10. Mai 1954

Deutschland als Teil Europas

Ein Artikel des Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer in der amerikanischen Zeitschrift "Life"

Als ich zum ersten Mal davon erfuhr, dass die Herausgeber der amerikanischen Zeitschrift "Life" eine Sondernummer über Deutschland vorzubereiten und den Versuch unternahmen, selbst in ihrem notwendigerweise beschränkten Rahmen von einigen Dutzend Seiten dem amerikanischen Volk gewisse Aspekte meines Landes näherzubringen, war ich davon tief gerührt. Denn in diesen spannungsgeladenen Zeiten, wo sich die Vereinigten Staaten und Deutschland nach einer langen Periode kriegerischer Auseinandersetzungen und aufgezwungener Missverständnisse angesichts einer gemeinsamen Gefahr, bei der es um Sein oder Nichtsein geht, zusammengefunden haben, ist es dringend erforderlich, dass sich beide Nationen gegenseitig kennenlernen. Die Zeiten sind in der Tat voller Gefahren, und die Kräfte, welche uns trennen möchten, von großer Ausdauer.

Vor mir liegt ein 1953 in Deutschland erschienener "Atlas zur Weltgeschichte". Die Karten, die er enthält, zeigen die territorialen Veränderungen, die im Laufe der Zeit eine Folge der geschichtlichen Entwicklungen und insbesondere der Kriege gewesen sind. Es ist ein interessantes Buch, es zeigt viel unmittelbarer, als das geschriebene Geschichte tut, welche Spannungen jeweils auf dem Erdball entstanden sind, Spannungen, die dann zu Katastrophen führten. Jeder Krieg ist ja doch im Grunde eine Katastrophe.

Es ist ein Buch, das sehr ernst stimmen muss. Besonders ernst stimmt die Betrachtung der letzten Karten. Sie zeigen in aufrüttelnder Weise, wie die Freiheit in Europa immer mehr zurückgedrängt ist durch den Koloss des die Freiheit aus Prinzip, aus innerer Überzeugung verneinenden sowjetrussischen Kommunismus. Klein ist der Raum in der Landmasse Europa-Asien geworden, in dem noch Freiheit herrscht. Erschreckend klein ist Europa selbst, seitdem die Macht Sowjetrusslands bis zur Elbe reicht.

Ein Weiteres zeigt die letzte Karte mit überzeugender Klarheit: Nur ein Damm, der gemeinsam von den noch freien Völkern Europas im Verein mit den freien Völkern der Welt errichtet wird, kann das weitere Vorrücken der kommunistischen Masse hemmen.

Die Betrachtung dieser Karten zeigt ein Weiteres mit aller Klarheit: Deutschland liegt in der Mitte dieses Dammes. Wenn die Mitte nicht geschlossen ist, wenn sie nicht jedem kommunistischen Druck widersteht, ist kein Halten mehr: Dann überschwemmt die kommunistische Flut ganz Europa.

Die Aufgabe Deutschlands, die historische Aufgabe Deutschlands in dieser gefahrvollen Periode Europas, ja der Menschheit, ist ganz klar. Es muss helfen, diesen Damm zu bauen, es muss alles, was in seinen Kräften steht, tun, damit dieser Damm durch nichts durchbrochen werden kann. Diese seine Aufgabe hat Deutschland erkannt. Es kennt den russischen Kommunismus, es weiß, was es bedeutet, russischer Satellitenstaat zu sein, es weiß, dass es gilt, die abendländische, auf christlicher Grundlage gewachsene Kultur zu retten.

Was es heißt, in einem Satellitenstaat leben zu müssen, müsste eigentlich jeder Europäer wissen. Er müsste wissen, dass das wenige, was er von dem überkommenen Begriff an Souveränität opfern muss, damit dieser europäische Damm geschaffen wird, nichts ist gegenüber dem, was er verliert, wenn die Flut weiterrollt. Er müsste wissen, dass gegenüber der Größe des Verlustes, der allen europäischen Ländern droht, alle nationalen Bedenken und Hemmungen Kleinigkeiten sind. Er müsste wissen, dass es für Europa, für jedes europäische Land nur ein Entweder-Oder gibt. Entweder die europäischen Länder schließen sich zu einer Einheit zusammen oder sie gehen unter. Ein Drittes gibt es nicht. Der Zusammenschluss Europas ist das Ziel unserer Zeit.

