* geboren 14.12.1914
in
Bremen
† gestorben 30.05.1992
in
Meckenheim
Dr. jur., Jurist, ordentlicher Professor, Bundestagspräsident, Bundespräsident, ev.
1933 | Abitur am "Alten Gymnasium" in Bremen |
1936-1939 | Studium der Rechtswissenschaften und politischen Wissenschaften in Frankfurt am Main, Dijon, München, Königsberg und Hamburg |
1936 | Erste Juristische Staatsprüfung in Hamburg |
1937 | Mündliche Prüfung zur Promotion mit dem Titel „Der gutgläubige Erwerb von Pfandrechten an Grundstücksrechten“ |
1939 | Einberufung zur Wehrmacht; Zweite Juristische Staatsprüfung |
1944 | Heirat mit Veronica Prior |
1945-1948 | Rechtsanwalt in Bremen |
1946-1958 | Diakon an der St. Petri Domkirche in Bremen |
1948-1949 | Stipendiat der Yale-University, Master of Law |
1949-1954 | Bevollmächtigter des Landes Bremen beim Bund |
ab 1950 | Lehrtätigkeit an der Universität Köln |
1952 | Habilitation über "Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung" |
1954-1955 | Erster Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat |
1955-1966 | Leiter der Europaabteilung, Leiter der Politischen Abteilung und Staatssekretär im, bzw. des Auswärtigen Amt(es) |
1955 | CDU |
1960 | Ordentlicher Professor in Köln |
1966-1968 | Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung |
1968-1969 | Staatssekretär im Bundeskanzleramt |
1970-1972 | Leiter des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn |
1972-1979 | MdB (CDU) |
1973-1976 | Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag |
1973-1979 | Mitglied des CDU-Präsidiums |
1976-1979 | Bundestagspräsident |
1979-1984 | Bundespräsident |
1979 | Sonderstufe des Großkreuzes des Bundesverdienstkreuzes; Großkreuz mit Großer Ordenskette des Verdienstordens der Italienischen Republik |
1982 | Gründung der Karl und Veronica Carstens-Stiftung zur Förderung der Naturheilkunde und Homöopathie |
1982 | Groß-Stern des Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich |
1984 | Karlspreis der Stadt Aachen; Ehrenbürgerwürden der Städte Bonn und Berlin sowie der Universität Köln; Goldene Senatsmedaille von Bremen |
1985 | Ehrenring des Deutschen Handwerks; Robert-Schuman-Preis der Stiftung F.V.S.; Stresemann-Medaille in Gold; Ehrenpräsident der Deutschen Gebirgs- und Wandervereine |
1986 | Lucius-D.-Clay Medaille |
1987 | Hanns-Martin-Schleyer-Preis; Goldene Medaille der Humboldt-Gesellschaft |
1989 | Bayerischer Verdienstorden |
1990 | Goldmedaille der Fondation Jean Monnet pour l'Europe |
1991 | Europäischer Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft |
„Ich habe versucht, meine Pflicht zu tun“, so fasste Karl Carstens seinen Lebensweg selbst zusammen. Der Dienst für die Bundesrepublik Deutschland führte ihn über verschiedene Ministerien und den Bundestag bis in das höchste Amt des Staates, das des Bundespräsidenten.
Karl Walter Klaus Carstens gehörte zu den Millionen Leidtragenden des Ersten Weltkriegs. Rund sechs Wochen vor seiner Geburt am 14. Dezember 1914 in Bremen fiel sein Vater, Studienrat Dr. Karl Carstens, an der Westfront. Seine Mutter Gertrud Carstens, geb. Clausen, musste den Sohn von einer kleinen Witwenpension aufziehen, da das noch vorhandene Ersparte durch die Hyperinflation 1923 ebenfalls vernichtet wurde. Indem sie Nachhilfeunterricht gab, schaffte sie es dennoch, ihrem Kind die höhere Schulbildung zu ermöglichen.
