Schwarz-Weiß-Portraitaufnahme von Oswald von Nell-Breuning SJ
Oswald von Nell-Breuning SJ

Oswald von Nell-Breuning SJ

* geboren 08.03.1890 in Trier
† gestorben 21.08.1991 in Frankfurt/Main
Dr. theol., Dr. h. c. mult., rk.

Jesuit, Sozialwissenschaftler

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Übersicht

1897-1901Besuch der Volksschule in Trier
1908Abitur am humanistischen Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Trier
1908-1910Studium in Kiel, München, Straßburg und Berlin (je ein Semester); Studien der Mathematik und theoretischen Physik
1910-1911Studium der Philosophie und Theologie in Innsbruck
01.10.1911Eintritt in den Jesuitenorden
1915-1916Mai bis August im Verwaltungsdienst beim Malteserlazaretttrupp des Kriegslazaretts 51; wegen einer unbedeutenden Erkrankung als „kriegsverwendungsunfähig“ entlassen
16.01.1921Diakonenweihe und am 27. Februar Priesterweihe jeweils im Canisianum durch Weihbischof Dr. Sigismund Waitz, Weihbischof in Brixen und Generalvikar von Feldkirch
1923-1926Mitglied einer kirchlichen Rednergruppe in Düsseldorf
02.02.1926Ablegung der Ordensgelübde und am 15. Februar Promotion zum Dr. theol. bei Joseph Mausbach und Heinrich Weber mit der Arbeit „Grundzüge der Börsenmoral“
1928-19371928 Professor, zunächst für Ethik, ab Herbst 1928 Moraltheologie, ab Herbst 1930 Kirchenrecht und Gesellschaftswissenschaften an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen Frankfurt am Main
1930-1931Vorarbeiten und maßgebliche Mitarbeit am Entwurf zur Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ von Papst Pius XI.
1943Verurteilung durch das Sondergericht München wegen angeblicher Devisenverstöße zu drei Jahren Zuchthaus, Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte für drei Jahre und zu einer Geldstrafe von 500.000 Reichsmark; aufgrund von Haftunfähigkeit wird die Strafe bis Kriegsende nicht angetreten
28.05.1948Aufhebung der Zuchthausstrafe des Devisenprozesses durch das bayerische Justizministerium und Wiederverleihung der bürgerlichen Ehrenrechte
1948Lehrauftrag für Wirtschafts- und Sozialethik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main
1948-1965Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats bei der Verwaltung für Wirtschaft bzw. beim Bundesministerium für Wirtschaft
1949Mitbegründer des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU) und ab 1949 Lehrauftrag an der Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main
1950-1959Stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen (wohnungswirtschaftlichen) Beirats beim Bundesministerium für Städtebau und Wohnungswesen
1959-1961Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Familien- und Jugendfragen
1959-1965Berater der Stiftung Mitbestimmung
1950-1970in den 50er und 60er Jahren prägende Mitwirkung in der Diskussion über Mitbestimmung und Vermögensbildung; Anregungen für eine zeitgenössische Ausgestaltung der Sozialpolitik, beispielsweise über Familienlastenausgleich und Rentenversicherung
1974-1975Teilnahme an der Gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer in Würzburg als Berater; Entwurf zum Beschluss „Kirche und Arbeiterschaft“
1984-1985im Wintersemester letzte Vorlesung an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen
08.03.1990Feier des 100. Geburtstags in der Hochschule Sankt Georgen Dr. rer. pol. h.c. der Universität Trier Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, verliehen durch Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker
27.02.199170-jähriges Priesterjubiläum

