* geboren 06.04.1904
in
Ebingen (heute Albstadt)/Württemberg
† gestorben 09.03.1988
in
Tübingen
Jurist, Ministerpräsident, Bundeskanzler, Vorsitzender der CDU, Dr. h. c. mult., rk.
1919-1925 | Lehrerausbildung am Katholischen Seminar in Rottweil |
1925-1926 | Studium der Pädagogik in Tübingen |
1926-1931 | Studium der Germanistik, Geschichte und Rechtswissenschaft in Berlin |
1931-1934 | Gerichtsreferendar |
1934-1945 | privater Rechtslehrer und Rechtsanwalt in Berlin |
1940-1945 | Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter und stv. Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt |
1945-1946 | Internierung in Ludwigsburg |
1946-1950 | privater Rechtslehrer in Würzburg sowie Rechtsanwalt in Rottenburg und Tübingen |
1948-1951 | CDU-Landesgeschäftsführer in Württemberg-Hohenzollern |
1949-1959 und 1969-1980 | MdB |
1950-1957 | Vorsitzender des Vermittlungsausschusses |
1954-1959 | Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses |
1950-1958 | Mitglied der Beratenden Versammlung des Europarates |
1955-1958 | Vizepräsident der Beratenden Versammlung |
1956-1958 | Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Fraktion der Beratenden Versammlung |
1958-1966 | Ministerpräsident von Baden-Württemberg |
1960-1966 | MdL |
1963-1966 | Bevollmächtigter der Bundesrepublik für Kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des deutsch-französischen Vertrages |
1966-1969 | Bundeskanzler |
1967-1971 | Vorsitzender der CDU |
ab 1971 | Ehrenvorsitzender der CDU |
Der dritte Bundeskanzler gilt als eine Figur des Übergangs von der Ära Adenauer zur sozial-liberalen Koalition. Als Mann an der Spitze der Großen Koalition, eines „auf Zeit" geschlossenen Bündnisses von Union und SPD, präsidierte Kiesinger - nach zeitgenössischen Meinungsumfragen einer der populärsten Kanzler der Bundesrepublik - einem Kabinett, dem, mit Ausnahme der beiden Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel und Helmut Schmidt, fast alle politischen Größen der damaligen Zeit angehörten. Die Große Koalition brachte wichtigste Gesetzesvorhaben auf den Weg; und Kiesinger, der große Vermittler zwischen den Partnern und Konkurrenten, hatte wesentlichen Anteil an den großen Reformen der späten 1960er Jahre.
Dass Kiesinger gegen Ende seiner Amtszeit fast als Relikt einer vergangen Epoche galt, spiegelt weniger ein persönliches Versagen des „vergessenen Kanzlers" wider als den rapiden Wandel von öffentlicher Meinung und politischer Kultur im Zeitalter der 68er-„Revolution". Durch Herkunft, politische Sozialisation und persönlichen Werdegang war Kiesinger prädestiniert, die Rolle des archetypischen Vermittlers in der deutschen Nachkriegspolitik zu spielen. Schon in den 1950er Jahren suchte Kiesinger den Ausgleich über parteipolitische Grenzen hinweg. So setzte er sich für die Beteiligung der Opposition an der Wahl der Bundesverfassungsrichter ein. Er selbst führte seine Vermittlerqualitäten auf seine Herkunft von der von Konfessions- und Stammesgrenzen durchzogenen Schwäbischen Alb zurück sowie auf das gemischtkonfessionelle Elternhaus. Er hat sich deshalb gern als einen „evangelischen Katholiken" bezeichnet. Das negative Bild von Kiesingers „Unzeitgemäßheit" ist z. T. Kiesingers bildungsbürgerlichem Habitus und seiner inneren Distanz zum politischen Tagesgeschäft geschuldet; vor allem aber Kiesingers Mitgliedschaft in der NSDAP und seinem Dienst im Auswärtigen Amt ab 1940, wo er es zum stellvertretenden Abteilungsleiter der mit Auslandspropaganda befassten Rundfunkpolitischen Abteilung brachte. Deshalb wurde er im Zuge der wachsenden Polarisierung der 1960er Jahre zum Symbol „unbewältigter Vergangenheit". Daß Kiesinger als überzeugter Demokrat auch den Wandel der politischen Kultur vom Nationalsozialismus zur Demokratie verkörpert, wurde in der aufgeheizten Atmosphäre verdrängt. Einigen standfesten Verteidigern aus den Kreisen der Opfer galt er jedoch als Beispiel produktiver Auseinandersetzung mit dem Erbe des Dritten Reiches, wie ja auch die Zusammenarbeit mit Willy Brandt und Herbert Wehner als Beleg für die „Versöhnung" historischer Gegensätze gesehen wurde.