„Trotzdem“, so stellte Carstens im Rückblick fest, „wäre es nicht richtig, wenn ich sagen würde, daß ich eine unglückliche Jugend gehabt hätte.“ Neben der Liebe und Unterstützung durch seine Mutter nannte er in diesem Zusammenhang die Solidarität von Freunden und der Familie, deren mütterliche Seite ihm auf Fehmarn ein zweites Zuhause bot. Dieser Rückhalt, seine Begabung und die typisch hanseatische Disziplin verhalfen Karl Carstens 1933 zum Abitur am humanistischen „Alten Gymnasium“ in seiner Heimatstadt Bremen und durch das Studium der Rechtswissenschaften. Dieses Studium führte ihn nicht nur in die verschiedensten Ecken des Deutschen Reiches – nach Frankfurt am Main, München, Königsberg und Hamburg –, sondern auch nach Dijon in Frankreich. Dieser Abstecher zeugte, besonders unter den Umständen des „Dritten Reichs“, bereits von einem internationalen Interesse, das ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen sollte.
Nach der Ersten Juristischen Staatsprüfung 1936 legte Carstens 1937 die mündliche Prüfung für die Promotion ab, auf der Grundlage der bewusst völlig unpolitischen Arbeit „Der gutgläubige Erwerb von Pfandrechten an Grundstücksrechten“. Doch die nationalsozialistische Diktatur forderte ihren Tribut auch von dem angehenden Juristen. Während des Referendariats stellte er einen Aufnahmeantrag für die NSDAP, um die spätere Zulassung zum Assessorexamen und vor allem den Unterhaltszuschuss, den er so dringend brauchte, nicht zu gefährden.
Als Angehöriger des ersten wehrpflichtigen Jahrgangs, allerdings aufgrund seiner Ausbildung zurückgestellt, nahm er 1938 zwei Monate an einer Übung beim Flakregiment 26 in Bremen teil. In der Folge wurde er bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 einer Flakbatterie bei Düsseldorf zugeteilt. Vorher, am 12. September 1939, bestand er noch seine in verkürzter Form abgehaltene Zweite Juristische Staatsprüfung. Bis 1943 tat Carstens Dienst in verschiedenen Flakbatterien, danach wirkte er bis kurz vor Kriegsende im Range eines Leutnants als Ausbilder an der Flakartillerieschule in Berlin-Heiligensee.
Noch im Krieg, am 23. Dezember 1944, heiratete Karl Carstens Veronica Prior. Diese hatte ihr Medizinstudium unterbrochen, um als Lazarettschwester zu arbeiten. Nach ihrer Schilderung aus dem Rückblick konnte das Paar „die Tage, die wir uns gesehen haben, bevor wir uns verlobten, … an den Fingern einer Hand abzählen. … Aber es näherte sich das Kriegsende, und wir wollten sicher sein, daß wir, wenn wir auch für lange Zeit getrennt werden würden, doch zusammengehörten.“ Tatsächlich gehörten Veronica und Karl Carstens ein Leben lang zusammen, auch wenn sie 1956, als sich herausstellte, dass die gewünschten Kinder nicht kommen würden, auf Zuraten ihres Mannes mit der Wiederaufnahme ihres Medizinstudiums auch eigene Wege ging. 1968 eröffnete sie eine Arztpraxis in Meckenheim bei Bonn, in der sie sich zu einer Pionierin der Naturheilverfahren entwickelte.
Die Kapitulation am 8. Mai 1945 erlebte Karl Carstens in seiner Heimatstadt Bremen. Von Kriegsgefangenschaft blieb er verschont und mit seiner Entlastung durch die Spruchkammer Bremen 1948 schien der Weg in die Zukunft offen, denn er wurde, obwohl seinem Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP 1940 stattgegeben worden war, nur als Anwärter eingestuft. Ab Sommer 1945 arbeitete er beim Militärgericht der amerikanischen Besatzungsmacht als Verteidiger, dann in einer großen Anwaltssozietät.