Biographischer Werdegang

Am 8. März 1890 wird Johann Peter Franz Maria Oswald von Nell in Trier geboren. Im Jahre 1910 verleiht Wilhelm II., König von Preußen, um ein Aussterben des mütterlichen Familiennamens von Breuning zu verhindern, Oswald von Nell zusätzlich den Namen Breuning. Es erfolgt eine Namens- und Wappenvereinigung zu von Nell-Breuning. Sein Vater, Arthur von Nell (1857-1936), ist promovierter Jurist, preußischer Rittmeister und erster Beigeordneter der Stadt Trier. Seine Familie erwirbt nach der Säkularisation die ehemalige Abtei St. Mattias, den Kreuzgang, Weinberge sowie anliegende Gebäude des ehemaligen Klosters und nutzt sie als Wohnhaus und für landwirtschaftliche Zwecke. Damit wird der Komplex erhalten; der Abtei St. Mattias mit dem Apostelgrab bleibt das Schicksal vieler anderer Klöster, der Abriss, erspart. Die Mutter, Bernharda Klara Hermine von Nell (1862-1933), geborene von Breuning, kommt aus einer angesehen Familie, ihr Vater, ehemaliger Landgerichtspräsident in Köln und Koblenz, ist mit König Wilhelm I. von Preußen bekannt. 1906 wird der Bruder Carl Maria Philipp von Nell (1906-1969) geboren.

Studien- und Ordenszeit

Nach dem Besuch der Volksschule wechselt Oswald von Nell-Breuning auf das humanistische Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Trier, einem der ältesten Gymnasien in Deutschland, und macht 1908 dort sein Abitur. Ebenso wie vor ihm Karl Marx 1835 und nach ihm Joseph Höffner 1926. Nach dem Abitur studiert er in Kiel, München, Straßburg und Berlin (je ein Semester) Mathematik und theoretische Physik. Während dieser Zeit macht er die Bekanntschaft mit Ludwig Wolker und Carl Sonnenschein, die ihm wichtige Anstöße für seinen weiteren Lebensweg gaben. Dann gehr er nach Innsbruck und beginnt dort mit dem Studium der Philosophie und Theologie. 1911 tritt er in den Jesuitenorden ein. Sein zweijähriges Noviziat macht er in ´s-Heerenberg in den Niederlanden. Dann folgt das Studium der Philosophie an der Ordenshochschule in Valkenburg, Niederlande. Von Mai 1915 bis August 1916 ist er im Verwaltungsdienst beim Malteserlazaretttrupp des Kriegslazaretts 51 in der Nähe von Verdun. Von 1916 bis 1920 ist er vom Orden als Präfekt am Kolleg „Stella Matutina“ in Feldkirch/Vorarlberg eingesetzt. Ab dem Wintersemester 1920 studiert er wieder Theologie in Innsbruck. Im Jahre 1921 erhält er die Diakonen- und die Priesterweihe. Den Ordensoberen ist die ungewöhnliche Begabung Oswald von Nell-Breunings nicht verborgen geblieben. Sie schicken ihn zuerst aber von 1923 bis 1926 nach Düsseldorf, wo er Mitglied einer kirchlichen Rednergruppe ist, die in 100 Städten „religiös-wissenschaftliche Vorträge“ hält. Dort soll er Erfahrungen im Bereich von Seelsorge und Öffentlichkeitsarbeit sammeln. Am 2. Februar 1926 legt Oswald von Nell-Breuning die feierlichen Ordensgelübde ab. Eine Zusammenarbeit mit Pater Heinrich Pesch SJ in Berlin, dem Begründer des christlichen Solidarismus, kommt nicht zustande, da Nell-Breuning, Pesch mitteilt, es ist wichtig, dessen Hauptwerk, das fünfbändige „Lehrbuch der Nationalökonomie“, in einem Band zusammenzufassen. Die Chemie stimmt nicht zwischen beiden und sie finden nicht zueinander. Nell-Breuning führt den Gedanken des Solidarismus trotzdem weiter. Noch im Jahr 1968 hat er unter dem Titel „Baugesetze der Gesellschaft“ eine kleine Programmschrift vorgelegt, die sich als ‚Kurzfassung‘ des Solidarismus-Konzepts von Pesch versteht und 1990 als letzte monografische Veröffentlichung Nell-Breunings eine gebundene Neuauflage erlebt. Dieser Spätschrift des katholischen Solidarismus ist deutlich das Bedauern anzumerken, dass sich die katholische Programmformel des Solidarismus als politisch-sozialer Leitbegriff für die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts nicht zu behaupten vermochte. Mit seinem ambitionierten Anspruch, als kraftvolle, breite Bevölkerungsschichten mobilisierende Alternative zu den ‚extremistischen Ideologien‘ von Sozialismus und Liberalismus fungieren zu können, ist der Solidarismus heute vollständig ohne Bedeutung. Nell-Breuning notiert denn auch resignativ: „Der Name ist gut und treffend gewählt, aber er ist nicht zügig. ‚Sozialismus‘ ist ein Schlagwort geworden, das breiteste Massen elektrisiert; ‚Solidarismus‘ ist ein wissenschaftlicher Fachausdruck geblieben, mit dem man keine Massen in Bewegung setzen kann.“

