02. September 1954

Aussprache des Bundeskanzlers Adenauer mit dem britischen Hohen Kommissar für Deutschland, Hoyer Millar, auf Büh­lerhöhe

Am Donnerstag, dem 2. September 1954, hatte der britische Hohe Kommissar Sir Frederick Hoyer Millar eine Aussprache mit dem Bundeskanzler, Staatssekretär Hallstein und Botschafter Blankenhorn auf Bühlerhöhe. Sir Frederick war von Außenminister Eden aus dem Urlaub zurückgerufen worden, um dem Bundeskanzler die Auffassungen des briti­schen Kabinetts zu der durch die Pariser Entscheidung gegebenen Lage vorzutragen.

Der Bundeskanzler leitete das Gespräch mit folgenden Bemerkungen ein: Brüssel sei kein Misserfolg gewesen, sondern habe eindeutig die Front der fünf EVG-freundlichen Staaten gegen Frankreich gezeigt. Es sei ein Bekenntnis zu den Grundlinien der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gewesen und habe bewiesen, dass in diesen fünf Staaten der Europagedanke lebendig sei. Man habe sich hierbei nicht abgestimmt, sondern sei spontan gegen die Ausführungen von Mendès France aufgetreten. Man sei sich unter den fünf EVG-freundlichen Ländern klar darüber gewesen, dass man Mendès France gegenüber keine Zusage eingehen könne, die neue Ratifizierungsverhandlungen in den Parlamenten notwendig machte. Auch sollte der supranationale Charakter der Organe der EVG nicht geändert werden. Das gewünschte, für acht Jahre dauernde Vetorecht sollte nicht gewährt werden. Mendès France habe es nicht Vetorecht, sondern Rekursrecht genannt, was aber im Grunde auf dasselbe hinauslaufe. Der Vorschlag der Franzosen, im Falle der Wieder­vereinigung solle jeder ein Kündigungsrecht haben, sei von allen übereinstimmend abgelehnt worden. Während der Verhandlungen habe er, der Bundeskanzler, sich außer­ordentlich zurückgehalten. Dies sei möglich gewesen, da die anderen Partner mit voll­endeter Klarheit gesprochen hätten. Er habe lediglich in einem Punkt eingegriffen, wo es sich um die Wiedervereinigungsfrage handelte; denn mit einem Kündigungsrecht im Falle der Wiedervereinigung wäre den Sowjets das Recht gegeben worden, die EVG aufzulösen. - In der Sitzung des Bundeskabinetts und der Koalitionsfraktionen vom 1. September sei völlige Übereinstimmung erzielt worden, die ihren Niederschlag in der bekannten Regie­rungserklärung gefunden habe.

Es bleibe nun, Lösungen für die militärische Frage zu finden. Da biete sich die NATO-Lösung und eine umgebildete EVG-Lösung an, die England einbeziehe. Die Teilnahme Großbritanniens sei selbstverständlich sehr erwünscht. Es frage sich, ob eine Neubildung erreichbar sei; er sei nicht der Auffassung, weil alle Parlamente ablehnen würden, sich mit diesem Vertragswerk, das jahrelang von ihnen behandelt worden sei, erneut zu beschäfti­gen. Anders stehe es mit NATO.

Zunächst wolle er jedoch von der Wiederherstellung der deutschen Souveränität sprechen. Er sei vom Kabinett beauftragt, diese Forderung zu stellen. Die Frage sei ferner, wie man eine Beschränkung der Rüstungsstärke anbieten könne, ohne sich dem Vorwurf der Unterwerfung oder Diskriminierung auszusetzen. Hier beschäftige er sich mit zwei Möglichkeiten: einmal freiwillige Selbstbeschränkung oder Befolgung gewisser Richtlinien des Oberbefehlshabers der NATO. Er stelle sich vor, dass der Oberbefehlshaber der NATO den Auftrag erhalte, die Stärke festzusetzen und zu kontrollieren. Dabei denke er nicht an eine Kontrolle durch den Rat der NATO. Er sei aber bereit, auch freiwillig Beschränkungen einzugehen, über deren Form man sich noch einigen müsse. Früher sei diese Beschränkung nicht erforderlich gewesen, da die Integration, die alle der gleichen Behandlung unterworfen habe, an die Stelle der Selbstbeschränkung getreten sei. Da diese Integration heute wegfalle, müsse man nach einer anderen Lösung suchen. Schwierig sei aber die Frage, wie man sich verhalte, wenn einer der NATO-Staaten der Aufnahme widerspreche.