Durch Vermittlung von Mitarbeitern des amerikanischen Militärgerichts erhielt Carstens ein Stipendium an der Universität Yale. Das Studienjahr 1948/49 in den USA veränderte seinen Lebensweg, denn nach seiner Rückkehr im Sommer 1949 arbeitete er nicht wieder als Anwalt. Er akzeptierte das Angebot, Bevollmächtigter Bremens in Bonn zu werden, das während seiner Zeit in Yale Hauptstadt der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland geworden war. Die politischen Diskussionen mit den amerikanischen Kommilitonen hatten Carstens‘ Einstellung zu einer Tätigkeit im Staatsdienst verändert, die er vorher aufgrund der Erfahrungen im „Dritten Reich“ rigoros abgelehnt hatte. Außerdem lieferte die in dieser Zeit außergewöhnliche Auslandserfahrung eine Qualifikation, die zusammen mit seiner Nebentätigkeit zwischen Juni 1945 und Ende 1947 als juristischer Hilfsarbeiter beim Bremer Senator für Justiz und Verfassung, Theodor Spitta, zu seiner Berufung führte.
Die Beschäftigung als Bremischer Bevollmächtigter beim Bund ließ Carstens noch Raum, ab 1950 Vorlesungen über das Verfassungsrecht der USA an der Universität Köln zu halten, wo er sich 1952 außerdem habilitierte. Im Rückblick auf diese Zeit hob der Vertreter Bremens aber vor allem die Vielseitigkeit seiner Tätigkeit hervor. Diese ermöglichte ihm Reisen ins Ausland und Kontakte nicht nur zu den Vertretern der anderen Bundesländer, zu den Abgeordneten des Bundestages, sondern auch zu ausländischen Vertretern und den Mitgliedern der Bundesregierung. So kam Carstens mit Bundeskanzler Konrad Adenauer in Kontakt. Auf Adenauer ging wohl auch seine Berufung zum Ständigen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat in Straßburg im Sommer 1954 zurück.
Die beginnende europäische Integration durch Europarat und Montanunion, wie auch der gescheiterte Anlauf, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu bilden, hatte Carstens bereits als Bremischer Bevollmächtigter intensiv verfolgt. Nun konnte er im Range eines Gesandten aktiv an der Zusammenarbeit in Westeuropa mitwirken. Diese Aufgabe beschäftigte Carstens auch weiterhin, als er im September 1955 als Dirigent der Unterabteilung 21 in das Auswärtige Amt in Bonn übersiedelte.
In vorderster Reihe war Carstens in den nächsten Jahren an der Aushandlung der Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beteiligt, die gemeinsam mit der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) am 25. März 1957 in Rom unterzeichnet wurden. Die Mitarbeit an der europäischen Integration war für den Diplomaten dabei mehr als nur eine dienstliche Aufgabe. Noch in seinen Erinnerungen verwies er auf die Absurdität vor allem der deutsch-französischen Feindschaft: „Mein Vater fiel in Frankreich, in dem Lande, das er über alles liebte, in dem er studiert hatte, dessen Sprache er fließend sprach.“ Die Aussöhnung Westdeutschlands mit dem westlichen Nachbarstaat als Grundlage für die europäische Integration hatte für ihn somit nicht nur eine wichtige politische, sondern auch eine persönliche Komponente. Die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Dijon bezeichnete er noch rückblickend als „eine der für mich schönsten Ehrungen“.
Aus dieser Überzeugung, „unter dem Eindruck der Europapolitik Adenauers“, wie er selbst es formulierte, trat Carstens schließlich 1955 der CDU bei, obwohl sein Wirken im Staatsdienst für das SPD-regierte Bremen begonnen hatte. Doch der erste Bundeskanzler war für ihn nicht nur wegen dessen Europapolitik von Bedeutung. In den 1970er Jahren nach dem wohl größten Politiker gefragt, antwortete er: „Bei weitem Adenauer, würde ich schon ohne jedes Zögern antworten.“
Es folgte über die Zwischenstufe als Leiter der Politischen Abteilung West 1 im Jahr 1958 die Berufung zum zweiten, zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt im Juli 1960 und im Juni 1961 schließlich zum ersten, zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Nicht nur schrieb Carstens die Berufung zum Staatssekretär im Rückblick Adenauers Wirken zu, sondern hob auch hervor, dass der Bundeskanzler ihn oft um Rat fragte und zu Besprechungen hinzuzog. Letzteres mit der Begründung: „Der Herr Carstens wirkt immer so beruhigend.“
Bereits in den Monaten vor seiner Ernennung zum Staatssekretär zeigte sich ein Schwerpunkt von Carstens‘ Tätigkeit im Auswärtigen Amt: Der Bundeskanzler beauftragte ihn mit der Vorbereitung der Gipfelkonferenz von Paris im Mai 1960, auf der die Staats- und Regierungschefs der Vier Mächte erneut auch über die deutsche Frage und besonders Berlin verhandeln wollten. Die Konferenz platzte, die – sogenannte zweite – Berlin-Krise, deren Höhepunkt der Bau der Berliner Mauer ab dem 13. August 1961 bildete, schwelte weiter und Carstens setzte sich intensiv mit Berlin- und Deutschlandfrage auseinander. Seine Grundprinzipien blieben dabei unangetastet: Die Westintegration sollte, auch für ein kommendes wiedervereinigtes Deutschland, erhalten bleiben; eine Anerkennung der DDR durch andere Staaten musste verhindert und der Status Berlins durfte nicht angetastet werden.
