10. April 1951

Paris ist ein Anfang

Am Vorabend der Außenministerkonferenz der Schuman-Plan-Länder

Von Dr. Konrad Adenauer, Bundeskanzler und Bundesminister des Äußeren

 

Die Geschichte des Abendlandes ist die Geschichte der alten Völker, die in jahrhundertelangen Kämpfen und in großen geistigen Auseinandersetzungen das Gesicht unseres Kontinents geformt haben. Deutschland und Frankreich haben jedes für sich allein und in ihren Beziehungen untereinander ein gut Teil dessen, was heute Europa an überkommenen Werten, an materiellem Bestand und an zukunftsfrohen Plänen besitzt, in schöpferischer Arbeit hervorgebracht.

Dennoch gibt es keine traditionelle Freundschaft zwischen den beiden Ländern. Im Gegenteil, man spricht von der klassischen Gegnerschaft zwischen ihnen. Sicher ist aber, dass beide Völker sich in ihren Gedanken und Taten unablässig miteinander beschäftigen, dass sie sich gesucht haben. So ist aus einer Vertrautheit, die oft aus einer alten Rivalität erwächst, eine gegenseitige Achtung, ja, eine gewisse Zuneigung entstanden. Heute ist der Streit sinnlos geworden.

Bereits nach dem ersten Weltkrieg fühlten die geistig Wachen in ganz Europa, dass die Zeit des Nationalismus vorüber war, und dass er zu einer geistigen Erstarrung geführt hatte, die vor allem die Jugend unbefriedigt ließ. Die Überzeugung, dass Kriege in Europa Bruderkriege sind, begann schon damals in das Bewusstsein der breiten Massen einzudringen. Diese Entwicklung bot zwei großen europäischen Staatsmännern, Briand und Stresemann, die Möglichkeit, einen ersten Schritt zu einem deutsch-französischen Ausgleich zu tun.

Beide Männer waren der Überzeugung, dass es in erster Linie darauf ankam, Deutschland und Frankreich miteinander auszusöhnen, wenn man den inneren Frieden in Europa finden wollte. Dass die Bemühungen der beiden Staatsmänner nicht von Erfolg gekrönt waren, lag daran, dass in beiden Lagern die politischen Kräfte, die sich von überalterten nationalistischen Ideen leiten ließen, noch zu mächtig waren. Vor allem konnte das Problem der Sicherheit für beide Völker nicht gelöst werden.

Wir dürfen nicht vergessen und sollten uns gerade in diesen Tagen vor Augen halten, dass die nationalsozialistische Gewaltpolitik den Gedanken des neuen Europa für ihre unsittlichen Zwecke missbraucht hat, und dass das Verlangen beider Völker nach Sicherheit ein moralisch wie sachlich legitimer Anspruch ist. Auf der anderen Seite ist unbestreitbar, dass Deutschland die geistige Haltung des umstellten und in die Enge getriebenen Mannes, die zu unserem Unglück so oft seine außenpolitische Aktivität geleitet hat, nur verlieren kann, wenn es die sichere Überzeugung gewinnt, dass es als vertrauenswürdiger und willkommener Partner angesehen wird.

Die alte politische Struktur Europas war nicht dazu angetan, eine Lösung für die Probleme des deutsch-französischen Ausgleichs zu ermöglichen. Sie lässt sich nach allen Erfahrungen auf der Ebene des Nationalstaates etwa in einem herkömmlichen zweiseitigen Vertrage anscheinend überhaupt nicht verwirklichen. Deutschland und Frankreich müssen sich deshalb auf höherer Ebene bewegen, d. h. sie müssen beide die für alle gleichen Gesetze eines europäischen Bundes anerkennen.

Basierend auf dieser Erkenntnis haben wir nach den tiefen Erschütterungen des zweiten Weltkrieges und im Angesicht der neuen Gefahr aus dem Osten gemeinsam mit weitblickenden Franzosen versucht, den Gedanken der europäischen Föderation in die Tat umzusetzen. Es ist klar, dass solch ein gewaltiges Unterfangen nur Schritt für Schritt zum Erfolg gebracht werden kann. Wir sind im Straßburger Rat, weil andere nur zögernd und vorsichtig den neuen Weg beschreiten wollen, nicht so schnell vorangekommen, wie wir es uns gewünscht hätten.

Der französische Außenminister, Robert Schuman, und Monsieur Jean Monnet haben in richtiger Würdigung der Tatsache, dass wir im Hinblick auf die dramatische Entwicklung der internationalen Lage keine Zeit zu verlieren haben, die Initiative zu einem Werk ergriffen, das, wenn es gelingt, mit Notwendigkeit zu einem auf freier Zustimmung gegründeten Zusammenschluss der europäischen Völker führen wird. Dieses Werk ist der Schuman-Plan.

Ich sehe in ihm einen Grundstein zum Gebäude eines europäischen Bundes, und deshalb wird die Reise nach Paris nicht ein Abschluss, sondern ein Beginn sein. Es gilt weiterzuarbeiten, und daher wenden sich Frankreich und Deutschland bereits jetzt neuen Aufgaben zu. Wenn beide Völker ihre ganze Kraft auf das große Ziel des europäischen Bundes richten, dann werden sie Europa den inneren und äußeren Frieden geben.

 

Quelle: Die Welt vom 10. April 1951.