Promotion und Lehrtätigkeit

Bei Josef Mausbach und Heinrich Weber in Münster promoviert Nell-Breuning dann 1928 mit der Arbeit „Grundzüge der Börsenmoral“. Nicht jeder versteht damals, dass Nell-Breuning das Dissertationsthema normativ abhandelt, nicht empirisch-soziologisch, wie der Titel vielleicht nahelegt. Ein Thema das auch heute aktueller denn je ist: „Die Börse ist von jeher der Tummelplatz skrupellosester Machenschaften gewesen, und nirgends wohl kann rücksichtsloser Eigennutz so ungeniert über Leichen gehen wie an der Börse. Aber wenn nach einem bekannten Worte Augustins selbst die Räuberbanden ihren Ehrenkodex und ihre Moral haben, ohne die sie überhaupt nicht bestehen konnten, dann setzt das Funktionieren eines so feinen und komplizierten Apparates wie die Börse erst recht eine vielleicht sehr einseitig entwickelte, aber gewiss nicht unbeträchtliche Kaufmannsmoral voraus. Um nur eines zu nennen: ohne absoluteste Vertragstreue ist die Technik des modernen Börsenbetriebes überhaupt nicht denkbar.“

Nach der erfolgreichen Promotion wird er Professor für Ethik, Moraltheologie, Kirchenrecht und Gesellschaftswissenschaften an der Ordenshochschule Sankt Georgen. Im Jahre 1948 erhält er auch einen Lehrauftrag für Wirtschafts- und Sozialethik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt a.M. Im Wintersemester 1984/85 hält er seine letzte Vorlesung an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Er ist über vierzig Jahre dort tätig und prägt viele Generationen von Jesuiten, Priestern und Theologen.

