1. Januar 1960

Interview mit der Zeitschrift "Politisch-Soziale Korrespondenz"

Der Westen ist einig

 

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie kommen mit frischen Eindrücken von einem Treffen mit den politischen Führern unserer westlichen Verbündeten, mit denen Sie die Vorbereitung der bevorstehenden Verhandlungen und Konferenzen des Jahres 1960 besprochen haben. Würden Sie uns ein Wort über Ihre Beurteilung der allgemeinen politischen Lage und über Ihre Erwartungen für die Verhandlungen des kommenden Jahres sagen?

Antwort: Die Eindrücke, die ich in Paris gewonnen habe, haben mich in der Überzeugung bestärkt, daß wir mit gutem Mut und vollem Vertrauen in das neue Jahr gehen können. Der Westen ist einig, die Pariser Besprechungen haben erneut die innere Kraft der westlichen Gemeinschaft erkennen lassen. Ich bin stets beeindruckt von der Tatsache, daß dieses Bündnis freier Nationen, in dem seiner Natur nach Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen unvermeidlich sind, in immer stärkerem Maße zu einer Einheit geworden ist. Sie ist entschlossen, die bestehenden großen Schwierigkeiten und Probleme in der Welt entschlossen und wirksam anzupacken. Ich begrüße den in Paris gefaßten Entschluß, Herrn Chruschtschow zu einer "Gipfelkonferenz" einzuladen. Auf dieser Konferenz wird es sich endgültig zeigen - darüber waren wir uns in Paris einig -, welches die Absichten der sowjetischen Regierung sind, ob sie wirklich eine Entspannung will oder nicht. Ich hoffe vor allem, daß Herr Chruschtschow endlich seine Zustimmung zur Schaffung der Voraussetzungen für eine durchgreifende kontrollierte Abrüstung geben wird; und ich hoffe, daß er endlich erkennt, wie fest der Wille der westlichen Verbündeten ist, keinen Schritt zuzulassen, der die Freiheit Berlins auch nur im geringsten erschüttern könnte. In Paris bestand völlige Einigkeit darüber, daß an den Beschlüssen der Pariser Außenminister-Konferenz und des Nordatlantik-Rats vom Dezember 1958 festgehalten wird. Ich hatte das nicht anders erwartet. Aber es ist doch nützlich, immer wieder daran zu erinnern, daß die Regierungen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika entschlossen sind, ihre Position und ihre Rechte in bezug auf Berlin und das Recht auf freien Zugang dorthin zu wahren. Es ist nützlich, wenn an die vom NATO-Rat übernommene Verantwortung erinnert wird, die jeder Mitgliedsstaat der NATO in bezug auf die Sicherheit und Wohlfahrt Berlins und die Aufrechterhaltung der Position der drei Mächte in dieser Stadt übernommen hat, und an die Auffassung des NATO-Rats, die Berliner Frage könne nur im Rahmen eines Abkommens mit der Sowjetunion über die gesamte Deutschlandfrage endgültig geregelt werden.

Die Westmächte gehen an diese Verhandlungen, die für das Schicksal der Welt von so großer Bedeutung sind, mit Festigkeit und Wachsamkeit heran, aber auch mit dem Willen, alles in ihren Kräften Liegende zu tun, um die Voraussetzungen für eine Entspannung und für die Schaffung einer tragfähigen internationalen Ordnung herbeizuführen.

Frage: Die sowjetische Propaganda hat in den letzten Wochen mit besonderer Intensität behauptet, die Bundesregierung sei an einer Fortsetzung des "Kalten Krieges" interessiert, sie versuche in jeder Weise, die Schaffung der Voraussetzungen für eine Entspannung und einen echten Frieden zu verhindern, ihr Hauptziel sehe sie in der Aufrüstung der Bundesrepublik. Würden Sie, Herr Bundeskanzler, dazu etwas sagen?

Antwort: Was die Frage der deutschen Aufrüstung anbetrifft: Die Bundesregierung betrachtet die Bewaffnung der Bundesrepublik einzig und allein als selbstverständliche Verpflichtung, ihren Beitrag zur Verteidigung der freien Welt zu leisten. Der Aufbau der Bundeswehr ist ja doch nicht ein Privatwunsch der Bundesregierung, die damit nationale Ziele des deutschen Volkes fördern wollte, sondern der Wunsch der freien Welt, in deren Gemeinschaft sich die Bundesrepublik hineingestellt hat. Die Bundesregierung wäre froh, wenn durch ein Abkommen, das - durch umfassende kontrollierte Abrüstung der atomaren und konventionellen Waffen - die Sicherheit für die freie Welt ebenso wie für die Staaten des Ostens schaffen würde, ein radikaler Abbau der Rüstung erfolgen könnte. Die Sowjetregierung weiß, daß sie nur den Voraussetzungen für eine solche Abrüstung zuzustimmen braucht, um damit auch die Abrüstung der Bundesrepublik herbeizuführen.