Er dürfe noch einmal auf die psychologische Situation zurückkommen. Die Form, in der das französische Parlament einen Vertrag, den drei französische Regierungen gebilligt hatten, ohne sachliche Diskussion vom Tisch herunter gewischt habe, sei völlig unmöglich. Weder Schuman noch Bidault noch Pinay seien in der Debatte zu Wort gekommen. Allein die kommunistischen Stimmen hätten den Ausschlag gegeben. Sowjetrussland habe damit einen Stützpunkt gewonnen. Deutschland fühle sich jetzt „eingeklemmt". Die Bundes­regierung traue Herrn Mendès France nicht über den Weg. Die Pariser Entscheidung sei die logische Fortsetzung des Genfer Kompromisses. Er, der Bundeskanzler, müsse mit größter Sorgfalt die öffentliche Meinung in Deutschland beachten. Die SPD habe jetzt eine Viererkonferenz gefordert. Angesichts der Lage der westeuropäischen Völker bedeute eine solche Konferenz nichts anderes als das Abgleiten nach Osten. Man sage jetzt in Deutschland, die Einigung zwischen Stresemann und Briand, zwischen Brüning und Daladier, zwischen Adenauer und Schuman - alles sei vergeblich gewesen. Frankreich wolle eben nicht. Wenn Frankreich mit Russland zusammenarbeiten wolle, so könne das die Bundesregierung noch besser. Er sei aus Prinzip und politischer Erfahrung dagegen; das Beispiel Benesch sei ihm zu deutlich im Gedächtnis. Aber er fürchte in Deutschland einen neuen Nationalismus. Seit 1946/47 sei das deutsche Volk und vor allem die Jugend mit europäischen Gedanken erfüllt und deshalb gegen überspitztes Nationalgefühl immun. Deutschland müsse aber etwas tun, was das emotionale Bedürfnis befriedige; denn dies werde sonst unweigerlich nach dem Osten tendieren. Die Deutschen seien sich klar, wie unbeliebt sie im Ausland seien. Berichte Schweizer Zeitungen über den Aufenthalt deut­scher Gäste in der Schweiz, über die Fußballmeisterschaft in Bern, Lord Russels Buch, Sefton Delmers Buch „Gebt den Hunnen keine Gewehre", Foresters Buch in Amerika über die Gräuel in Deutschland - all dies trage dazu bei, die Stimmung zuungunsten Deutschlands zu verändern und damit auch innerhalb Deutschlands unliebsame Re­aktionen auszulösen. Dazu komme das Gefühl der völligen Lethargie der europäischen Völker, die allmählich auch in Deutschland negative Reaktionen auslöse, zu denen sicher in einem gewissen Maß die Fälle John und Schmidt-Wittmack gehörten. Aus all diesen Gründen habe er sich veranlasst gesehen, heute die Protokolle abzulehnen, die Bot­schafter Conant ihm von der amerikanischen Regierung überbracht habe. Er sei sicher, dass der Bundestag diese Protokolle ablehnte. Wenn man sie ihm vorlege und er sie ableh­ne, bedeute dies einen neuen Sieg der Russen. Er sei deshalb nicht bereit, dies zu tun.

