1. Oktober 1975

Interview von Kurt-Georg Kiesinger mit Eberhard Pikart über Konrad Adenauer

Frage: In Ihrem persönlichen und politischen Leben hat Konrad Adenauer eine gewiß entscheidende Rolle gespielt. Wann sind Sie ihm erstmals begegnet?

Antwort: Etwa 1930 sah ich ihn zum ersten Mal. Ich war in Berlin Mitglied einer katholischen Studentenverbindung, die gelegentlich Parlamentarierabende veranstaltete. Er erschien eines Abends - uneingeladen, offenbar fehlinformiert. Er kam, nahm Platz, sprach nicht. Wir kannten ihn natürlich alle, den Oberbürgermeister von Köln und Präsidenten des Preußischen Staatsrates. Nach geraumer Weile verabschiedete er sich stumm. Ich war tief beeindruckt. Es war dieselbe fesselnde Präsenz seiner starken Persönlichkeit, die mich faszinierte, wie später so oft. 1948 sah ich ihn dann wieder, bei einem Treffen von CDU-Politikern in Königstein. Da waren Jakob Kaiser, Hermann Pünder, Erich Köhler und viele andere - bereit und willens, politische Verantwortung im zerschlagenen Deutschland zu übernehmen. Er war aber auch hier die stärkste Persönlichkeit.

Frage: Sie sind dann sehr bald nach der Gründung der Bundesrepublik in seine Nähe geraten. Wie kam diese Verbindung zustande?

Antwort: Er hörte eine Rede von mir auf einer Veranstaltung der Jungen Union im Spätjahr 1949 und auch meine Jungfernrede im Bundestag schien ihm zu gefallen. Er machte mich jedenfalls sehr bald zum Redner seiner Sache im Bundestag. Sie müssen wissen, daß ich ohne jede politische Erfahrung 1949 nach Bonn kam. Was ich hatte, war die Erfahrung des Schicksals unseres Volkes. Das Ende des Kaiserreiches, das Scheitern der Weimarer Republik, das Verhängnis des Nationalsozialismus, das Ende des Zweiten Weltkriegs, das ungeheure Elend, das über Deutschland gekommen war. Wir wagten nicht zu hoffen, daß sich Deutschland von all dem würde je erholen können. Deutschland lag doch nicht allein materiell darnieder, es war vor allem moralisch zusammengebrochen. Und da war Adenauer - völlig ungebrochen, entschlossen, Deutschland wieder aufzurichten. Mit schlafwandlerischer Sicherheit erkannte er, worauf es zu dieser Stunde ankam. Da konnten wir uns um ihn scharen. Es war die Würde, die ihn auszeichnete und die uns einen Halt gab. Denken Sie an das berühmte Bild mit dem Teppich am 21. September 1949 mit den Hohen Kommissaren auf dem Petersberg.

Adenauer ergriff die gebotene Chance. Und da muß ich auf das zu sprechen kommen, was ihn wie alle wirklich Großen der Geschichte auszeichnet. Das Zusammentreffen einer starken Persönlichkeit mit der geschichtlichen Situation, an der er sich bewähren kann. Diese im goetheschen Sinne große Konstellation war mir sichtbar und prägte mein Verhältnis zu Adenauer, ohne daß ich in eine Abhängigkeit blinder Verehrung geraten bin, wie manche in seiner Umgebung.

Frage: Aber es ist nie ein einzelner allein, der Geschichte machen kann. Hatte Konrad Adenauer nicht auch Glück mit den Menschen, die sich mit ihm in der politischen Verantwortung teilten?

Antwort: Ja, Glück ist das richtige Wort, Da war Ludwig Erhard. Die Durchsetzung seiner wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzeption war für Adenauers Erfolg von ganz entscheidender Bedeutung. Da war Globke, dieses administrative Genie. Da waren Hallstein und Blankenhorn. Das Niveau der Beamten im Palais Schaumburg war außergewöhnlich; zu Erhards, zu meiner und meiner sozialdemokratischen Nachfolger Zeit wurde es nicht mehr erreicht. Da war Heinrich von Brentano, der vor allem auch ein bedeutender Fraktionsführer war. Gab es einen besseren Pressechef als Felix von Eckardt? Heinrich Krone muß ich hier erwähnen. Da war aber auch Theodor Heuss. Da waren die großen Partner gegenüber: Charles de Gaulle, John Foster Dulles, Winston Churchill, Robert Schuman, Alcide de Gasperi, auch Kennedy, Eisenhower und - wenn man will - auch Chruschtschow. Welch eine Fülle von Persönlichkeiten.

