10. Dezember 1946

Brief an Paul Silverberg, Lugano

Paul Silverberg (1876-1959), Dr. jur., rheinischer Braun­kohlen-Industrieller, 1908-1926 Vorstandsvorsitzender der Rheinischen AG für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation, 1919-1933 Präsidiumsmitglied des Reichs­verbandes der Deutschen Industrie, 1934 in die Schweiz emi­griert.

 

Lieber Herr Silverberg!

 

Erst jetzt komme ich nach vielen Monaten dazu, meine Privatkorrespondenz langsam aufzuarbeiten. Dass Sie einer der Ersten sind, an die ich schreibe, versteht sich von selbst.

Während der vergangenen 10 Monate habe ich für unsere Partei soviel arbeiten und soviel reisen müssen, dass ich mehr in Anspruch genommen war als in den schlimmsten Zeiten meiner früheren Tätigkeit. Wir haben bei den Wahlen, wie Sie wissen werden, einen sehr guten Erfolg gehabt. Die entscheidenden Wahlen werden aber am 30. März 1947 sein, wenn in der britischen Zone die Landtage gewählt werden. Da Ihnen die gesamte auslän­dische Presse zur Verfügung steht, werden Sie über die Verhältnisse hier genügend unterrichtet sein. Ich möchte nur eines all dem, was in den Zeitungen geschrieben wird, hinzufügen:

Die Entscheidung über das zukünftige Geschick Deutsch­lands fällt in der britischen Zone und innerhalb der briti­schen Zone in dem Lande Nordrhein-Westfalen. Wir sind in diesem Lande die stärkste Partei, und wir werden es hoffentlich auch nach den Landtagswahlen vom 30. März 1947 sein. Sie können demnach ahnen, welche Verantwor­tung auf allen denjenigen lastet, die an der Führung der Partei beteiligt sind. Sie wissen, dass unsere Partei eine neue Partei ist. Sie musste zunächst Menschen verschiede­ner politischer Ansichten und der verschiedenen Konfes­sionen zu einer Einheit zusammenführen. Sie musste eine neue Organisation aufbauen. Das alles musste geschehen in einer Zeit der äußersten Nahrungsmittelknappheit und der größten Wohnungsnot. Dass nach 12 Jahren National­sozialismus, einem solchen Kriege und all der Not, die seit dem Zusammenbruch über das deutsche Volk hereinge­brochen ist, die Mehrheit des deutschen Volkes sich nicht radikalen Parteien zugewendet hat, spricht sehr stark für die guten Eigenschaften, die im deutschen Volke doch noch vorhanden sind. Ich bin überzeugt davon, wenn wir das tiefe Tal, in dem wir uns befinden (Hunger, Krank­heiten, Kälte, Wohnungsnot, Mangel an Kleidung und Schuhwerk), glücklich überstehen, so wird das deutsche Volk geläutert, aber auch gestärkt aus dieser Prüfung hervorgehen und mit Recht Anwartschaft erheben darauf, in Europa und in der Welt geistig wieder mitsprechen zu können.

Ich hoffe, dass der größte Teil des deutschen Volkes diesen Winter übersteht. Aber die Verhältnisse sind sehr ernst und sehr traurig. Namentlich die Tuberkulose greift in ent­setzlicher Weise um sich, und sie macht vor niemandem halt. Standesunterschiede gibt es dabei nicht. Sie sind ja überhaupt im heutigen Deutschland fast verschwunden. Es gibt nur einen Unterschied noch, und zwar ist das, ob man Selbstversorger ist oder nicht. Natürlich haben an Textilien die früher besser Gestellten, soweit sie nicht aus­gebombt sind, größere Reserven; das ist aber auch das ein­zige Plus, das sie noch haben.

Ich schrieb Ihnen seinerzeit, wenigstens für einige Zeit zurückzukommen, um mitzuhelfen, Ihr Lebenswerk wie­der aufzurichten. Es ist gut, dass Sie diesem Rate keine Folge geleistet haben. Sie werden wissen, wie es um alles das steht. Auch Sie hätten daran nichts ändern können. Lassen Sie mich einiges von meiner Familie erzählen:

Meine Frau hat sich seinerzeit im Gefängnis in Brauweiler eine sehr schwere Knochenmarkerkrankung zugezogen, die zur Folge hat, dass sie nicht genügend Abwehrstoffe bilden kann, wenn sie krank wird. Sie hat vor 2 Monaten nach einer starken Grippe eine sehr schwere Lungenentzündung gehabt, und der Arzt hatte sie aufgegeben. Sie ist aber durch Penicillin gerettet worden. Sie befindet sich auf dem Wege langsamer Genesung. Sie muss sich sehr scho­nen und vor allem eiweißreiche Kräftigungsmittel haben, die uns natürlich nicht zur Verfügung stehen. [...]

Mit der Deutschen Bank bin ich noch keinen Schritt wei­tergekommen, trotz der Erklärung, die Sie abgegeben haben. Herr Rath hat sich die größte Mühe gegeben, aber die jetzt leitenden Herren in Hamburg verhalten sich ablehnend. Ich selbst habe bisher nicht die Zeit gefunden, mich um diese Angelegenheit zu bekümmern. Ich werde es aber jetzt tun müssen. Man muss daran denken, dass einigermaßen für Frau und Kinder gesorgt ist, wenn man selbst heute oder morgen sterben soll.

Ich weiß nicht, ob es Ihnen möglich sein wird, uns wie­derum ein Paket zu schicken. Wenn es der Fall sein sollte, so wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie namentlich an Kräf­tigungsmittel für meine Frau und Georg denken würden und für mich an Kaffee, insbesondere „Nescafé". Ich führe ihn auf meinen zahlreichen Reisen immer mit mir. Er gibt mir die nötige Frische bei den vielen Versammlungen und Konferenzen, denen ich vorsitzen muss. Sie unterstützen damit indirekt auch die CDU, deren Ziele Ihnen sicher sympathisch sind!

Die Verhältnisse sind jetzt auf allen Gebieten unendlich viel schwieriger als im Jahre 1918. Ich erinnere mich noch genau, mit welchem Erfolg Sie damals mit den Sozial­demokraten zusammengearbeitet haben. Ob das jetzt wie­derum möglich sein würde, ist mir sehr zweifelhaft. Herr Dr. Schumacher, der Führer der SPD, ist ein sehr fanati­scher Parteipolitiker.

Ich wünsche Ihnen zu Weihnachten und zu Neujahr alles Gute, und meine Frau schließt sich diesen, meinen Wün­schen herzlich an. Ich weiß, dass Sie sehr einsam sind, aber ich glaube Ihnen sagen zu dürfen, dass Sie es doch besser haben dort, als wenn Sie jetzt hier lebten. Unser Alter fällt eben in eine sehr böse Zeit hinein.

Wir grüßen Sie herzlichst, wie immer

 

Ihr

(Adenauer)

 

Quelle: Konrad Adenauer: Briefe über Deutschland 1945-1955. Eingeleitet und ausgewählt von Hans Peter Mensing aus der Rhöndorfer Ausgabe der Briefe. München 1999, S. 56-59.