1. Januar 1959

Interview mit der Zeitschrift „Politisch-Soziale Korrespondenz"

Berlin und Deutschland - ein Ganzes! Der Bundeskanzler zum Thema der deutsch-sowjetischen Beziehungen

 

Frage: Herr Bundeskanzler, die NATO-Mächte haben auf der Pariser Konferenz in erfreulicher Einmütigkeit den Versuch der Sowjetunion zurückgewiesen, einseitig den Status Berlin zu ändern und die Freiheit Berlins zu bedrohen. Welche Folgerungen ziehen Sie aus der dadurch geschaffenen Situation?

Antwort: Die sowjetische Regierung hat mit ihren Berlin-Noten vom 27. November leichtfertig eine gefährliche Situation für den Weltfrieden heraufbeschworen, in denen sie - offenbar auf die Wankelmütigkeit des Westens spekulierend - ihren Willen bekundet hat, die in bezug auf Berlin bestehenden Viermächte-Vereinbarungen einseitig aufzuheben und damit die Bevölkerung Westberlins in ein abhängiges Verhältnis zur Sowjetunion und zum sowjetisch kontrollierten Regime der sogenannten „DDR" zu bringen. Im Interesse der Erhaltung des Friedens und der Sicherung der Freiheit für die Bevölkerung Westberlins begrüße ich mit tiefer Befriedigung, daß die Pariser Konferenz der NATO-Mächte erneut alle sowjetischen Spekulationen auf die Uneinigkeit des Westens zunichte gemacht hat. Die dort ge­faßten Entschlüsse dürften die sowjetische Regierung über die Entschlossenheit der freien Welt unter­richtet haben, für die Wahrung des Rechts und der Freiheit der Bevölkerung Westberlins einzutreten. Ich bin davon überzeugt, daß diese klare und entschlossene Haltung des Westens die sowjetische Regierung zu einer nochmaligen Überprüfung ihrer bisherigen Pläne, die offensichtlich von falschen Voraussetzungen ausgegangen sind, veranlassen wird.

Der Westen hat eine gemeinsame Position bezogen und wird selbst Initiativen entwickeln; dazu wollen wir gleichfalls unseren Beitrag leisten.

Die Bundesregierung wird, geleitet von dem Willen, alle auf die Aufrechterhaltung des Friedens gerichteten Maßnahmen zu fördern, die Vorschläge der Westmächte unterstützen, die in Auswirkung der jüngsten Pariser Beschlüsse bezüglich Berlins und der damit zusammenhängenden Probleme erwogen und unternommen werden, um die akuten weltpolitischen Probleme auf dem Boden des Rechts und in Anwendung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen einer dauerhaften und fried­lichen Lösung zuzuführen.

Ich hoffe zutiefst und möchte dabei auch an die politische Vernunft der sowjetischen Regierung appellieren, daß sich die Sowjetunion an diesen Bemühungen zur Sicherung des Friedens bereitwillig und ernsthaft beteiligen wird.

Frage: Es ist in den letzten Wochen in der Bundesrepublik, aber auch im Ausland, immer wieder die Forderung erhoben worden, die ultimative Erklärung Chruschtschows nicht mit einem einfachen „Nein", sondern mit „konstruktiven Gegenvorschlägen" zu beantworten. Wie denken Sie darüber?

Antwort: Ich habe eben dargelegt, daß das sowjetische Vorgehen gegenüber Berlin eine Bedrohung des Welt­friedens darstellt. Im Bewußtsein ihrer gemeinsamen Verantwortung für den Frieden der Welt haben die Mitgliedstaaten der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft es daher nicht bei der Unter­streichung ihrer gemeinsamen Verteidigungsbereitschaft bewenden lassen. Der NATO-Ministerrat hat darauf hingewiesen, daß die Berlin-Frage nur auf dem Wege der Lösung der Deutschland-Frage zu regeln ist. Er hat daran erinnert, daß die Westmächte sich wiederholt bereiterklärt haben, die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands ebenso wie die Fragen der europäischen Sicherheit und der Abrüstung zu prüfen. Er hat erklärt, daß er zu einer Diskussion aller dieser Fragen nach wie vor bereit ist. Hier sind ja - unter Ablehnung des Ultimatums Chruschtschows - „konstruktive Vorschläge" gemacht worden.