Mitarbeit an der Enzyklika „Quadragesimo anno“

Im Herbst 1930 beauftragt der damalige Ordensgeneral der Gesellschaft Jesu, Pater Wladimir Ledóchowski, ein enger Berater Papst Pius XI., Nell-Breuning mit dem Entwurf für eine Sozialenzyklika. Eine wichtige Hilfe ist dazu die Bedeutung des „Königswinterer Kreises“, dem er angehört. Dieser Kreis ist vom damaligen Generaldirektor des Volksvereins und späteren Aachener Bischof Johannes Joseph van der Velden ins Leben gerufen worden. Er setzt sich zusammen aus: Theodor Brauer, Götz Briefs, Gustav Gundlach SJ, Paul Jostock, Rudolf Kaibach, Franz H. Müller, Heinrich Rommen, Wilhelm Schwer und Nell-Breuning. Ihre Arbeiten sollen einer umfassenden Sozialreform dienen, wobei jeder von seiner speziellen Sicht her Vorschläge macht. Nell-Breuning nutzt die Gelegenheit; um all das, was er im Rahmen der bevorstehenden Sozialenzyklika für wichtig hält, zur Diskussion zu stellen, ohne dass die anderen etwas von seiner eigentlichen Absicht ahnen, da er zur strengsten Geheimhaltung angehalten ist. Die Enzyklika gliedert sich in drei Teile: Im ersten (16-40) geht es um die Wirkungsgeschichte von „Rerum novarum“, im umfangreichsten zweiten um die kirchliche Lehre von Wirtschaft und Gesellschaft (41-98) und im dritten um die Beurteilung von Kapitalismus und Sozialismus (99-126). Im einzelnen behandelt die Enzyklika fünf Themenkreise: das Eigentumsrecht, das Verhältnis von Kapital und Arbeit, die Entproletarisierung des Proletariats, die Lohngerechtigkeit und die Reform der Gesellschaftsordnung. Der Papst verwendet im Abschnitt über die neue Gesellschaftsordnung (76-98) die berühmt gewordene Formulierung des Subsidiaritätsprinzips (79). Die kurzen, sehr allgemein gehaltenen Aussagen zur berufsständigen Ordnung (81-87), im Grunde das Kernstück der Enzyklika, waren Anlass zu vielfältigen Missverständnissen und -deutungen. Man muss den Wert der Enzyklika insgesamt vor allem in ihrem systematischen Zugriff erblicken. Indem Pius XI. die Arbeiterfrage in den größeren Kontext der Suche nach einer angemessenen gesamtgesellschaftlichen Ordnung stellt und diese Ordnung zugleich erstmalig vermittels des Begriffs der „sozialen Gerechtigkeit“ im Sinne umfassender „Gemeinwohlgerechtigkeit“ näher zu bestimmen sucht, geht er sowohl konzeptionell als auch terminologisch einen wichtigen Schritt über Leo XIII. und dessen Enzyklika „Rerum novarum“ hinaus, ohne damit allerdings auch schon eine in jeder Hinsicht befriedigende theoretische Reflexion dieser veränderten Sichtweise und der mit ihr einhergehenden Neuerungen leisten zu können.

Zeit des Nationalsozialismus

Während der Zeit des Nationalsozialismus macht Nell-Breuning so gut wie gar keine Veröffentlichungen. Zusammen mit Gustav Gundlach SJ hält er anti-nationalsozialistische Vorträge für Theologen der Diözese Limburg, bis Gundlach 1934 ins Ausland fliehen muss. Da Nell-Breuning in der Vermögensverwaltung der Deutschen Jesuiten tätig ist, sammeln die Nationalsozialisten jahrelang Material gegen ihn um ihn wegen vermeintlicher Devisenvergehen anklagen zu können. Sie leiten 1936 ein Verfahren gegen Nell-Breuning ein. Es dauert aber sieben Jahre bis zum Prozess. Jahre die geprägt sind durch den Wechsel von zermürbenden Phasen des Stillstands, mit hektischen Maßnahmen der Durchsuchung und mehrfacher, teilweise tagelanger Vernehmung. 1939 wird er von der Gestapo für drei Wochen in Schutzhaft genommen. Diese Zeit nimmt ihn sehr, ein Mitbruder berichtet: „Denn dieses Nazi-Gefängnis hat ihn ganz kaputt gemacht. Er war mit den Nerven total am Ende.“ Nach seiner Entlassung verbringt Nell-Breuning zur Erholung einige Zeit in der Schweiz, und kehrt dann wieder zurück. 1943 Verurteilung durch das Sondergericht München, wegen angeblicher Devisenverstöße, zu drei Jahren Zuchthaus, drei Jahren Ehrverlust und zu einer Geldstrafe von 500.000 Reichsmark. Aufgrund von zweimalig attestierter Haftunfähigkeit tritt er diese bis Kriegsende nicht an. Erst am 28. Mai 1948 hebt das bayerische Justizministerium die Zuchthausstrafe auf und verleiht Oswald von Nell-Breuning die bürgerlichen Ehrenrechte wieder. Die hohe Geldstrafe wird erst am 7. Januar 1950 von der 2. Strafkammer des Landgerichts München I aufgehoben.