Der Wechsel an der Spitze des Auswärtigen Amts im Herbst 1961 von Heinrich von Brentano zu Gerhard Schröder brachte zwar auch Schwierigkeiten für Carstens, da der neue Außenminister gegenüber den direkten Kontakten des Staatssekretärs zum Bundeskanzler nicht so nachsichtig war. Trotzdem etablierte sich eine gute Zusammenarbeit, auch weil Schröder und Carstens beide zum einen eher zu den sich an den USA orientierenden Atlantikern zählten – im Gegensatz zu den auf Frankreich ausgerichteten Gaullisten. Zum anderen begannen sie zusammen mit einer vorsichtigen Ostpolitik, wobei Carstens durch seine Reise nach Moskau im September 1965 und als Haupturheber der Friedensnote vom März 1966 den Akzent von der auf Osteuropa ausgerichteten Politik Schröders wieder mehr in Richtung Sowjetunion verschob. Grundlegend war und blieb für Carstens aber dabei die Ausrichtung auf den Westen unter Führung der USA. In der – auch wirtschaftlichen – Stärkung der freien Welt sah er im Sinne der Magnettheorie den besten Garanten für die Erreichung der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit.
Doch nicht nur mit ost- und deutschlandpolitischen Fragen sowie mit der europäischen Integration hatte sich Carstens im Auswärtigen Amt beschäftigt, als Schröder Ende 1966 ins Bundesverteidigungsministerium wechselte und seinen Staatssekretär mitnahm. Stichworte wie Nahostkrise, Vietnamkrieg oder auch die Krise in der NATO zeigen die Bandbreite seiner Arbeit. Nicht umsonst bezeichnete Carstens selbst seine Tätigkeit im Auswärtigen Amt als „für mich und für meinen beruflichen Werdegang wohl die wichtigste“. Der neue Chef des Auswärtigen Amts, Willy Brandt, verabschiedete den Staatssekretär mit den Worten: „Sie haben sich wahrlich den Wahlspruch ‚Patriae in serviendo consumor‘ zu eigen gemacht, denn Sie waren immer im Dienst.“
Im Dienst blieb der Staatssekretär auch weiterhin, wobei seine Tätigkeit im Verteidigungsministerium mit gut einem Jahr eher Episode blieb. Carstens selbst sah seine Aufgabe vor allem darin, die interne Zusammenarbeit zu verbessern. Dazu griff er zu einem etwas ungewöhnlichen Mittel. Gemeinsam mit seiner Frau lud er alle hochrangigen Ministeriumsmitarbeiter ins Wochenendhaus in die Eifel ein. Der damalige Generalinspekteur Ulrich de Maizère urteilte darüber: „Carstens gelang es …, im gesamten Haus wieder ein vertrauensvolles Arbeitsklima herzustellen.“ Auslandsreisen im Rahmen der NATO beschäftigten den Staatssekretär dabei genauso wie der Streit um den Verteidigungshaushalt zwischen Gerhard Schröder und Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Dabei stand Carstens voller Loyalität hinter seinem Minister – und wechselte doch kurz darauf, im Januar 1968, auf Bitte des Regierungschefs ins Bundeskanzleramt.