Die Voraussetzung für die Verwirklichung solcher Vorschläge ist aber immer die Bereitschaft des Verhandlungspartners zu einem wirklich konstruktiven Gespräch.

Unbeschadet aller weltanschaulichen und politischen Meinungsdifferenzen, die nun einmal zwischen der freien Welt und dem Kommunismus bestehen, rechne ich darauf, daß die sowjetische Regierung endlich die gleiche Verhandlungsbereitschaft zeigen wird, wie sie der Ministerrat der NATO gerade erst jetzt wieder in seinen Entschließungen vom 16. und 18. Dezember bekundet hat. Es ist ganz selbstverständlich, daß die Bundesregierung alle konstruktiven Vorschläge der Westmächte zur Überwindung der augenblicklichen Spannungen mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln unter­stützen wird. Sie weiß sich hierbei einig mit dem ganzen deutschen Volk.

Berlin und Deutschland - dies möchte ich hier noch einmal betonen - können auf Grund der nun einmal gegebenen politischen, nationalen und historischen Bedingungen nur als ein Ganzes gesehen werden. Eine dauerhafte Lösung des Berlin-Problems ist daher nur auf dem Wege der Wiedervereini­gung Deutschlands in Frieden und Freiheit denkbar.

Frage: Es wird immer die Forderung erhoben, der Westen, insbesondere die Bundesrepublik, müßte dem Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion entgegenkommen. Wie denken Sie darüber?

Antwort: Es ist nur recht und billig, wenn dem Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion in dem gleichen Maße Rechnung getragen wird wie dem Sicherheitsbedürfnis Deutschlands, der Westmächte und dem eines jeden anderen Staates auf dieser Welt.

Tatsächlich ist die Sowjetunion an keinem Teil ihrer Grenzen einer aggressiven militärischen Be­drohung ausgesetzt. Wenn sowjetische Politiker behaupten, daß die Sowjetunion bedroht sei, dann kann ich ihnen nur immer wieder mit voller Überzeugung sagen: Diese Behauptung ist unbegründet. Nehmen wir einmal das Beispiel der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft, die ja bekannter­maßen von der sowjetischen Regierung mit besonderer Vorliebe als Angriffsorganisation bezeichnet wird. Tatsächlich verhalten sich die Dinge so: Die westlichen Staaten hatten nach dem letzten Kriege weitgehend abgerüstet und ihre Produktion völlig auf den Friedensbedarf umgestellt. Der Beschluß gemeinsamer Verteidigungsmaßnahmen wurde erst gefaßt und durchgeführt, nachdem die Sowjetunion, die ja bekanntlich nach 1945 nicht abrüstete, den Beweis erbracht hat, daß friedliche kleine Nationen der freien Welt vor der gewaltsamen Einbeziehung in den sowjetischen Herrschaftsbereich nicht sicher sind. Die NATO wird sich an dem Tage als überflüssig erweisen, an dem die Sowjetunion ihren expansiven Drang ein für allemal sichtbar aufgibt, die Grundsätze der Völkerrechte beachtet und sich als ein friedliches Mitglied der Staatengemeinschaft erweist.

Ich möchte daher, auch auf die Gefahr hin, daß mich die sowjetische Presse - wie erst vor wenigen Tagen - wiederum mit beleidigenden Beschimpfungen überhäufen wird, ein besonderes Wort zu den ständig wiederholten, aber dennoch völlig unbegründeten Behauptungen der sowjetischen Regierung sagen, die Bundesregierung bedrohe mit ihren Verteidigungsmaßnahmen die Sowjetunion und die anderen Staaten des sowjetischen Satellitenreiches.

