1. Januar 1954

Vor großen Aufgaben

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Es ist ein guter Brauch, in der Stunde des Jahreswechsels die Gedanken zurück- und vorausgehen zu lassen. Was hat das scheidende Jahr uns an Wünschen erfüllt? Was wird das neue bringen? Wir, die wir in einem an Ereignissen reichen Geschichtsabschnitt leben, haben eine ungewöhnliche Fülle von Hoffnungen mit jedem neuen Jahr zu verbinden. Was wird 1954 für uns bereithalten?

Im Jahr 1954 wird sich zum vierzigsten Male der Tag jähren, mit dem - am 2. August 1914 - der Frieden aus der Welt ging und die große Kriegsperiode unseres Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Der furchtbare Dreißigjährige Krieg des 17. Jahrhunderts ist in seiner Dauer bereits um ein Jahrzehnt überschritten und in seiner Grausamkeit sicherlich erreicht. Es ist Zeit, dass Frieden wird!

Die Bundesregierung hat ihre Politik in den Dienst des Strebens der Menschheit nach Frieden gestellt. Es ist nicht Deutschlands Schuld, wenn nach dem letzten Krieg ein Friedensvertrag nicht vereinbart werden konnte und in der Welt immer wieder der Kampf aufflackert. Wäre Sowjetrussland bereit, eine der Vernunft entsprechende Übereinkunft mit der freien Welt zu treffen, wäre es bereit, auf militärische und ideologische Aggressionen zu verzichten und insbesondere Deutschland zu geben, was Deutschlands ist, ich glaube, der Frieden könnte in naher Zukunft herbeigeführt werden.

Im abgelaufenen Jahr haben die deutschen Wähler durch einen eindrucksvollen Entscheid die von der Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt betriebene Politik gutgeheißen. Die Regierung weiß sich deshalb in Übereinstimmung mit der Mehrheit des Volkes, wenn sie den eingeschlagenen politischen Kurs so gradlinig und beharrlich wie bisher fortführt. Zwei große außenpolitische Ziele hat diese Politik nach wie vor neben dem Bemühen, den deutschen Staat so sozial wie möglich einzurichten: Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit und Vereinigung Europas.

Es ist meine feste Überzeugung, dass diese beiden Ziele einander nicht ausschließen. Wir müssen nach beidem streben. Die Wiedervereinigung ist eine nur allzu selbstverständliche Forderung, denn auf der Teilung Deutschlands lässt sich ein Frieden nicht aufbauen. Ein solcher Friede würde auf zerrissenem, schwankendem Boden stehen. Wir dürfen aber auch auf die Vereinigung Europas nicht verzichten. Erst der Zusammenschluss der europäischen Staaten zu einer Gemeinschaft wird das geschichtliche Gegeneinander der Nationalstaaten überwinden und damit Krieg auf dem Kontinent in der Zukunft unmöglich machen.

Hat das abgelaufene Jahr unsere Wünsche erfüllt? Ich bin der Auffassung, dass wir zufrieden sein dürfen. Gewiss, es hat Hindernisse, Enttäuschungen gegeben. Aber die Erfolge und die Fortschritte sind sehr viel größer. Der Gedanke der europäischen Gemeinschaft zum Beispiel hat sich kräftig entwickelt und zu konkreten Plänen geführt. Seit der Haager Außenministerkonferenz zeichnet sich das kommende Europa in deutlichen Umrissen ab: Die Europäische Gemeinschaft wird eine übernationale Regierung, den Europäischen Exekutivrat, haben, und diese Europa-Regierung, von einem Rat der nationalen Minister eingesetzt, wird einer in direkter Wahl gewählten europäischen Völkerkammer verantwortlich sein. Ist diese Gemeinschaft ins Leben gerufen, werden sich europäisches Denken, europäisches politisches Leben allgemein entwickeln und übernational durchsetzen. Was allen Teilnehmern an den europäischen Konferenzen der letzten Monate aufgefallen ist, ist die Stärke, mit der "Europa" schon jetzt in die Erscheinung tritt, nachdem in Straßburg, in Luxemburg und auf den verschiedenen Zusammenkünften eine umfangreiche materielle europäische Arbeit geleistet worden ist und täglich weiter geleistet wird. Ich möchte sagen: Europa ist in seinen Ansätzen schon an der Arbeit!

Unsere freundschaftlichen Beziehungen zu den Nationen der freien Welt konnten wir in dem vergangenen Jahr weiter festigen. Durch meine Reisen nach den Vereinigten Staaten und nach England ist unsere Verbindung zu der angelsächsischen Welt enger gestaltet worden; das ist besonders zu begrüßen, nachdem unsere Nationen so lange zum Nachteil aller entzweit waren.

Unermüdlich arbeiteten wir auch an der Beseitigung der mehr als überfälligen geschichtlichen Gegensätze zu Frankreich. Mag sich Misstrauen hier auch heute noch geltend machen, ich bin überzeugt, dass eine echte deutsch-französische Verständigung unsere Völker zusammenführen und die Vergangenheit vergessen lassen wird. Unsere Hand bleibt immer Frankreich entgegengestreckt.

Die in den Verträgen vorgesehene gemeinsame Verteidigung ist im Jahr 1953 von deutscher Seite durch die Annahme des EVG-Vertrages im Bundestag gefördert worden. Auch der Deutschlandvertrag hat die Zustimmung des Bundestages gefunden. Die in ihm niedergelegte Vereinbarung, dass die Bundesrepublik in allen das deutsche Interesse berührenden Fragen zu konsultieren ist, hat dazu geführt, dass die Bundesregierung von den Vertragspartnern vor und während der großen Konferenzen der letzten Monate unterrichtet und um ihre Ansicht befragt worden ist. Dies wird, wie bei meinen Gesprächen mit den Außenministern Dulles, Eden und Bidault in Paris noch einmal unterstrichen wurde, auch künftig bei den Deutschland berührenden Angelegenheiten der Fall sein.

Angesichts der vor uns liegenden Viermächtekonferenz ist diese Konsultierung von größter Bedeutung, denn die Konferenz soll sich in erster Linie mit Deutschland beschäftigen, sie soll Antwort auf die Frage geben, ob die Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit in naher Zukunft möglich sein wird. Wiederholt habe ich im Lauf der Jahre im Namen der Bundesregierung und unterstützt von Entschließungen des Bundestags eine Viermächtekonferenz gefordert.

Niemand wird bezweifeln, dass es entscheidende Gespräche sind, die auf der Berliner Konferenz zu führen sind. Die Bundesregierung kann ihnen entgegensehen als gefestigter Staat. Noch einmal hat der Bundestag die Voraussetzungen genannt, in denen wir die Grundlage der Wiedervereinigung sehen. Es gibt für uns nur eine Einheit in Freiheit, eine Wiedervereinigung auf friedlichem Wege, niemals aber eine Einheit unter bolschewistischer Herrschaft. An Sowjetrussland ist es, erkennen zu lassen, ob es seinen Sinn, der zum Kalten Kriege führte, seit Stalins Tod geändert hat oder nicht. Die Berliner Konferenz enthält darum den Schlüssel zu dem weiteren Geschehen. Ihren Ausgang voraussagen zu wollen, wäre müßiges Raten. Gewiss ist nur, dass das junge Jahr 1954 den Völkern und ihren Staatsmännern schon bald eine große Verantwortung auferlegen wird.

 

Quelle: Echo der Zeit vom 1. Januar 1954.