Hoyer Millar: Er sei vom Premierminister und von Herrn Eden beauftragt, dem Bundeskanzler zu erklären, dass die britische Regierung alles in ihren Kräften stehende tun werde, um zu helfen. Der Premierminister habe volles Verständnis für die schwere Situati­on, die nicht durch deutsches Verschulden entstanden sei. Die ganze Frage teile sich in zwei Aspekte, einen politischen und einen militärischen. Er beginne mit dem Militäri­schen: Die britische Regierung wolle wissen, welche Ideen die deutsche Regierung hin­sichtlich des militärischen Beitrags habe. Auf englischer Seite seien gewisse Ideen entwi­ckelt worden, die allerdings mit den anderen befreundeten Mächten noch nicht besprochen worden seien. Es seien keine definitiven Auffassungen, sie könnten deshalb jederzeit geändert werden entsprechend etwaigen deutschen Anregungen. Jedenfalls sei schnelles Handeln notwendig. Der Zeitverlust der letzten zwei Jahre dürfe nicht wiederholt werden. Die britische Regierung habe seit mehreren Monaten an zwei Alternativen gearbeitet: einmal deutscher Eintritt in NATO, zum andern lockerere Form der EVG ohne suprana­tionalen Charakter, die eine britische Assoziierung ermögliche. Das Studium dieser Alternativen habe ergeben, dass die NATO-Lösung nach britischer Auffassung die bessere sei. Das schließe jedoch andere Möglichkeiten nicht aus. Man sei deshalb für NATO, weil hier eine Organisation bereits bestehe. Selbstverständlich sei nicht an die heutige NATO gedacht. Änderungen ihrer Struktur würden erforderlich sein. Dabei sei sich die britische Regierung klar, dass man keine Diskriminierung wolle. Selbstverständlich könne man eine unkontrollierte deutsche Wehrmacht nicht entstehen lassen. Dies würde von der auslän­dischen öffentlichen Meinung nicht akzeptiert werden. Er brauche nur auf die Strömungen [in] der Labour Party, Frankreich und Amerika zu verweisen. Vielleicht gelinge es, gewisse Beschränkungen, die in der EVG stehen, auch in NATO einzubringen. Wenn man die deutschen Streitkräfte nicht größer mache, als sie nach EVG vorgesehen seien oder als SACEUR es wünsche, so könne man sich hierin eine praktische Lösung vorstellen. Hier sei der Augenblick gekommen, wo er die Botschaft des britischen Premiers dem Kanzler übergeben möchte. Der Sinn sei, dem Bundeskanzler nahezubringen, dass für ihn und die Bundesregierung eine große Gelegenheit gegeben sei, der Welt klarzumachen, dass Deutschland auf keine hemmungslose Rüstung abziele, sondern sich in den Grenzen der EVG zu halten beabsichtige.

Der Bundeskanzler erklärt, dass die Bundesregierung dies immer im Auge gehabt habe. Eine Lösung müsse sich finden.

Hoyer Millar: Bei einer NATO-Lösung müssten gewisse Sicherheiten eingebaut werden. Was die sowjetische Reaktion anlange, so befürchte die britische Regierung nicht, dass sie stärker sei, als wenn [die] EVG zustande gekommen wäre. Jedenfalls sei das vorwiegende Gefühl der britischen öffentlichen Meinung und auch der britischen Regierung, dass dies die beste Lösung sei. Aber zunächst müsse die deutsche Auffassung gehört werden. Es müsse eine Übereinstimmung erzielt werden zwischen den hauptsächlich betroffenen Staaten.

Hinsichtlich der politischen Seite des Problems müsse er ein Wort zu den Protokollen sagen, die Botschafter Conant dem Bundeskanzler übergeben habe. Seit einer Reihe von Monaten sei eine britisch-amerikanische Arbeitsgruppe in London daran, eine Alternative für den Fall des Scheiterns der EVG auszuarbeiten. Zu Beginn dieser Arbeiten habe man geglaubt, dass die Inkraftsetzung des Deutschlandvertrages der erste Schritt sein würde und dass die militärische Initiative später ausgearbeitet werden sollte. Dabei habe sich die Auffassung jetzt völlig geändert. Es sei durchaus möglich, dass man jetzt die politische und militärische Seite des Problems zusammen löse. Wenn der Bundeskanzler eine generelle Lösung des ganzen Problems anpacken wolle, so beständen britischerseits keine Bedenken. Die Protokolle seien dem Bundeskanzler nicht zur bedingungslosen Annahme übergeben worden (not on a take it or leave it basis). Man könne die Sachlage erneut überdenken. Eile tue aber Not. Wenn man alles neu machen möchte, würde es viel Zeit in Anspruch neh­men. Dass man statt einem Protokoll zwei Protokolle verfasst habe, beruhe auf gewissen amerikanischen Verfassungsbedenken. In Amerika müsse lediglich die Trennung des Deutschlandvertrags vom Rüstungsvertrag dem Kongress vorgelegt werden. Alles, was sich auf Rüstung beziehe, könne im Wege des Verwaltungsdekrets geregelt werden. An den Arbeiten über diese beiden Protokolle hätten die Franzosen nicht teilgenommen. Es sei aber von britischer Seite beabsichtigt, Herrn Mendès France gleichzeitig mit dem Herrn Bundeskanzler zu unterrichten.