Gesuchter Ratgeber in der Bundesrepublik

„Alles Menschenwerk ist Stückwerk oder Bruch“, sagt Nell-Breuning 1972 nach der Verleihung des Romano-Guardini-Preises. Die heile Welt gibt es für ihn nicht, wohl aber die Verpflichtung, die Welt „heiler“ zu machen. Für ihn ist die Rolle des Priesters dafür wie geschaffen. Doch seine Position gleicht einer Gratwanderung. 1951 stellt er dazu zwei wichtige Thesen auf: „1. Der Priester trägt eine ungeheure Verantwortung für die Politik. 2. Der Priester lasse um Gottes willen die Finger aus der Politik.“ Dennoch ist er über Jahre hinweg der gefragteste Ratgeber in sozialen Fragen. Dabei versteht er es wie kein anderer, unterschiedliche Kompetenzen, gesellschaftswissenschaftliche, ökonomische, juristische, philosophische wie auch theologische miteinander zu vereinen. Von 1948-1965 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats bei der Verwaltung für Wirtschaft bzw. beim Bundesministerium für Wirtschaft. 1949 Mitbegründer des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU). Und ab dem gleichen Jahr hat er einen Lehrauftrag an der Akademie der Arbeit, Frankfurt a.M., der Ausbildungseinrichtung für Gewerkschaftssekretäre. Von 1950-1959 ist er Stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen (wohnungswirtschaftlichen) Beirats beim Bundesministerium für Städtebau und Wohnungswesen. Von 1953-1955 Berater des Zentralverbandes Deutscher Konsumgenossenschaften, und von 1959-1961 Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Bundesministeriums für Familien- und Jugendfragen. Ebenso von 1959-1965 Berater der „Stiftung Mitbestimmung“ und ab 1959 Mitglied des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes. So ist er der vielfach Mahnende, der ohne Rücksicht auf Ansehen und Person seine Stimme erhebt. Er ist selbst denen, die ihn um Rat aufsuchen oft ein unbequemer Ratgeber. Sein Rat wird seit Kriegsende von Regierungen, den großen Volksparteien CDU und SPD, von Gewerkschaften, von Unternehmerseite wie von der Kirche gefragt. Und er ist in vielen Gremien und Institutionen als Berater tätig. Dabei ist er den einen immer zu links und den andren immer zu rechts, da er oftmals ein unbequemer und unbestechlicher Anreger ist. Viele machen sich immer wieder auf den Weg nach Sankt Georgen, wo er seit 1950 sein bescheidenes Zimmer bewohnt und sitzen auf dem Stuhl vor dem großen Schreibtisch, um seinen Rat zu hören. Mit seinen Beiträgen zum Marxismus schaltet er sich sowohl in die Auseinandersetzungen auf der Würzburger Synode ein, die zu den Beschluss „Kirche und Arbeiterschaft“ führen, sowie in den Konflikt zwischen westdeutschen Soziallehrern und lateinamerikanischen Befreiungstheologen. Einige Themen bleiben sowohl in den siebziger, als auch in den achtziger Jahren eine dauernde Anfrage: das Selbstverständnis der katholischen Soziallehre, die Gewerkschaften in ihrer Funktion als Interessenvertretung und Ordnungsfaktor, eine funktionstüchtige und sozial gezähmte Marktwirtschaft, das Bemühen um eine echte Unternehmensverfassung, das Verhältnis der Kirche zu den Arbeitern. Und hin und wieder kündigen sich in diesen beiden Jahrzehnten bereits die Themen des kommenden Jahrhunderts an: die Relativierung der Erwerbsarbeit, die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, Ausländerintegration und solidarische Weltwirtschaft.