Im Gespräch mit einem befreundeten Staatsmann bin ich unlängst auf die Ansicht gestoßen, Deutschland erstrebe so nachdrücklich die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Europäische Politische Gemeinschaft, weil es noch keinen Friedensvertrag habe und einen solchen auf diesem Wege zu erreichen hoffe. Ich habe ihm geantwortet, dass er die Lage und dass er die Geisteshaltung Deutschlands völlig verkenne. Ich könne mir auch andere Wege zur Erreichung eines Friedensvertrages für Deutschland denken, aber was nütze Deutschland ein Friedensvertrag, wenn Europa russisch würde? Und so ist es, das ist die ganz einfache Wahrheit, die jeder, insbesondere auch die Jugend, erkennen muss.

Wir haben in Deutschland auch noch andere große Aufgaben zu erfüllen: die Beseitigung der Kriegsschäden. Trotz allem, was schon geschehen ist, sind diese Schäden noch unvorstellbar groß.

Uns fehlen noch 3,9 Millionen Wohnungen, wir haben Beschädigte und Hinterbliebene zu versorgen; wir müssen nahezu zwei Millionen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen eine neue Existenz schaffen beziehungsweise sichern. 600.000 Kinder sind in Heimen, 500.000 Kinder müssen aus öffentlichen Mitteln betreut werden. Die Geburtenzahl nimmt ab.

Wir haben verhältnismäßig wenig Arbeitslose, aber unsere Industrien haben infolge des Krieges und der in seinem Gefolge auftretenden Inflation kein Kapital, um die nötigen Erneuerungen durchzuführen und Reserven für Zeiten wirtschaftlichen Niederganges anlegen zu können.

Auf dem Gebiete der geistigen Arbeit haben wir die Folgen der nationalsozialistischen Zeit und des Krieges, in der geistige Arbeit gering geachtet wurde, noch lange nicht überwunden.

Als die größere aller inneren Aufgaben steht noch vor uns die Wiedervereinigung mit der Sowjetzone und eine Übereinkunft über die Gebiete, die derzeit von Polen verwaltet werden. Diese Wiedervereinigung wollen wir herbeiführen mit Mitteln der Politik, nicht mit Mitteln der Gewalt. Wenn sie eines Tages erreicht ist, wird dieses Gebiet, das so groß wie zwei Drittel des Gebietes der Bundesrepublik ist, völlig neu erschlossen, kolonisiert werden müssen. Es handelt sich dabei um eine Aufgabe, die das ganze, das geistige und das wirtschaftliche Kräftepotential der Bundesrepublik lange Zeit hindurch in Anspruch nehmen wird.

Ich kann diese Aufgabe Deutschlands im Rahmen dieser Ausführungen nur in großen Umrissen zeichnen. Aber schon daraus erhellt, wie unrichtig der Haupteinwand mancher politischer Kreise in anderen Ländern gegen die EVG ist, wenn man sagt, Deutschland werde in ihr die Hauptrolle spielen. Man soll doch einmal unvoreingenommen den Kreis der Deutschland harrenden Aufgaben überschauen. Man wird mir dann beipflichten, wenn ich sage, Deutschland wird sicher in den nächsten Jahrzehnten Mühe haben, Schritt zu halten mit den übrigen in der EVG und der Politischen Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten. An eine führende Rolle, wie Marschall Juin sagt, kann es gar nicht denken.

Alle vergleichenden Untersuchungen über die Stärke der einzelnen Nationen gehen heute aber, so scheint es mir, an den eigentlichen Problemen vorbei. Wir glauben, dass es nicht die relative Schwäche Deutschlands oder irgendeines anderen Staates sein soll, die den Frieden in einer Gemeinschaft von Nachbarn garantiert. Statt dessen ist es die gemeinschaftliche Zusammenfassung und Koordinierung von Plänen und Zielsetzungen, ja sogar von Verteidigungsstreitkräften, die einen Krieg zwischen den Partnern einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft nicht nur sinnlos, sondern sogar unmöglich macht.

 

Sicherheit für alle

Ein besonderes Wort sei hier noch über das große Volk gesagt, das die geographischen Gegebenheiten zu unserem nächsten Nachbarn im Westen gemacht haben: die Franzosen. Es liegt auch im Interesse Frankreichs, dass Deutschland die Aufgaben erfüllt, die ihm gestellt worden sind. Ohne die äußere und innere Konsolidierung Deutschlands, ohne einen deutschen Beitrag zu dem Damm, der uns alle schützt, gibt es auch für Frankreich keine Möglichkeit, seine Freiheit und seine Kultur zu bewahren.