Dieser Wechsel machte – wie Carstens‘ bisherige Karriere – erneut deutlich, dass er sich als Mitarbeiter des Staates und nicht bestimmter Personen sah. So wie er trotz seiner Verbundenheit mit Adenauer mit dessen Nachfolger Ludwig Erhard zusammen gearbeitet hatte, so stellte er sich jetzt Kiesinger zur Verfügung – trotz dessen distanziertem Verhältnis zu Gerhard Schröder.
Der Bundeskanzler hatte den Staatssekretär wohl vor allem wegen dessen administrativen Kompetenzen angeworben. Organisatorische Reformen und Planungsaufgaben bildeten einen festen Bestandteil seiner Arbeit in den folgenden zwei Jahren. Damit wuchs Carstens auch mehr und mehr in die Rolle eines „stille[n] Motors“ (Philipp Gassert) des Koalitionsausschusses, des Kreßbronner Kreises, und somit indirekt der Großen Koalition, hinein.
Daneben stellten die Ostpolitik, die durch Neuerungen – wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Ostblockstaaten – als auch Rückschläge – wie den Einmarsch sowjetischer Truppen in die ČSSR 1968 – gekennzeichnet war, die Europapolitik, die internationalen Beziehungen und die Sicherheitspolitik gewohnte Aufgabenfelder dar. Die für das Bundeskanzleramt aber genau so wichtige Innenpolitik, z. B. die Finanzverfassungsreform, die Notstandsgesetzgebung und die Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall, brachte neue Herausforderungen für den Behördenchef. Wobei das letztgenannte Projekt zeigte, dass Carstens sich durchaus auch für Pläne einsetzte, die vor allem vom sozialdemokratischen Koalitionspartner forciert wurden. Angesicht der Aufgabenfülle bezeichnete er selbst die Leitung des Bundeskanzleramts als das „schwierigste Amt, das ich zu versehen hatte“.
Das Ende der Großen Koalition nach den Bundestagswahlen am 28. September 1969 und der Gang der CDU/CSU in die Opposition schien auch für Karl Carstens das Ende seiner Laufbahn im Staatsdienst zu bedeuten. In den folgenden Jahren wirkte er, dem bereits 1960 die Venia Legendi verliehen worden war, an der Universität Köln als Professor für europäisches Recht und in Bonn als Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Doch 1972 ließ er sich von CDU-Parteifreunden für eine Bundestagskandidatur gewinnen; eigentlich für die Wahl 1973, die dann aber auf November 1972 vorgezogen wurde. Carstens gewann zwar den ihm zugeteilten Wahlkreis 7 – Oldenburg (Ostholstein) und Plön – nicht direkt, zog aber über die Landesliste in den Bundestag ein. Schnell profilierte er sich mit kämpferischen Reden zum Grundlagenvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR (vgl. bspw. UiD-Dokumentation 5/73). Im Februar 1973 titelte die BILD-Zeitung: „Die CDU hat einen neuen Star“.
Trotz dieser Presselorbeeren war die Wahl von Carstens zum Vorsitzenden der Bundestagsfraktion von CDU/CSU am 17. Mai 1973 gegen die Kandidaten Richard von Weizsäcker und Gerhard Schröder aufgrund seiner geringen parlamentarischen Erfahrung eine Überraschung. Eher eine Nebenrolle spielte dabei, dass mit ihm der erste evangelische Fraktionsvorsitzende gewählt wurde.
Carstens fand bald zu einer guten Zusammenarbeit mit dem ebenfalls neu gewählten Bundesvorsitzenden der CDU, Helmut Kohl, der sich in seiner Rede auf dem Parteitag in Mannheim im Juni 1975 bedankte für „freundschaftliche Gesinnung und Unterstützung, für loyale Zusammenarbeit“. Zusammen gingen sie daran, die sozialliberale Regierung im Wahlkampf 1976 herauszufordern. In ihrem kämpferischen Auftreten standen sich beide dabei nicht nach. Carstens selbst meinte dazu: „Ich glaube aber nicht, daß es jemals beleidigend ist, was ich sage. Aber es ist doch eine große Angriffsschärfe in meinen Formulierungen.“
Diese „Angriffsschärfe“ richtete sich zum einen gegen die „Neue Ostpolitik“, obwohl er selbst als Staatssekretär neue ostpolitische Wege begangen hatte. Die Entspannungspolitik der sozialliberalen Regierung entbehrte in seinen Augen jedoch der Ausgewogenheit und sicherte nicht die Wertetrias „Freiheit – Frieden – Einheit“. Außerdem erregte er mit einigen umstrittenen Äußerungen Aufsehen, u. a. zu den Hungerstreiks der RAF-Häftlinge.