Hierzu stelle ich mit Nachdruck fest: Das, was an militärischen Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt wird, dient ausschließlich der Selbstverteidigung. In Übereinstimmung mit den politischen Grundsätzen und moralischen Werten, von denen unser Staat bestimmt und getragen ist, wird die Bundeswehr auf rein defensive Aufgaben vorbereitet. Ich wäre glücklich, wenn ich gleiches auch von dem Geist der sowjetischen Streitkräfte sagen könnte. Das deutsche Volk ist aber mit Recht darüber beunruhigt, daß die sowjetischen Soldaten als Instrument der expansiven sowjetischen Ideo­logie ausgebildet werden.

Das, was von sowjetischer Seite als „militaristische, revanchistische" Politik der Bundesregierung hingestellt wird, ist tatsächlich nichts anderes als das international anerkannte Recht des deutschen Volkes auf Wiederherstellung seiner staatlichen Einheit und der feste Wille, dieses Ziel mit aus­schließlich friedlichen Mitteln zu erreichen. Es ist geradezu grotesk, der Bundesrepublik, die wiederholt und feierlich auf die Anwendung von Gewalt als Mittel der Politik verzichtet hat, die Propagierung „einer aggressiven und eroberungssüchtigen Ostpolitik" vorzuwerfen. Den sowjetischen Politikern ist genau bekannt, daß die Bundesregierung sich mit aller Entschlossenheit für eine dauerhafte Lösung der Abrüstungsprobleme einsetzt. Ich kann mich daher des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich bei der sowjetischen Kampagne gegen die Bundesregierung um ein - ziemlich durchsichtigen Zwecken dienendes - Propaganda-Manöver handelt, das die tatsächlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik bewußt außer Acht läßt.

Meiner Ansicht nach läßt sich das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion letzten Endes nur befriedigen, wenn sie in eine durchgreifende Abrüstungspolitik, verbunden mit entsprechenden Sicherheitsmaß­nahmen, einwilligt. Eine solche Politik haben die Westmächte seit Jahren gefordert.

Frage: Wie beurteilen Sie unter diesen Umständen die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen?

Antwort: Die Bundesregierung hat sich beständig darum bemüht, die Beziehungen zur Sowjetunion nachhaltig zu verbessern. In diesem Sinne hat sie alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Lösung der aus Kriegs- und Nachkriegszeit herrührenden schwierigen politischen und psychologischen Probleme ausgenutzt. Ich bin entschlossen, auf diesem Wege auch in Zukunft voranzuschreiten. Dabei ist es ganz selbstverständlich, daß die Bundesregierung insbesondere alle von ihr eingegangenen Verpflichtungen getreulich erfüllt. Aus diesem Grunde setzt sich die Bundesregierung auch für einen baldigen Abschluß der parlamentarischen Behandlung der deutsch-sowjetischen Vereinbarungen auf dem Gebiet des Handels und der konsularischen Beziehungen vom 25. April d. J. ein. Die positiven Beiträge der Bundesrepublik zur Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen können aber nur dann die gewünschten Erfolge erzielen, wenn sich die sowjetische Regierung auch ihrerseits in ihrer Deutschland­politik von gleichen Zielsetzungen leiten läßt. Alle Verhandlungen über technische Fragen auf wirt­schaftlichem und kulturellem Gebiet können nur dann zu einer nachhaltigen Auflockerung unserer Beziehungen beitragen, wenn gleichzeitig an eine gerechte und wirklichkeitsnahe Lösung der zwischen beiden Völkern schwebenden großen politischen Fragen herangegangen wird. Ich kann nicht verhehlen, daß ich in dieser Beziehung von der bisherigen unrealistischen Einstellung der sowjetischen Regierung gegenüber dem nationalen Hauptanliegen des deutschen Volkes - dem seiner Wiedervereinigung in Frie­den und Freiheit - tief enttäuscht bin. Die Beziehungen zwischen unseren Völkern werden erst dann eine solide Basis erhalten, wenn die sowjetische Regierung den Willen des deutschen Volkes in dieser entscheidenden Lebensfrage respektiert. Ich glaube nicht, daß dieses Verlangen des deutschen Volkes etwas Ungerechtfertigtes ist. Im Gegenteil, wenn wir diese Grundforderung nicht ständig geltend machten, würden wir jede Achtung vor uns selbst und jede Achtung innerhalb der Völkergemeinschaft verlieren.