Nestor der katholischen Soziallehre

Oswald von Nell-Breuning wird als Nestor der Katholischen Soziallehre bezeichnet. Als Philosoph und Theologe steht Nell-Breuning im Schatten der neuscholastischen Naturrechtslehre. Als Sozialethiker lässt er sich jedoch in erster Linie von den „Sachverhalten“ und Problemlagen anstoßen, wie sich diese seinem juristischen und ökonomischen Denkstil erschließen. Seine Einsicht „Wir stehen alle auf den Schultern von Karl Marx“ ist das Ergebnis jener dialogischen Vorgehensweise, die er konsequent befolgt, „alles was in der Meinung des Gegners an Wahrheitsgehalt enthalten ist bis aufs Letzte  anzuerkennen“. Genau vierzig Jahre nach seinem Kommentar zu „Quadragesimo anno“ legt Nell-Breuning eine kritische Bilanz der katholischen Soziallehre vor, die zugleich auch eine Selbstkritik darstellt. Seine Buch „Wie sozial ist die Kirche?“ deutet schon im Untertitel „Leistung und Versagen der katholischen Soziallehre“ deren ambivalenten Charakter an. Den unleugbaren Erfolgen stellt er ebenso offen die Versäumnisse gegenüber. Er kritisiert dass sich die katholische Soziallehre seit dem „Syllabus“ Pius IX. (1864) „frontal gegen den individualistisch-liberalistischen Zeitgeist“ gestellt habe, eine Haltung, die in moderaterer Form auch bei Leo XIII. zu erkennen sei. Als „ein äußerst schweres Versäumnis der katholischen Soziallehre oder besser der katholischen Sozialwissenschaftler“ kritisiert er die mangelhafte Auseinandersetzung mit der „heutigen Wissenschaftstheorie“. Diese kritische Selbstreflexion befähigt den Nestor der katholischen Soziallehre, in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten den Defiziten des sozialethisch-kirchlichen Denkens, das so sehr mit seinem eigenen Werk verbunden ist, mit Entschiedenheit zu begegnen. Den Anstoß zur Neuorientierung bewirkt die Soziallehre Papst Johannes XXIII.

„Für Pius XII.“, so schrieb Nell-Breuning, „war mit den beiden Sozialenzykliken  alles gesagt, ... Die Päpste  hatten philosophisch, näher hin naturrechtlich argumentiert und diese Argumentation theologisch untermauert: Johannes XXIII. beginnt stattdessen empirisch-soziologisch zu argumentieren und theologisch zu motivieren. Für denjenigen, der seinen Denkstil an den Enzykliken von Leo XIII. bis zu Pius XII. und dessen Ansprachen, Rundfunkbotschaften und Lehrschreiben gebildet hatte, war es nicht leicht, sich den neuen Denkstil anzueignen. Auch mir ist das nicht sogleich gelungen ....

Oswald von Nell-Breuning setzt so mit seinem Werk in historischer und systematischer Hinsicht Marksteine nicht nur für eine zeitgemäße christliche Soziallehre, sondern auch für die politische Ethik und die politische Theorie. Dass diese Politik- und Sozialethik die neuscholastische Enge abzulegen vermag, ohne ihre Kontinuität zur aristotelisch-thomistischen Lehre aufzugeben, hat er ebenso gezeigt wie die Möglichkeit, das sozialethische Denken den modernen Herausforderungen sowie den wissenschaftlichen Methoden und Fragestellungen zu öffnen. Eine Erweiterung seines Ansatzes ist auch in der Forderung zu sehen, in die Sozialethik vermehrt biblisch-theologische Elemente einzubeziehen. Dabei bedauert Nell-Breuning es immer sehr, dass er trotz so vieler Veröffentlichungen, kein umfassendes Lebenswerk geschrieben hat.