Zur Frage des "Kalten Krieges" muß ich sagen: Was versteht der Osten unter Fortsetzung des "Kalten Krieges"? Offenbar Fortdauer der Infiltration und der Unterminierung der freien Welt. Nur dagegen setzen wir uns allerdings mit aller Kraft zur Wehr.

Frage: Wie beurteilen Sie, Herr Bundeskanzler, unter diesen Umständen die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen im kommenden Jahr?

Antwort: Ich muß zunächst an die Feststellung erinnern, die Sie eben in Ihrer Frage getroffen haben. Natürlich ist es unter den Bedingungen einer Propaganda, die man nur noch als Hetze bezeichnen kann, schwer, an der Herbeiführung besserer Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten zu arbeiten, wie dies doch notwendig ist. Darüber hinaus brauche ich nicht besonders zu erläutern, daß niemals ein wirklich gutes, völlig entspanntes Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion möglich ist, solange diese sich weigert, den Menschen des von ihr beherrschten Teils Deutschlands das Recht zu geben, frei ihre Entscheidung darüber zu treffen, unter welcher sozialer Ordnung sie leben wollen - obwohl das Recht auf diese Entscheidung doch immer wieder von Herrn Chruschtschow proklamiert worden ist. Trotzdem werden wir im kommenden Jahre unsere Bemühungen fortsetzen, das Verhältnis zwischen unseren beiden Staaten auf allen Gebieten, wo es nur irgend möglich ist, zu verbessern.

Frage: Die entscheidende Grundlage für die Entwicklung der Weltpolitik scheint uns in der Herausforderung Chruschtschows an die freie Welt zu einem "friedlichen Wettbewerb" zu liegen, der nach seiner wiederholt ausgesprochenen Überzeugung mit dem totalen Endsieg der kommunistischen Gesellschaftsordnung über die westliche Gesellschaftsordnung enden wird. Hat die freie Welt nach Ihrer Auffassung diese Herausforderung zu fürchten?

Antwort: Präsident Eisenhower hat kürzlich in Indien das Wort Gandhis zitiert: "Freiheit ist ein Geschenk Gottes, und Gottes Gaben können seinen Kindern nicht ewig vorenthalten werden." Er hat sich zu dem Glauben bekannt, daß die Freiheit schließlich überall gewonnen werde. Der Hunger nach ihr, so hat er gesagt, sei viel zu tief in der menschlichen Natur verankert, als daß er durch erdachte Definitionen oder von Menschen ersonnene Philosophien herausgerissen werden könnte. Ich meine, wir sollten dieser Überzeugung von der Siegeskraft der Freiheit viel stärker Ausdruck geben, als dies bisher geschehen ist. Wir sollten viel stärker unseren Glauben daran betonen, daß die Enkel der heutigen kommunistischen Führer freie Menschen sein werden.

Wir haben vor der Herausforderung durch den Kommunismus, wie sie durch Herrn Chruschtschow immer wieder ausgesprochen wird, nicht die geringste Angst. Die Tatsache, daß es der in einem totalitären System möglichen Konzentration aller Kräfte gelungen ist, so hervorragende technische Leistungen wie die "Sputniks" hervorzubringen, ist für uns noch kein Beweis für die Überlegenheit des kommunistischen Gesellschaftssystems. Aber wenn es dem Kommunismus gelingt, die Produktion und Verteilung der Gebrauchsgüter im Ostblock so zu steigern, daß der Lebensstandard des Westens eingeholt wird - wobei ich offen gestehe, daß ich von einer solchen Entwicklung noch nicht überzeugt bin -, so würde das uns im Interesse der Menschen des Ostens nur freuen, und es wäre für uns keinerlei Grund zur Sorge. Im Gegenteil glaube ich, daß ein Leben ohne die materiellen Sorgen, die heute noch die Menschen des Ostens bedrücken, die heute schon sichtbaren Tendenzen und Wünsche (im Osten) fördern würde, endlich auch ein Leben frei vom seelischen Druck, von Zwang und Unfreiheit führen zu können. Auf keinen Fall würde eine solche Entwicklung die Neigung der Menschen des Westens steigern, sich nun des Lebensstils, der durch Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde bestimmt ist, zu entledigen und einem System zu unterwerfen, in dem man nicht frei atmen kann, einem System noch dazu, dessen theoretische Voraussetzungen durch die Entwicklung längst überholt sind und das man nur als reaktionär bezeichnen kann. Nein, wir fürchten diesen Wettbewerb nicht. Wenn wir nur verhindern können, daß wir durch äußere Mittel um unsere Freiheit gebracht werden, dann - davon sind wir fest überzeugt - werden eines Tages die Menschen der ganzen Welt wieder frei sein.