Daß die sowjetische Regierung noch nicht zu einer realistischen Beurteilung der Lage gekommen ist, zeigt uns zu meinem tiefen Bedauern immer wieder die Tatsache, daß völlig unsachliche und aus der Luft gegriffene Behauptungen über die Ziele unserer auf den Frieden gegründeten und auf dessen Erhaltung gerichteten Politik nahezu täglich von der sowjetischen Presse - und leider auch von amtlichen Stellen - verbreitet werden. Ich kann der sowjetischen Regierung nur mit allem Nachdruck versichern, daß sich die Bundesregierung und das deutsche Volk durch eine solche verleumderische Hetzpropaganda weder beeindrucken noch von der Forderung der Wiedervereinigung Deutschlands ab­bringen lassen werden. Der sowjetischen Regierung wird es nicht gelingen, sich durch propagandistische Ablenkungsmanöver ihrer Verantwortlichkeit für die Wiedervereinigung der deutschen Einheit zu entziehen. Es ist doch so, daß die Sowjetunion noch auf den Genfer Konferenzen des Jahres 1955 zusammen mit den drei Westmächten die feierliche völkerrechtliche und moralische Verpflichtung bestätigt hat, dem ganzen deutschen Volk die friedliche und demokratische Fortexistenz in einem gesamtdeutschen Staate zu gewähren. Bisher hat die sowjetische Regierung aber der Bevölkerung in dem auch heute noch von ihr beherrschten Gebiet Deutschlands keine Möglichkeit zur Äußerung ihres politischen Willens, zu freien Wahlen, gegeben. Darüber kann selbst die Rabulistik kommunistischer Ideologen nicht hinwegtäuschen.

Im übrigen bin ich davon überzeugt, daß, wenn einmal die Lebensfrage des deutschen Volkes im Einklang mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen gelöst ist, keine Hindernisse mehr für wirklich dauerhafte und gute Beziehungen zwischen den beiden Staaten und Völkern bestehen werden. Solange aber die sowjetische Regierung, wie sie es erst jetzt wieder in bezug auf Berlin getan hat, das Lebensrecht des deutschen Volkes um gewisser eigener Interessen willen mit Füßen tritt, wird eine solche Entwicklung unmöglich sein.

Frage: Was kann Ihrer Meinung nach geschehen, um die Zusammenarbeit der deutschen Parteien in der Wiedervereinigungsfrage zu fördern?

Antwort: Die einmütige Zustimmung aller deutschen Parteien zu den Berlin-Beschlüssen der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft ist sehr erfreulich; sie spiegelt die Entschlossenheit und Einmütigkeit des ganzen deutschen Volkes in dieser Schicksalsfrage zutreffend wider.

Das Ergebnis der Pariser Konferenz hat wieder einmal die Richtigkeit der bisherigen Politik der Bundesregierung bewiesen. Ich hoffe, daß wir auf der Grundlage dieser Einmütigkeit in der Berlin-Krise auch zu einer gemeinsamen Haltung der Regierungs- und Oppositionsparteien in den die Wieder­vereinigung Deutschlands betreffenden Fragen kommen werden. Angesichts der sowjetischen Haltung kann ich mir nicht vorstellen, daß irgend jemand ernsthaft glaubt, die Wiedervereinigung des deutschen Volkes in einem freien, demokratischen und friedlichen Staat anders als durch Beharrlichkeit, Geduld und Entschlossenheit erreichen zu können. Jedes Abweichen von diesen Grundsätzen wird von der sowjetischen Regierung zum Nachteil des deutschen Volkes ausgenutzt werden. Damit wird nicht nur die Wiedervereinigung gefährdet, sondern zugleich eine tödliche Gefahr für die gesamte freie Welt heraufbeschworen. Ich bin der Meinung, daß eine einmütige Haltung der deutschen Parteien in der Frage der Wiedervereinigung für die Erfüllung des menschlichen und politischen Hauptanliegens des deutschen Volkes von großem moralischem und politischein Wert sein würde.

 

Quelle: Politisch-Soziale Korrespondenz vom 01.01.1959, 8. Jg., Nr. 1, S. 3-5.