Bei einer Regierungsübernahme durch die Union wäre Carstens 1976 wohl Außenminister geworden, da aber wenige Prozentpunkte zur absoluten Mehrheit fehlten, musste er seinen Posten als Fraktionsvorsitzender an den neuen Oppositionschef Helmut Kohl abtreten, der dafür sein Amt als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident aufgab. In die Fraktion hatte Carstens in den drei Jahren seines Wirkens mehr Zusammenhalt gebracht, auch wenn dieser durch den Abspaltungsbeschluss der CSU von Kreuth vom 19. November 1976 erneut stark gefährdet war. In der Öffentlichkeit galt er aber vor allem als streitbarer und auch umstrittener Politiker.
Seine Wahl zum Bundestagspräsidenten am 14. Dezember 1976, seinem 62. Geburtstag, die die Union als nunmehr größte Fraktion durchsetzte, rief deshalb vor allem bei den Regierungsparteien SPD und FDP Kritik hervor. Dazu kam, dass Carstens seit 1975 in einen Rechtsstreit über eine vermeintliche Falschaussage, die er 1969 als Chef des Kanzleramts und somit des Bundesnachrichtendienstes getätigt haben sollte, verwickelt war. Das Verfahren endete erst im März 1979 mit einer Rücknahme des Vorwurfs an Carstens. Das Ansehen des Bundestagspräsidenten war somit nicht überwiegend positiv, als CDU und CSU sich 1978 entschlossen, ihn für die Wahl 1979 als Gegenkandidaten zum amtierenden Bundespräsidenten Walter Scheel zu nominieren.
Während Carstens sich selbst, schon allein aufgrund seiner Bremischen Abstammung, als „Liberalen“ bezeichnete, wurde er in der Presse oft als erzkonservativ, ja reaktionär dargestellt, vor allem aufgrund seiner Angriffe auf die Regierung während der Zeit als Fraktionsvorsitzender. Ab Herbst 1978 kamen außerdem noch Vorwürfe wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft hinzu. Trotzdem wurde Carstens am 23. Mai 1979 im ersten Wahlgang mit 528 von 1032 Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt – gegen Annemarie Renger, seine Vorgängerin im Amt des Bundestagspräsidenten.
Nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt verkündete Karl Carstens: „Das Grundgesetz weist dem Bundespräsidenten die Rolle zu, Präsident aller Bürger dieses Landes zu sein und sein Amt unparteiisch zu führen. Ich werde mir Mühe geben, diesem hohen Anspruch gerecht zu werden.“ (in: UiD 21/79 25. Mai 1979)
Tatsächlich zeichnete sich die Amtsführung des fünften Bundespräsidenten durch eine Korrektheit aus, in der sich der hohe Staatsbeamte wiederfinden ließ. Die Betonung seiner Überparteilichkeit umfasste auch eine Absage an die These, seine Wahl könnte als Zeichen einer Wende gedeutet werden wie 1969 die Wahl von Gustav Heinemann, die als Signal für die anschließende Bildung der sozialliberalen Regierung galt. So war es eine Laune der Geschichte, dass gerade Karl Carstens mit einem der schwersten Verfassungskonflikte seit Geltung des Grundgesetzes konfrontiert wurde. Am 17. Dezember 1982 stellte die seit dem 1. Oktober amtierende Regierung Kohl die Vertrauensfrage im Parlament, deren geplantes Scheitern dazu dienen sollte, den Weg zur bereits angekündigten Neuwahl freizumachen. Die dazu notwendige Auflösung des Bundestages gab der Bundespräsident in einer Fernsehrede am 6. Januar 1983 bekannt, die er mit den Worten begann: „Ich habe mir die Sache nicht leichtgemacht.“ Durchaus zu Carstens‘ Beruhigung bestätigte am 16. Februar das angerufene Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung.