Frage: Das Satellitenregime in der sowjetischen Besatzungszone ist seit Jahr und Tag, in letzter Zeit in ständig steigendem Ausmaß bemüht, die Bundesregierung zu diskreditieren. Zu diesem Zweck betreiben die Pankower Kommunisten eine umfangreiche Infiltrations- und Zersetzungstätigkeit, über deren Methoden die westdeutsche Öffentlichkeit hin und wieder durch Prozeßberichte sowie durch Verlautbarungen der zuständigen staatlichen Stellen informiert wird. Messen Sie, Herr Bundeskanzler, diesen kommunistischen Versuchen, die bestehende Ordnung in Westdeutschland zu untergraben, erhöhte Bedeutung bei, und erblicken Sie darin eine ernsthafte Bedrohung?

Antwort: Wer die politische Strategie und Taktik des Weltkommunismus - von dem das Pankower Regime einen leider nicht unwesentlichen Bestandteil darstellt - auch nur einigermaßen kennt, wird den Infiltrations- und Diversionsaktionen der mitteldeutschen Machthaber die dringend erforderliche Aufmerksamkeit schenken müssen. Das geschieht! In den von uns in der Bundesrepublik getroffenen und laufend zur Durchführung gelangenden Maßnahmen spiegelt sich indes - das möchte ich nachdrücklich unterstreichen - nicht etwa "Angst" vor einer bedrohlichen Situation wider, wie man es hier und da hören kann. Diese Maßnahmen sind die logische Konsequenz einer vom rechtsstaatlichen Denken getragenen Staatsführung, deren Pflicht es ist, Staatsfeinden und Attentätern auf die bestehende Ordnung mit den gebotenen Mitteln zu begegnen. Von diesem Bestreben lassen wir uns auch in Zukunft von keinem noch so massiven Angriff aus östlicher Richtung abhalten. Wir wissen, daß wir in unserer Haltung durch die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung der Bundesrepublik, aber sicher auch der von den Sowjets beherrschten Zone, bestätigt werden, und wir sind überzeugt davon, damit einen notwendigen Beitrag zur Erhaltung der freiheitlichen Ordnung in der westlichen Welt schlechthin zu leisten.

Frage: Herr Bundeskanzler, im Arbeitsprogramm des Bundestages für das neue Jahr steht eine Reihe äußerst wichtiger sozialpolitischer Vorlagen, die auf Gesetzentwürfe der Bundesregierung zurückgehen. Welches der hier angeschnittenen Probleme halten Sie für das wichtigste?

Antwort: Die Sozialpolitik der Bundesregierung muß als ein einheitliches Ganzes gesehen werden. Unsere Menschen sollen Arbeit haben bei einem gerechten Einkommen, sie sollen Eigentum erwerben, sie sollen mit ihren Familien menschenwürdig und familiengerecht wohnen und sie sollen auch den Tagen der Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit, Alter oder Invalidität ohne Sorge entgegensehen. Wenn man dieses Programm vor Augen hat, erkennt man, daß die verschiedenen Entwürfe der Verwirklichung eines gemeinsamen Zieles dienen: Bundesbaugesetz, soziales Mietrecht, Reform der Krankenversicherung usw. sind alles Vorhaben, die der Verwirklichung des sozialen Rechtsstaates dienen. Es sollte anerkannt werden, daß wir dabei vielfach von neuen Vorstellungen ausgehen, die der Situation entsprechen, wie sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts gegeben ist. Kritik an diesen Entwürfen steht jedermann frei, nur sollte man ehrlicherweise auch die vielfachen Verbesserungen anerkennen, wie sie z.B. gerade der Entwurf zur Reform der Krankenversicherung bringt.

Frage: Erwarten Sie im neuen Jahr beträchtliche Preis- und Lohnerhöhungen?

Antwort: Ich hoffe zuversichtlich, daß die Entwicklung in normalen Bahnen und im Zeichen des Maßhaltens auf allen Seiten vor sich gehen wird. Höhere Preise und höhere Löhne sind dann geradezu unsinnig, wenn sie wiederum höhere Preise auslösen. Wenn es für die Stabilität unserer Währung und unserer Wirtschaft gegenwärtig überhaupt eine Gefahr gibt, dann sehe ich sie in unvernünftigen, unbeherrschten und deshalb ungerechtfertigten Preis- und Lohnerhöhungen. Wer die Stabilität gefährdet, bedroht unseren wirtschaftlichen und finanziellen Lebensnerv.

Frage: Teilen Sie die gewiß erfreuliche Auffassung, daß der "Rundfunkkrieg" zwischen Bund und Ländern nicht stattfinden wird?

Antwort: Ich teile diese Hoffnung und werde es begrüßen, wenn zwischen dem Bund und den Ländern in der Rundfunkfrage ein Übereinkommen getroffen worden ist. Das tue ich einmal der Sache wegen, um die es geht, dann aber auch, weil das Hauptopfer solcher Kämpfe und Auseinandersetzungen die föderalistische Idee würde, die neben der Verfassung ein wichtiger Grundpfeiler unserer Demokratie ist.

 

Quelle: Politisch-Soziale Korrespondenz vom 01.01.1960, 9. Jg., Nr. 1, S. 3f.