Zu allen Zeiten in der Geschichte hat es Pakte und Bündnisse gegeben. Die Entwicklung der Kampfmittel - wenn man die Atombombe und die H-Bombe noch Kampfmittel nennen kann - zwingt die Staaten der Welt, einen Weg zu suchen, der Sicherheit für alle gibt. Deutschland unterstützt alle Bestrebungen, dieses Ziel zu erreichen. Die Deutschen haben den Krieg in seiner ganzen Scheußlichkeit im eigenen Lande gesehen. Niemals zuvor in seiner langen Geschichte hat das deutsche Volk eine solche Sehnsucht nach dem Frieden, dem Frieden für alle, gehabt wie in dieser Zeit. Ihm will es dienen aus ehrlicher und tiefer Überzeugung, aus innerer Verpflichtung.

Damit sei genug gesagt über die Aufgaben, die wir Deutschen uns selbst gestellt haben, und über die Absichten, die uns dabei beseelen. Wie steht es aber um unsere gemeinsame Zukunft? Wird es trotz aller unserer Anstrengungen in diesem Atomzeitalter schließlich nicht doch noch zu einem neuen Weltbrand kommen? Ich persönlich habe die Zuversicht, dass dies nicht geschehen wird.

Ich hoffe nach wie vor, dass die Sowjetunion im Laufe der Zeit zu der Überzeugung gelangen wird, dass sie von anderen Staaten nicht bedroht wird. Amerika und seine Verbündeten haben dies den russischen Politikern in Berlin gesagt und sie werden es auf der Genfer Konferenz wieder betonen. Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass sich auch die Sowjetunion dringenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen gegenübersieht, zu deren Lösung sie den Frieden braucht. Aus diesem Grunde können wir hoffen, dass die Sowjetunion eines Tages mit dem geeinten Westen verhandeln wird, um einen ehrenhaften Modus vivendi für alle zu erreichen.

Wann aber ist dieses "eines Tages"? Verständlicherweise wünschen wir alle, dass dieser Tag bald kommen möge. Es wird aber noch nicht morgen sein. In der Zwischenzeit, die unsere Welt im Zustand tiefgehender Spannungen sieht, müssen wir freien Nationen mehr denn je die Nerven behalten. Und dies ist nur möglich, wenn wir uns von der Furcht frei machen. Frei von Furcht wiederum werden wir in dem gleichen Maße, in dem wir uns stark fühlen, und stark sein werden wir, wenn wir zusammenhalten.

 

Nachbarschaftliche Verbundenheit

Und was wird später werden? Ich glaube folgendes: Wenn die augenblickliche unmittelbare Krise längst überwunden sein wird, dann wird die erhoffte Gemeinschaft des Westens fortbestehen als ein lebendiges Beispiel praktischer nachbarschaftlicher Verbundenheit, anfangs nur im Westen, aber mit der Zeit möglicherweise in der ganzen Welt. Wir haben das Recht und die Pflicht, diese nachbarschaftliche Verbundenheit herzustellen - nicht nur in der Gegenwart zum Zwecke der gemeinsamen Verteidigung, sondern auch in Zukunft, und zwar von jetzt an für alle Zeiten, zur gegenseitigen Förderung der Ziele, die den Menschen das Leben lebenswert machen. Nur im Frieden kann der Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten, und nur eine freie Persönlichkeit kann sich fortentwickeln im Dienst an sich selbst und an den Seinen, in Richtung auf ein erfüllteres Leben und auf einen tieferen Glauben an seinen Gott.

Diese Gedanken mögen hochgespannt und allzu weitreichend erscheinen. Aber man wird es einem Manne, der nicht mehr jung ist, nachsehen, wenn er weltgeschichtliche Entwicklungen vor sich sieht, die vielleicht über seine eigene Lebensspanne hinausreichen. Alle aber haben wir, ob jung oder alt, das Recht, diese Möglichkeiten zu erstreben - vorausgesetzt, dass wir den Mut haben, für sie zu planen und zu arbeiten. Unsere Wünsche für die nächsten Jahre und für die kommende Generation beginnen mit unserem gegenwärtigen Handeln.

Um den langen Weg bis zu Ende zu gehen, der vor uns liegt, wollen und müssen wir uns zusammenschließen.

 

Quelle: Die Neue Zeitung vom 10. Mai 1954. Zugleich in: "Life" [vom 7. Mai 1954].