Unruhestand

Nell-Breuning ist unermüdlich tätig. Dies gelingt ihm nicht nur durch seine robuste Gesundheit, sondern auch durch eiserne jesuitische Disziplin, Tagesordnung und asketische Lebensweise. Wenn er nicht zu zahlreichen Vorträgen, Kongressen und Sitzungen von Beiräten verreist, feiert er jeden Morgen die Messe. Von 1928 bis 1987 betreut er das Theresienkinderheim in Offenbach täglich als Hausgeistlicher und als Prüfer der dortigen Buchhaltung und Berater der Leitung des Hauses. Nach der Messe wird von ihm das Zimmers aufgeräumt und gereinigt um sich dann der wissenschaftlichen Arbeit zu widmen. Sein Beiträge und Briefe schreibt er immer selbst auf seiner, mittlerweile 70 Jahre alten, Schreibmaschine. Er hält minutiös die Essens- und Rekreationszeiten des Kollegs ein und erwartet seine Besucher pünktlich an der Pforte. Nell-Breuning stellt immer die Sache in den Vordergrund und vertritt sie mit Kompetenz, kann gelassen und überlegen, aber auch kämpferisch sein. Er achtet nicht auf persönliches Wohlergehen, auch nicht auf Ehrungen, und setzt alle Kräfte für seine Arbeit ein. Dieses Höchstmaß an sachbezogener Arbeit verschafft ihm Respekt, da man weiß, der sagt, was er denkt, und hat neben dem, was er ausspricht, keine Hintergedanken über die Verbindungen des zur Sache Gesagten mit persönlichem oder parteilichem Nutzen. Gelassen, mit ruhiger, ausgeglichener Stimme sagt er immer, dass er sich vor dem Tod nicht fürchte. Vielmehr fragt er sich, wann Gott ein Einsehen mit ihm hat und sagt: jetzt habe ich ihn lang genug leben lassen und ihm Zeit gegeben, an sich selber zu arbeiten – jesuitische Gedanken auch in den Fragen, die man im allgemeinen als die letzten bezeichnet. Aber er leidet darunter, dass ihm im hohen Alter vieles immer schwerer fällt, so sagt er zu Norbert Blüm, der ihn wenige Tage vor seinem Tod noch besucht: „So, jetzt können Sie sehen, wie ein Geist verfallen ist.  ‚Ich bin zu nichts mehr nutze, außer täglich die Messe. Und wenn ich das nicht mehr kann, dann bitte ich den Herrgott um ‚ab‘ und er machte dazu eine Handbewegung, als wolle er eine Brotkrume vom Tisch wischen“. Am 21. August 1991 stirbt Oswald von Nell-Breuning im Alter von 101 Jahren in Sankt Georgen. Beerdigt ist er auf dem Frankfurter Südfriedhof.

1. Schriften von Oswald von Nell-Breuning

  • Aufgrund der immensen Zahl von Publikationen Oswald von Nell-Breunings (aus mehr als 2000 Veröffentlichungen) hier nur eine kleine Auswahl:
  • Hengsbach, Friedhelm / Möhring-Hesse (Hrsg.), Oswald von Nell-Breuning SJ. Sachdienliche Hinweise. Verzeichnis sämtlicher Schriften (Studien zur christlichen Gesellschaftsethik, Bd.7), Münster, Hamburg, London 2005.
  • Grundzüge der Börsenmoral, Freiburg i.Br. 1928 (= Reprint, mit einer Einf. von Friedhelm Hengsbach und Bernhard Emunds Studien zur christlichen Gesellschaftsethik, Bd. 6. Münster, Hamburg, London 2002).
  • Die soziale Enzyklika. Erläuterungen zum Weltrundschreiben Papst Pius XI. über die gesellschaftliche Ordnung, Köln 1932.
  • Zur christlichen Gesellschaftslehre, Freiburg i.Br. 1947.
  • Einzelmensch und Gesellschaft, Heidelberg 1950.
  • Mitbestimmung, Landshut 1950.
  • Wörterbuch der Politik. Gesellschaft – Staat – Wirtschaft – Soziale Frage, zweite Aufl., Freiburg i.br. 1954.
  • Neoliberalismus und katholische Soziallehre, in: Boarman, Patrick (Hrsg.), Der Christ und die soziale Marktwirtschaft, Stuttgart 1955, S. 101-122.
  • Wirtschaft und Gesellschaft heute, 3 Bde., Freiburg i.Br. 1956-1960.
  • Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität, Freiburg i.Br. 1968, zweite durchges. Aufl. 1990.
  • Wie sozial ist die Kirche? Leistung und Versagen der katholischen Soziallehre, Düsseldorf 1972.
  • Können Neoliberale und Katholische Soziallehre sich verständigen?, in: Sauermann, Heinz / Mestmäcker, Ernst-Joachim (Hrsg.): Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung. Festschrift für Franz Böhm zum 80. Geburtstag, Tübingen 1975, S. 461-470.
  • Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente (Soziale Brennpunkte; Nr. 5), Wien (u.a.) 1977.
  • Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre (Soziale Brennpunkte; Nr. 8), Wien (u.a.) 1980, zweite Aufl. München 1985.
  • Worauf es mir ankommt. Zur sozialen Verantwortung, Freiburg i.Br. 1983.
  • Arbeit vor Kapital. Kommentar zur Enzyklika „Laborem exercens“ von Papst Johannes Paul II., Wien 1983.
  • Unsere Verantwortung. Für eine solidarische Gesellschaft, Freiburg i.Br. 1987.

