antitotalitären und antikommunistischen Grundzug geprägt; der Systemkonflikt zwischen West und Ost bestimmte die Politik der Bundesregierung auf vielfache Weise. Dies zeigte sich bereits im Parteienrecht. Im Sinne einer „wehrhaften Demokratie“ stellte die Bundesregierung im November 1951 beim Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Verbot sowohl der rechtsradikalen Sozialistischen Reichspartei (SRP) als auch der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Beide Verfahren endeten 1952 und 1956 jeweils mit einem Verbot. Zudem verfügte der Bundesinnenminister, Mitglieder beider Parteien aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen. Auch andere als verfassungsfeindlich angesehene Organisationen wurden verboten. Durch Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, die Beschlagnahme von Zeitungen und Zeitschriften sowie andere Maßnahmen sollten darüber hinaus die Ausbreitung brauner wie roter „totalitärer“ Parteien und ihr Werben um Anhänger unterbunden werden.

Fraglos war der Antikommunismus eine der wichtigsten gesellschaftlichen Integrationsklammern der frühen Bundesrepublik. Die kommunistische Bedrohung aus Moskau und Ost-Berlin trug zur Stabilisierung ihrer Verfassungsordnung wie zu ihrer politkulturellen Prägung nicht unerheblich bei. Gerade das Gegenbild des „anderen“ deutschen Staates und der SED-Herrschaft dort sowie die täglich wahrgenommene Realität kommunistischer Unterdrückung in Ostdeutschland, wie sie von aus der DDR Geflohenen medienwirksam verbreitet wurde, stabilisierten diese Weltsicht und schufen in dieser Frage einen Konsens zwischen allen politischen Kräften, der Regierungs- wie Oppositionsparteien einschloss.

Innere Sicherheit

Plakat der CDU zur Wiederbewaffnung von 1953

Diese Furcht vor kommunistischen Unterwanderungsabsichten betraf auch die innere wie die äußere Sicherheit des jungen westdeutschen Staates. Angesichts seiner Lage an der Nahtstelle zwischen West und Ost und vor dem Hintergrund des personellen Ausbaus der „kasernierten Volkspolizei“ in der DDR regte Adenauer im Sommer 1950 an, neben den vorhandenen Landespolizeikräften auch eine Bundespolizei zu schaffen sowie entlang von Elbe und Werra eine Bundesgrenzschutztruppe aufzustellen; beides sollte der inneren und äußeren Gefahrenabwehr dienen. Angesichts des eskalierenden Korea-Kriegs im Fernen Osten, wo mit dem Vormarsch der nordkoreanischen Truppen der „kalte“ mittlerweile in einen „heißen“ Krieg übergegangen war, schien ihm die Vorsorge vor einem Angriff an der deutsch-deutschen Grenze unabdingbar.

Zwar wurde im März 1951 ein solcher Bundesgrenzschutz als Sonderpolizei des Bundes geschaffen, doch blieb sein Aktionsradius begrenzt. Wichtiger war, dass diese Vorstöße des Kanzlers die Debatte um einen deutschen Wehrbeitrag beflügelten und schließlich in die Schaffung der Bundeswehr mündeten.

Schutz vor äußerer oder innerer Bedrohung sollte jedoch nicht nur durch polizeiliche Gefahrenabwehr sichergestellt werden. Ein wichtiger Markstein im Sinne der „wehrhaften Demokratie“ war die Gründung des Bundesamtes für Verfassungsschutz im November 1950. Seine Aufgabe war es, Informationen über Personen und Organisationen zu sammeln und auszuwerten, die sich gegen die politische Ordnung der Bundesrepublik richteten, und so die Aktivitäten von antidemokratischen und verfassungsfeindlichen Gruppen zu unterbinden. In den Verfahren zum Verbot von SRP und KPD sollte es seine erste Bewährungsprobe erhalten. Im Sinne eines konstruktiv-erzieherischen Verfassungsschutzes wurde 1952 schließlich die Bundeszentrale für Heimatschutz gegründet, später umbenannt in Bundeszentrale für politische Bildung. Mit ihr wollte die Bundesregierung nicht nur generell demokratisches Bewusstsein und demokratische Bildung fördern, angeregt werden sollte durch die Arbeit der Bundeszentrale nicht zuletzt die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus wie generell mit totalitären Bewegungen. Andere, in den 1950er Jahren geschaffene Institutionen im Schnittfeld von politischer Bildung und Wissenschaft ergänzten diese Zielsetzungen.