Frage: Es gab aber auch Gegner. Vor allem in der Bundesrepublik selbst. War er nicht unerbittlich und auch ungerecht gegenüber den Sozialdemokraten zum Beispiel?

Antwort: Man muß da unterscheiden. Zum Beispiel das Verhältnis zu Kurt Schumacher. Das war nicht nur bestimmt vom Gegensatz der politischen Konzeption, sondern auch einfach vom Kampf um die Macht. Man muß genau unterscheiden: wo ging es um die Sache und nichts sonst, und wo ging es um die Macht. Nehmen wir den Fall Wehner. In meiner Fraktion gab es immer wieder Leute, die sagten, der sei Kommunist und so weiter. Das war Adenauer völlig egal. Wehner tat ihm den Gefallen, sich als Negativ-Figur zu präsentieren. Das hieß für Adenauer: Großartig, jetzt haben wir einen. Jetzt schlagen wir los. Vielleicht gehört das zum Geschäft des Politikers. Ich habe das nie mitgemacht. Vielleicht muß man in der Politik unbarmherzig sein. Aber bei mir ist da die Grenze.

Es kommt darauf an, in welchen Dienst man auch seine Methoden stellt. Adenauer war da sehr konsequent. Denken Sie daran, was Malraux über de Gaulle geschrieben hat: De Gaulle habe eine einzige Grundüberzeugung, die Größe Frankreichs nämlich. Bei Adenauer war dies das christliche Abendland. Ich weiß, dies ist ein abgegriffener Begriff. Aber Adenauer war es damit ernst. Dafür nahm er vieles in Kauf.

Frage: Bestimmte dieses Anliegen sein Verhältnis zum Kommunismus, zur Sowjetunion?

Antwort: Im Kommunismus sah er eine wirkliche Gefährdung. Auch im Sozialismus sah er etwas, das aufgesogen werden könnte vom Kommunismus. Das macht sein Verhältnis zu Kurt Schumacher so interessant: Der war gegen den Kommunismus und dennoch für Adenauer so suspekt.

Frage: Bevor Sie 1958 nach Stuttgart gingen, um Ministerpräsident in Baden-Württemberg zu werden, galten Sie als einer der engsten Gefolgsmänner von Konrad Adenauer. Sie bestritten für ihn die großen außenpolitischen Debatten im Bundestag. Wie kam es zu dieser Übereinstimmung?

Antwort: Der Konsensus war einfach von Anfang an da. Kaum eine meiner Reden im Bundestag habe ich mit ihm abgestimmt. Andererseits gab es auch Gegensätze: Ich erinnere mich, als ich eine gemeinsame Außenpolitik - gemeinsam zu tragen und zu verantworten von allen im Parlament vertretenen Parteien - forderte, da geriet ich heftig mit ihm auseinander.

Frage: Als Sie nun Bundeskanzler wurden, seine Nachfolge antraten, fühlten Sie sich da als Fortsetzer seiner Politik oder sahen Sie sich im Gegensatz zu seinen Zielen?

Antwort: Als ich 1966 Bundeskanzler wurde, galt es ja ein Unglück für die Adenauersche Politik abzuwenden. Dies gelang auch. Ich war damals mit ihm in voller Übereinstimmung, von Nuancen im Einzelnen abgesehen. Seine Sorge galt dem deutsch-französischen Verhältnis, der Zukunft Europas. Ich fühlte mich seinem Erbe verpflichtet und habe versucht in diesem Sinne zu wirken.

Frage: Wie würden Sie Konrad Adenauer aus der Sicht des Weggefährten zu charakterisieren versuchen?

Antwort: Mit einem Zitat von Leopold von Ranke. „Große Männer schaffen ihre Zeiten nicht, aber sie werden auch nicht von ihnen geschaffen. Es sind orginale Geister, die in den Kampf der Ideen selbständig eingreifen, die mächtigsten derselben, auf denen die Zukunft beruht, zusammenfassen, sie fördern und durch sie gefördert werden.“ Konrad Adenauer gehört zu diesen Großen. 

Quelle: Konrad Adenauer 1876-1976. Hg. von Helmut Kohl in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Stuttgart-Zürich 1976, S. 86-88.