 

2. Schriften über Nell-Breuning

  • Arnold, Johannes (Hrsg.), Oswald von Nell-Breuning. Anekdoten – Erinnerungen – Originaltexte, Trier 2007.
  • Furger, Franz, Art.: Oswald von Nell-Breuning (1890-1991), in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24 (1994), S. 254-256.
  • Grein, Eberhard, Für die Soziale Marktwirtschaft. Oswald von Nell-Breuning – Reformer und Jesuit, Sankt Ottilien 2011.
  • Hengsbach, Friedhelm / Möhring-Hesse, Matthias / Schroeder, Wolfgang: Ein unbekannter Bekannter. Eine Auseinandersetzung mit dem Werk von Oswald von Nell-Breuning SJ, Köln 1990.
  • Hengsbach, Friedhelm, Oswald von Nell-Breuning. Ein Leben an der Grenze, in: Pauly, Stephan (Hrsg.), Theologen unserer Zeit, München 1997, S. 111-123.
  • Hengsbach, Friedhelm / Möhring-Hesse, Matthias / Schroeder, Wolfgang: Ein unbekannter Bekannter. Eine Auseinandersetzung mit dem Werk von Oswald von Nell-Breuning SJ, Köln 1990.
  • Klein, Heribert (Hrsg.), Oswald von Nell-Breuning. Unbeugsam für den Menschen. Lebensbild – Begegnungen – ausgewählte Texte, Freiburg i.Br. 1989.
  • Losinger, Anton, Gerechte Vermögensverteilung. Das Modell Oswald von Nell-Breunings (Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 34), Paderborn (u.a.) 1994.
  • Schasching, Johannes, Zeitgerecht – zeitbedingt. Nell-Breuning und die Sozialenzyklika ‚Quadragesimo anno‘ nach dem Vatikanischen Geheimarchiv, Bornheim 1994.
  • Schroeder, Wolfgang, Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus. Oswald von Nell-Breuning, Viktor Argartz und der Frankfurter DGB-Kongress 1954, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (1991), S. 179-220.
  • Schroeder, Wolfgang, Katholizismus und Einheitsgewerkschaft : der Streit um den DGB und der Niedergang des Sozialkatholizismus in der Bundesrepublik bis 1960 (Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 30), Bonn 1992.
  • Schwaderlapp, Werner, Eigentum und Arbeit bei Oswald von Nell-Breuning, Düsseldorf 1980.
  • Uertz, Rudolf, Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft und der DGB. Historische Aspekte ihrer Beziehungen, in: Küsters, Hanns Jürgen / Uertz, Rudolf (Hrsg.), Christlich-Soziale im DGB (Im Plenum), Sankt Augustin 2010, S. 19-37.

Markus Lingen