Kiesinger, dem nach 1933 die ursprünglich angestrebte Karriere in der Rechtsprechung oder in der akademischen Lehre unmöglich geworden war, gehörte 1945 nicht zu den Politikern der ersten Stunde. In die Politik kam er aufgrund seiner Freundschaft mit dem damaligen CDU-Vorsitzenden von Württemberg-Hohenzollern, G. Müller, der Kiesinger das Amt des Landesgeschäftsführers anbot, das dieser bis 1951 versehen sollte. Auch die Kandidatur für ein Bundestags-Mandat strebte Kiesinger zunächst nicht an, dann wurde er jedoch mit einem der besten Ergebnisse in den Deutschen Bundestag gewählt. Dort zog der versierte Redner die Aufmerksamkeit Adenauers auf sich und gehörte bald zur Elite des neuen Parlaments. In Bonn war er, zunächst als Rechts-, dann zunehmend als Außenpolitiker, nicht zuletzt aufgrund seiner rhetorischen Begabung einer der sichtbarsten Vertreter der Union. Unter den jüngeren Mitgliedern der Fraktion (CDU/CSU-Fraktion) - er war einer der ganz wenigen aus der Generation der Vierzigjährigen - galt Kiesinger als „kommender Mann". Doch blieb er bis 1958 Minister im Wartestand, bis zu seinem Weggang nach Stuttgart konnte er kein Regierungsamt erringen. Dazu trug sein kompliziertes Verhältnis zu Adenauer bei, dessen Politik der Westbindung er in glänzenden Reden verteidigte. Schon in einer der ersten Sitzungen der Unionsfraktion 1949 hatte Kiesinger sich mit Adenauer wegen Theodor Heuss' Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten angelegt. Charakteristischerweise wollte Kiesinger das höchste Staatsamt im Konsens der großen Parteien besetzen. Kiesingers gescheiterte Kandidatur zum Amt des CDU-Generalsekretärs auf dem Bundestagsparteitag in Goslar 1950 und weitere Auseinandersetzungen in den folgenden Jahren, mögen Adenauers Zweifel an seiner unbedingten Loyalität und an seinem „Willen zur Macht" bestärkt haben. Kiesinger wurde bei Kabinettsumbildungen übergangen, zuletzt 1957. Mit einem Botschafterposten oder einem geringeren Ministerium wollte er sich nicht abspeisen lassen. Obwohl der Zufall und ungünstige personalpolitische Konstellationen eine Rolle gespielt haben, fehlte Kiesinger, der zu den prononciertesten Befürwortern der Südweststaatsgründung gehörte, aufgrund der Zersplitterung der Südwest-CDU vor allem die Hausmacht, die ihm zu einem Kabinettsposten hätte verhelfen können.