Doch Karl Carstens wollte sein Amt nicht nur als Diener des Staates, sondern auch als Diener des Volkes verstanden wissen. Er suchte die Begegnung mit den Menschen, was vor allem durch seine Wanderungen gelang. In Etappen durchquerte er Deutschland von Oktober 1979 bis Oktober 1981 von der Ostsee bis zu den Alpen, und in den folgenden Jahren schlossen sich noch einige Einzelwanderungen durch verschiedene Regionen der Bundesrepublik an. Anregung war dabei sicher auch die Wanderleidenschaft der First Lady, Veronica Carstens, gewesen, die ihren Mann stets begleitete. Doch nicht nur seine Ehefrau, sondern teilweise tausende Menschen schlossen sich dem Bundespräsidenten bei Wind und Wetter an. Eine weitere Neuerung, die das Ehepaar Carstens einführte, waren die Jugendtreffen in der Villa Hammerschmidt.
Nicht nur, aber auch aufgrund seiner Wanderungen stieg die Beliebtheit Karl Carstens‘ bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt deutlich an. 72 Prozent der Bevölkerung fanden ihn im Frühjahr 1984 „äußerst“ oder „ziemlich sympathisch“. Eine zweite Amtszeit hatte er frühzeitig abgelehnt mit Blick auf seinen anstehenden 70. Geburtstag, obwohl er für seine Wiederwahl mit einer großen, wohl auch aus SPD-Stimmen bestehenden, Mehrheit hätte rechnen können. So schied er am 30. Juni 1984 mit allen Ehren aus dem Amt. Seine Abschiedsrede und somit seine Amtszeit schloss Carstens, der sein Leben lang – nicht nur als Diakon an der St. Petri Domkirche in Bremen – seinem evangelischen Glauben große Bedeutung beimaß, mit den Worten: „Glaube und Erfahrung haben mich gelehrt, daß Erfolg und Mißerfolg unseres menschlichen Bemühens nicht allein von uns abhängt, sondern letztlich in der Hand eines Höheren liegt, aber daß wir das Vertrauen, ja die Gewißheit haben dürfen, von ihm bewahrt und getragen zu werden.“
Den Bundespräsidenten a. D. erwartete in seinen letzten Lebensjahren, bis zu seinem Tod am 30. Mai 1992, kein Ruhestand, auch wenn er seine große Leidenschaft Segeln nun öfter ausüben konnte. Vor allem folgten zahlreiche Auslandsreisen, das Abfassen der Memoiren, einige Ämter – wie die Mitgliedschaft im Ältestenrat der CDU – sowie viele Reden und Stellungnahmen zu aktuellen politischen Ereignissen. In seinen Ansprachen und Erklärungen begleitete er auch die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung, die er abschließend würdigte: „Für mich ist das eines der bewegendsten Ereignisse der deutschen Geschichte und vielleicht der Weltgeschichte überhaupt, daß es Menschen gelungen ist, in einer friedlichen Revolution eine Diktatur, die sie jahrzehntelang unterdrückt hat, abzuschütteln.“
Auch wenn Karl Carstens als bekennender Bremer Hanseat Ehrungen kritisch gegenüberstand, sind die Auszeichnungen, die er erhielt, zahlreich. Herausragend ist sicherlich der Karlspreis, der ihm im Mai 1984 verliehen wurde. Als Vorjahrespreisträger hielt König Juan Carlos von Spanien die Laudatio. Doch die treffendsten Worte lieh er sich beim Preisträger selbst. Juan Carlos zitierte Karl Carstens mit den Worten: „Ich gehöre einer Generation an, die die Leiden und Schrecken zweier Kriege erlebt hat. Ich und viele meiner Altersgenossen haben daraus nach 1945 die Folgerung gezogen, daß Kriege zwischen den europäischen Völkern in Zukunft ausgeschlossen sein müssen, und daß der sicherste Weg, um in Europa den Frieden zu wahren, die Europäische Einigung ist. “