11. Dezember 1954

Rede zur Tätigkeit der "Gemeinschaft für christlich-soziale Schulung und öffentliche Meinungsbildung" (Auszug)

Sammlung und Toleranz!

Im Rahmen einer Tagung der im Herbst 1952 in der Bundeshauptstadt gegründeten „Gemeinschaft für christlich-soziale Schulung und öffentliche Meinungsbildung" nahm Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer am 11. Dezember 1954 in Bonn vor einem Mitgliederkreis aus allen Teilen der Bundesrepublik und aus Berlin in längeren Ausführungen Stellung zur innen- und außenpolitischen Situation der Gegenwart und zu den Arbeiten und Zielen der Gemeinschaft, zu deren Aufgabenkreis auch die Herausgabe der „Politisch-Sozialen Korrespondenz" gehört. In seiner Rede sagte der Bundeskanzler zur Tätigkeit der Gemeinschaft u.a.:

Meine Damen und Herren!

Ich bin hierher gekommen, weil ich aus ziemlicher Nähe Ihre Arbeiten beobachte und weil ich auch wegen des Ernstes der Zeit gern eine solche Gelegenheit wie heute benutzen möchte, über die augenblickliche Situation zu sprechen, ohne mich dabei an einen ausgesprochen politischen Kreis zu wenden. Eine politische Partei hat gewisse Bindungen. Sie kann allein nicht alles erreichen; sie muß auch manchmal etwas, was für sich betrachtet vielleicht nicht ganz richtig erscheint, im Wege des Kompromisses erreichen. Die Arbeit in Ihrer Gemeinschaft ist von sehr großer Bedeutung. Sie ist nicht parteipolitisch abgestempelt, aber doch von der Überzeugung getragen, daß das Fundament unserer gemeinsamen christlichen Weltanschauung erhalten bleibt. Und dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar. Vor allen Dingen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine Frage lenken, die mir immer wieder am Herzen liegt und die unbedingt gelöst werden muß: Die Frage der Schulung. Es muß auf dem Gebiete der Schulung von all denjenigen, die nicht Anhänger der materialistischen Weltanschauung sind, mit großer Kraft gearbeitet werden. Ich glaube, daß Sie bei diesen Schulungen und Kursen Wert darauf legen müssen, klar zu machen, daß, wenn man im Betrieb etwas zu sagen haben will, man auch die Interessen dieses Unternehmens im Auge halten muß. Diese kann man nur dann wahrnehmen, wenn man die Verbundenheit aller miteinander wirklich versteht, d. h., wenn man volkswirtschaftlich wenigstens in etwa geschult ist und weiß, daß das Schicksal des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers doch letzten Endes daßelbe sein wird. Ich ermuntere Sie, hier mit großer Kraft zu arbeiten. Und ich danke Ihnen für die Arbeit, die Sie bisher geleistet haben. Ich verfolge Ihre Veröffentlichungen immer mit großer Freude. Ich glaube, es ist gut, daß Sie Ihre Arbeit, losgelöst von parteipolitischen Dingen, mehr auf der allgemeinen Grundlage leiten. Damit, das lässt sich nicht leugnen, werden Sie viele Menschen gewinnen, die von einer Partei nichts wissen wollen, die aber dann bei der Wahl doch die richtige Entscheidung treffen.

Die Gefahr des Materialismus

Zur politischen Lage der Gegenwart sagte der Bundeskanzler u.a.:

Ich meine, daß wir der politischen Gefahr des Kommunismus Herr werden. Ich glaube, daß die Verträge ratifiziert werden. In Sowjetrussland wird dann auch eine Änderung der augenblicklichen politischen Lage eintreten und man wird dann auch zu vernünftigen Verhandlungen mit Moskau kommen. Setzen wir auch den Fall, es kommt zu einer politischen Verständigung mit dem kommunistischen Sowjetrussland, dann aber seien wir uns darüber völlig klar, daß der große geistige Kampf erst in diesem Augenblick beginnt. Diese Auseinandersetzung, der geistige Kampf mit dem Materialismus, der Kampf zwischen christlicher Auffassung und materialistischer Weltanschauung, wird Jahrzehnte dauern. Oft verstehen wir gar nicht, wie groß diese Gefahr ist. Wir, auch wir Christen, wähnen uns im Besitz unserer Freiheit, und wir machen uns nicht klar, wie stark schon der Materialismus in der Form des Kommunismus Europa unterwühlt hat. Wir werden unterwühlt auf allen möglichen Wegen. Dagegen müssen wir uns mit großer Überlegung und mit sehr weitgesteckten Zielen wehren. Wir müssen einen Bundesgenossen gewinnen auch in demjenigen, der nicht mehr aktiv sein Christentum bekennt, der aber trotzdem christliche Grundsätze noch als wahr anerkennt, der die Grundsätze des Christentums, die Überzeugung von der Freiheit der Person und die Innehaltung der 10 Gebote auch für sich als verbindlich betrachtet. Bei diesen Menschen müssen wir Bundesgenossen suchen und versuchen, die Vorurteile, die bei ihnen gegen uns - leider Gottes - bestehen, zu beheben.

Etwas, wofür ich abschließend in der heutigen Zeit besonders werben möchte, ist: Verständnis zu haben für die anderen, Verständnis zu haben auch dafür, daß die anderen berechtigte Interessen vertreten. Ich möchte für echte Toleranz werben. Ein Land wie Deutschland muß in seiner außerordentlich gefährdeten Lage eine Politik der Sammlung betreiben. Wir müssen alle sammeln, die irgendwie, auch ohne es laut auszusprechen, sich die Grundsätze zu eigen machen, die wir für die richtigen halten und als solche anerkennen: Die Grundsätze des Christentums, der Achtung der Persönlichkeit und der christlichen Liebe.

 

Quelle: Politisch-Soziale Korrespondenz vom 1. Januar 1955, 4. Jg., Nr. 1, S. 3f.