Der Bundeskanzler teilt mit, dass Conant inzwischen telefoniert habe, dass man die Proto­kolle nicht Herrn Mendès France übergeben solle. Herr Conant habe auf die Stellung­nahme des Bundeskanzlers hin seine Regierung verständigt, dass die Protokolle nicht Mendès France übergeben werden möchten. Sollte Mendès France sie veröffentlichen, so würden die Menschen hier ihr letztes Vertrauen verlieren. Er wolle versuchen, nun einmal die deutschen Gedanken zu Papier zu bringen, um sich auf der Grundlage solcher Entwür­fe mit den anderen Regierungen auszutauschen. Er sei durchaus bereit, freiwillig Be­schränkungen auf sich zu nehmen. Er persönlich gebe die Hoffnung auf Europa nicht auf. Er sei gewiss, dass die Neuwahlen in Frankreich eine neue Lage brächten. Solange Mendès France an der Macht sei, würde keine französische Politik mehr getrieben. Er sei Mendès France völlig unvoreingenommen in Brüssel entgegengetreten. Nach seiner Auffassung habe Mendès France keine tragfähige Mehrheit mehr. Er sei antieuropäisch eingestellt, und man müsse sicher mit seinem Widerspruch gegen den Eintritt Deutsch­lands in die NATO rechnen.

StS Hallstein: Mit NATO sei also eine modifizierte NATO gemeint, dadurch, dass Deutsch­land sich Beschränkungen für den Umfang seiner Rüstungsstärke auferlege. Oder gibt es noch andere Beschränkungen? Kommt dabei nicht der Parodi-Plan zum Zuge? Solche Beschränkungen seien völlig unannehmbar, denn sie bedeuteten zum Beispiel unter anderem wichtige Beschränkungen durch Rüstungskontrolle, die nur für Deutschland gelte.

Der Bundeskanzler betonte mit Nachdruck, dass eine Konferenz irgendwelcher Art nicht stattfinden sollte, bevor nicht gründliche diplomatische Vorarbeit geleistet sei.

Hoyer Millar fasst das Ergebnis der Besprechungen zusammen: Eine verwässerte EVG sei nicht praktikabel. Der Bundeskanzler neige zur NATO. Hier sei die Schwierigkeit, dass Frankreich voraussichtlich nicht zustimme. Vielleicht gebe es noch eine Alternative, ohne dass Deutschland in die NATO eintrete. Diese Alternative werde von der deutschen Regierung geprüft. Man erwarte hierzu Anregungen oder Vorschläge. Sehr eingehend müssten im Falle des NATO-Eintritts die Safe guards, die sogenannten Beschränkungen, überprüft werden, damit eine Diskriminierung ausgeschlossen würde. Er nehme davon Kenntnis, dass der Bundeskanzler sich bewogen fühle, in einer freiwilligen Verpflichtungs­erklärung festzustellen, dass die Bundesregierung nicht mehr Truppen aufstellen werde, als NATO zulasse.

Hier greift Botschafter Blankenhorn ein und erhebt wesentliche Bedenken. Ein Nato-Beschluss müsse mit Einstimmigkeit gefasst werden; es sei nicht zu erwarten, dass hier Einmütigkeit erzielt werde. Man könne deshalb auch eine Festsetzung der Stärke kaum dem NATO-Befehlshaber überlassen, da dieser an die Entscheidung und Beschlüsse der NATO-Konferenz gebunden sei.

Übereinstimmung bestehe ferner, dass der Generalvertrag heute nicht mehr ausreiche. Auch hier müsse noch ein Alternativvorschlag der deutschen Seite abgewartet werden.

 

Quelle: Aufzeichnung des Leiters der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts, Herbert Blankenhorn, in: BArch, NL Blankenhorn N 1351/33b, Bl. 143-149.