Die CDU als Sammlungsbewegung

Plakat zur Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen 1946

Adenauers zupackender und Autorität ausstrahlender Führungsstil, das Leitbild eines starken und wehrhaften Staates wie auch die wertkonservativ grundierte Innen- und Gesellschaftspolitik bescherten der CDU große Zustimmung, ja, dies kann in mancher Hinsicht als der Kitt der Koalition angesehen werden. Während in anderen Politikfeldern – so in der Sozialpolitik oder in der Bildungspolitik – die Regierungsparteien CDU/CSU, FDP und DP zum Teil divergierende Ansätze verfolgten, bildete die Innenpolitik gleichsam den gemeinsamen Nenner. Auch wenn vor allem die kleineren Koalitionspartner schon aus Überlebenswillen auch hier immer wieder auf Eigenständigkeit und Abgrenzung setzten, versammelten sie sich doch schon bald hinter dem innen- und gesellschaftspolitischen Kurs der Unionsparteien.

Aber auch für den Aufstieg der CDU zur dominierenden Kraft im westdeutschen Parteienspektrum und die Gewinnung von Wählern aus dem liberalen und konservativen protestantischen Bürgertum war es von zentraler Bedeutung, dass sie in der Innen- und Gesellschaftspolitik ihre Grundsätze herausstrich. Mit diesen Themen gelang ihr am ehesten der Einbruch in die Wählerschaft der kleineren Parteien an ihrer rechten Seite; nur die FDP konnte sich dieser Sogwirkung auf Dauer entziehen.

Durch diesen Sammlungs-, ja, „Staubsauger“-Effekt vermochte es die CDU, dem Konzept der schichtenübergreifenden Volkspartei zum Durchbruch zu verhelfen. Die beachtlichen Wahlerfolge auf Bundes- und Landesebene und die Eroberung der absoluten Mehrheit der Mandate in den Bundestagswahlen im September 1957 markierten den Durchbruch dieser Strategie.

Grenzen des Erfolgs

Allerdings war dieser Erfolg nicht von Dauer, gesellschaftliche Wandlungsprozesse untergruben ihn nach und nach und machten es notwendig, sich diesen Entwicklungen anzupassen. Schon im Schatten des „Wirtschaftswunders“ hatten sich gesellschaftliche Lagen verändert, hatte die Aufstiegsorientierung vor allem in den mittleren Regionen der Gesellschaft neue Dynamiken entwickelt, die neue Lebensverhältnisse und neue Lebensstile nach sich zogen. Diese Veränderung von Mentalitäten, Lebensweisen und kulturellen Normen, die bereits in den 1950er Jahren einsetzte und sich in den 1960er Jahren verstärkte, veränderte auch die Grundströmungen der bundesdeutschen Innen- und Gesellschaftspolitik. Nicht nur wandelten sich die Anschauungen vom Staat und seinen Funktionen, von gesellschaftlichen Normen in Bezug auf Familie, Erziehung und private Lebensführung, generell gerieten in diesen Jahren traditionelle Orientierungen ins Wanken. Auch wenn sich viele dieser Ansätze zunächst ausgesprochen zögerlich vollzogen, mussten die Parteien doch auf sie reagieren.

Für die CDU stellte sich drängender als zuvor die Frage, wie sie die Erfolge ihrer Politik gesellschaftlicher Integration fortsetzen konnte und wieweit sie sich hierbei programmatisch neu positionieren musste. Indem die SPD sich mit ihrem Godesberger Parteitag 1959 ebenfalls auf den Weg zu einer Volkspartei begeben hatte, drohte den Christdemokraten von dieser Seite her neue Konkurrenz. Die Debatte um neue Ansätze in der Gesellschaftspolitik, um die Rolle des „C“ im programmatischen Profil der CDU, um die Frage, in welchem Ausmaß der Staat den privaten Lebensbereich regulieren solle und dürfe, aber auch um ein neues Frauen- und Familienbild vollzog sich bis zum Ende von Adenauers Kanzlerschaft zwar eher unterschwellig als offen, doch musste die CDU sich ihr mehr und mehr stellen. Gerade eine jüngere Generation von Mandats- und Funktionsträgern, die nun nach vorn drängte, trug diese Diskussion in die Partei hinein.