Daher war es konsequent, daß Kiesinger das Angebot annahm, Ministerpräsident von Baden-Württemberg zu werden. Die bundespolitischen Ambitionen gab Kiesinger auch nach dem Wechsel in die Villa Reitzenstein nicht auf; im Rückblick waren die Stuttgarter Jahre jedoch seine erfolgreichsten als Politiker. Unter den Länderchefs galt Kiesinger als eine herausragende Gestalt; auch eröffneten sich in den späten 1950er Jahren große Handlungsspielräume in der Landespolitik. In Kiesingers Regierungszeit „entprovinzialisierte" sich das bis dahin weitgehend agrarisch strukturierte Land und wurde zu einem Zentrum der Industrie. In der Bildungspolitik setzte sich Kiesinger mit der „Fürstengründung" der Konstanzer Universität sowie mit dem Ausbau der Universitäten Ulm und Mannheim an die Spitze der Reformer. Auch große Institutsgründungen, z. B. in Heidelberg mit dem Südasieninstitut und dem Deutschen Krebsforschungszentrum, sind Denkmäler Kiesingers in der deutschen Forschungs- und Bildungslandschaft. Als „Landesvater" übersah er eine hektische Expansion im Straßen- und Städtebau, in der rationalen Planung und Raumordnung, die erstmals in größerem Umfang auch natur- und kulturschützerische Aspekte mit einbezog, etwa während der Kontroverse um die Schiffbarmachung des Hochrheins. Im Bundesrat stand Kiesinger gelegentlich in Opposition zur Bundesregierung, etwa im „Fernsehstreit" um das ZDF. Ein wenig Außenpolitiker konnte er auch in Stuttgart bleiben, so reiste er als Bundesratspräsident zu Präsident John F. Kennedy, nahm als Länderbeauftragter für kulturelle Fragen an den Regierungskonsultationen im Rahmen des deutsch-französischen Vertrages teil. Der Gewissensentscheidung im Streit um die südwürttembergische Bekenntnisschule wurde Kiesinger durch den Wechsel nach Bonn enthoben. In die Querelen um Adenauers Nachfolge war Kiesinger nicht direkt involviert. Dies kam ihm 1966 zugute, als er als relativ unbelastete „Wahllokomotive" sich gegen seine Konkurrenten - Rainer Barzel, Eugen Gerstenmâier, Gerhard Schröder - durchsetzen konnte.
Kiesingers Amtsantritt wurde von außen- und innenpolitischen Krisen überschattet, es gelang jedoch erstaunlich schnell, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, in der Ostpolitik neue Akzente zu setzen und das Verhältnis zu Frankreich und den USA zu reparieren. Zugleich wurde die Wirtschafts- und Finanzverfassung der Bundesrepublik nachhaltig reformiert, auf rechtspolitischem Gebiet ein erheblicher Modernisierungsschub ausgelöst. Kiesingers Interesse galt primär der Außenpolitik, als „Moderator Germaniae" war er jedoch mit dafür verantwortlich, daß mehr als 400 Gesetzesvorhaben auf vielen Feldern verwirklicht wurden. Als Bundeskanzler ist Kiesinger nicht als einer der ganz Großen in die Geschichte eingegangen, auch weil der von der SPD erzwungene „Machtwechsel" ihn zum Verlierer stempelte, trotz eines sehr guten Wahlergebnisses im September 1969. Kiesinger unterschätzte die Annäherung von SPD und FDP, als sich seit Anfang 1968 die Friktionen in der Koalition mehrten. Auch innerparteilich unterliefen ihm Fehler, trotz seiner Wahl zum Bundesvorsitzenden 1967. Es gelang nicht, Partei und Fraktion unter Kontrolle zu bringen, das zeigt Schröders Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten oder die von Franz Josef Strauß verhinderte Unterzeichung des Atomwaffensperrvertrages. Mit dem Verlust des Kanzleramtes war Kiesingers Karriere praktisch beendet, er war zum Vorsitzenden der CDU auf Abruf geworden, konnte (und wollte) sich an den Machtkämpfen innerhalb der Partei nicht länger beteiligen; in der Auseinandersetzung um die Ostverträge spielte er eine unglückliche Rolle. Bis 1980 MdB, kehrte Kiesinger nach Tübingen zurück.