Sehr geehrter Herr Dr. Schumacher!
Ich bestätige den Empfang Ihres Schreibens vom 9. November. Die Bundesregierung ist wie Sie der Überzeugung, dass jede auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit gerichtete Politik die Schaffung freiheitlicher demokratischer Verhältnisse in allen vier Besatzungszonen und in Berlin zum Ziel haben muss. Die Bundesregierung hat seit ihrem Bestehen jede nur mögliche Initiative in dieser Richtung entwickelt. Sie hat es begrüßt, dass die überwältigende Mehrheit des Bundestages ihr auf diesem Weg bisher volle Unterstützung gewährt hat.
Ich bedauere sehr, dass Sie nunmehr den Entwurf eines Gesetzes über die „Grundsätze für die Freie Wahl einer Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung" mit der Begründung ablehnen, dass damit der bisher von der Bundesregierung eingenommene Standpunkt verlassen worden sei.
Der Bundesregierung kam es darauf an, mit dem Gesetzentwurf den besten Weg für die Vorbereitung gesamtdeutscher Wahlen zu suchen, der im Einklang mit dem Grundgesetz steht, das ja bereits die Schaffung einer endgültigen deutschen Verfassung vorsieht.
Ihre Ablehnung des Artikels 5 des Gesetzentwurfs ist mir nicht verständlich. In ihm sind nur die Grundsätze enthalten, die für einen freiheitlichen demokratischen Staat selbstverständlich und die Gemeingut aller Anhänger einer freiheitlichen demokratischen Ordnung, unbeschadet der Parteieinrichtung, sind. Durch ihre Aufnahme in den Gesetzentwurf soll erreicht werden, dass ihre Verwirklichung durch alle vier Besatzungsmächte garantiert wird. Ihre Festlegung in einem Gesetz, das uns nicht auferlegt, sondern von uns gefordert wird, bedeutet keine unberechtigte Bindung für die künftige Nationalversammlung, sondern im Gegenteil eine Sicherung ihrer freien Arbeit.
Sinn und Zweck des Gesetzentwurfes, der den vier Besatzungsmächten als Material übermittelt werden soll, ist doch - ich glaube, dass wir darin übereinstimmen -, die Voraussetzungen zu schaffen, um das bis jetzt mit diktatorischem Terror regierte Gebiet der Sowjetzone mit dem rechtsstaatlich geordneten Gebiet der Bundesrepublik zu einer freieren Demokratie zusammenzuschließen.
Die Anhörung des Bundesrates erschien mit notwendig, da zur Durchführung des Gesetzentwurfs die Zusammenarbeit mit den Länderregierungen erforderlich ist. Die Mitwirkung eines Länderausschusses bei der Beschlussfassung der Verfassunggebenden Nationalversammlung entspricht nach Auffassung der Bundesregierung dem föderativen Charakter unserer staatlichen Ordnung und der Bedeutung, die den deutschen Ländern bei dem Zusammenschluss zukommt. Da in dem Entwurf der Bundesregierung die Wahl der Vertreter der deutschen Länder unmittelbar durch das Volk vorgesehen ist, vermag ich in dieser Bestimmung um so weniger eine Beeinträchtigung der Souveränität des Volkes zu sehen.
Dass die Nationalversammlung durch den Gesetzentwurf lediglich ermächtigt werde, die Verfassung zu schaffen, ist, glaube ich, ein Missverständnis. Sie hat vielmehr gemäß Art. 6 Ziff. 1 des Entwurfs die Befugnis, alle für die Übergangszeit erforderlichen legislativen oder administrativen Maßnahmen zu treffen. Der Art. 6 Ziff. 2 schafft die Voraussetzung dafür, dass im Sinne der Bundestagsentschließung vom 9. März die Regierungsgewalt der Nationalversammlung durch geeignete Vorkehrungen gegen unbefugte und rechtswidrige Eingriffe wirksam geschützt und die Durchführung ihrer Maßnahmen gewährleistet wird.
Die Bundesregierung hat bei der Beratung des Entwurfs des Wahlgesetzes sich davon leiten lassen, dass "eindeutige Entschiedenheit und Initiative allein die Mittel sind, mit denen die Demokratie in einem geteilten Deutschland zur vollen Geltung gebracht werden kann". Sie ist davon überzeugt, dass der vorgelegte Entwurf einer Wahlordnung ein wirksames Instrument bei der Verfolgung dieses Zieles ist.
Selbstverständlich hat der Bundestag und der Bundesrat die Möglichkeit, Vorschläge für die endgültige Fassung des Gesetzentwurfs zu machen. Was Ihre Forderung anbelangt, zunächst in Berlin freie Wahlen durchzuführen, so habe ich die darauf gerichtete Initiative des Berliner Senats wiederholt nachdrücklichst in der Öffentlichkeit unterstützt.
Ich bedaure, dass Sie auf Ihrer gestrigen Pressekonferenz Ihre Einwände gegen den Gesetzentwurf bereits vorgebracht haben. Ich bin der Überzeugung, dass Sie, Herr Dr. Schumacher, und die SPD-Fraktion bei der Prüfung der hier angeführten Gesichtspunkte zu einer positiven Wertung kommen werden.
Da gerade im jetzigen Zeitpunkt des Zusammentritts der Vereinten Nationen einer möglichst weitgehenden Übereinstimmung in der Frage der Wiedergewinnung der deutschen Einheit eine besondere Bedeutung zukommt, würde ich es sehr begrüßen, wenn wir uns über die Fassung des Entwurfs über das Wahlgesetz einigen könnten.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
(Adenauer)
Quelle: Bulletin, Nr. 8 vom 13. November 1951, S. 46.