Liberalisierung und Pluralisierung

Gerhard Schröder

Die hier nur knapp thematisierten Veränderungen sind in der zeitgeschichtlichen Forschung häufig als Liberalisierung und Pluralisierung beschrieben worden. Derartige Entwicklungen lassen sich für die Adenauer-Jahre etwa in der Diskussion um die Notstandsgesetze ausmachen. Hatte Bundesinnenminister Gerhard Schröder 1955 zu Beginn dieser Debatte noch verkündet, der Notstandsfall sei die „Stunde der Exekutive“, rückten Regierungsparteien wie Opposition doch bald von einer solchen staatsorientierten und vom Staat her entwickelten Regelung ab und vereinbarten, dass das Wahlvolk über seine Repräsentativorgane in die dann anstehenden Entscheidungen mit eingebunden werden sollte. Wenn im Notstandsfall diese Gremien nicht mehr voll funktionsfähig sein würden, sollte also ein Rumpfgebilde von 33 Bundestags- und Bundesratsmitgliedern die nun notwendigen Regelungen verabschieden und die Regierung kontrollieren. Ebenso wurde das Ausmaß, in dem im Notstandsfall in Grundrechte eingegriffen werden durfte, gegenüber Schröders ursprünglichen Plänen deutlich reduziert. Auch wenn die Notstandsgesetze erst 1968 verabschiedet wurden, wurden die Weichen für eine solche liberalere, die exekutive Macht begrenzende Lösung doch zu Beginn der 1960er Jahre gestellt.

In das Liberalisierungsparadigma passt auch, dass das bisherige Stillschweigen zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit mehr und mehr aufbrach. Der sogenannte Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1956, bei dem es um die Beteiligung an Massenmorden in Litauen 1941 ging, sowie der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965 ließen die Dimension der NS-Gewalttaten deutlicher als je zuvor vor aller Augen treten. Diese neue Diskussion um die NS-Vernichtungspolitik und den Holocaust veranlasste die Justizverwaltungen der Länder im Herbst 1958, in Ludwigsburg eine zentrale Stelle zu schaffen, die die jeweiligen staatsanwaltlichen Ermittlungen der Länder bündeln und damit vorantreiben sollte. Zwar blieben die entsprechenden Untersuchungen langwierig und mühsam, doch konnten die Ludwigsburger Staatsanwälte schon bald Hunderte von Vorermittlungsverfahren in die Wege leiten.

Parallel hierzu nahm auch die Verjährungsdebatte Fahrt auf. In ihr ging es um die Frage, nach welchen Fristen Straftaten aus der Zeit vor 1945 nicht mehr juristisch verfolgt werden konnten. Nach Jahren des weitgehenden Stillschweigens über die Mordtaten im Nationalsozialismus wurde die Verjährungsdebatte in Politik und Öffentlichkeit seit Ende der 1950er Jahre mit wachsendem Engagement geführt. Sie schärfte noch einmal den Blick für das Weiterleben der Täter in der bundesdeutschen Gesellschaft wie für die politischen und moralischen Kosten der bisherigen Haltung des Stillschweigens. In mehreren Schritten verlängerte der Bundestag die Verjährungsfrist für Mord und Beihilfe zum Mord, bis er erstere 1979 ganz aufhob.

Fazit

In seiner Darstellung „Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland“ hat Peter Graf Kielmansegg dem langen Jahrzehnt zwischen den späten 1940er Jahren und den frühen 1960er Jahren eine „gesellschaftliche Doppelgesichtigkeit“ zugesprochen mit einerseits Bürgerlichkeit im Stil, in den Verhaltensmustern und in den Einstellungen, aber gleichzeitig mit dem Heraufziehen einer neuen Zeit, geprägt durch Wertewandel, einen Individualisierungsschub und post-materialistische Orientierungen.

Diese Ambivalenz prägte auch die Innen- und Gesellschaftspolitik der Ära Adenauer. Das Bemühen um die Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, um die Einbindung aller Schichten in die bundesrepublikanische Ordnung war von einem eher konservativen Grundzug getragen, der nach den Umwälzungen von Diktatur und Krieg den neuen westdeutschen Staat festigen und im Westen verankern sollte. Gleichzeitig hatten die Veränderungen, die sich aus dem „Wirtschaftswunder“, aus Aufstiegsorientierung und Wertewandel ergaben, eine gesellschaftliche Tiefenwirkung, die neue Antworten notwendig machte. Dies jedoch liegt jenseits der Ära Adenauer.

  • Conze, Eckart: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009.
  • Dietrich, York: Eigentum für jeden. Die vermögenspolitischen Initiativen der CDU und die Gesetzgebung 1950-1961, Düsseldorf 1996.
  • Herbert, Ulrich (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002.
  • Kielmansegg, Peter Graf: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000.
  • Kuller, Christiane: Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949-1975, München 2004.
  • Nelleßen-Strauch, Dagmar: Der Kampf um das Kindergeld. Grundanschauungen, Konzeptionen und Gesetzgebung 1949-1964, Düsseldorf 2003.
  • Schiffers, Reinhard: Zwischen Bürgerfreiheit und Staatsschutz. Wiederherstellung und Neufassung des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1951, Düsseldorf 1989.
  • Schwarz, Hans-Peter: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949-1957, Stuttgart 1981.
  • Schwarz, Hans-Peter: Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957-1963, Stuttgart 1983.

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