11. Juni 1959

Erklärung des Bundeskanzlers in der 74. Sitzung des Deutschen Bundestages zur Rücknahme der Präsidenten-Kandidatur

Nach dem rasanten Aufstieg in den 1950er Jahren begannen am Ende des Jahrzehnts Adenauers Krisenjahre als Bundeskanzler. Berlin-Krise 1958 und Mauerbau 1961 brachten ihn schwer in die Bredouille. Von der inner­parteilichen Opposition und dem Zwist mit Ludwig Erhard über die Europapolitik in die Enge gedrängt, erklärte sich Adenauer zur Bundespräsidenten­kandidatur 1959 bereit, machte aber kurzerhand wieder eine Kehrtwende.

 

Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren!

Herr Ollenhauer hat sich in sehr temperamentvollen, zuweilen fast pathetischen Ausführungen beklagt, daß ich die Grundlage unserer demokratischen Ordnung zerstöre, daß ich kein inneres Verhältnis zum Geiste der Demokratie überhaupt habe. Das war, glaube ich - ich habe, so gut ich das konnte, seine Ausführungen notiert -, eigentlich die Quintessenz dessen, was er mir vorgeworfen hat.

Warum hat er mir das vorgeworfen? Er hat es mir deshalb vorgeworfen, weil ich mich im Gegensatz auch zu einem Teil meiner eigenen Parteifreunde entschlossen habe, nach sehr reiflicher und sehr gewissenhafter Prüfung, meine Kandidatur zur Wahl des Bundespräsidenten zurückzuziehen. Das ist der einfache und klare Tatbestand.

Wenn ich dem gegenüberhalte, meine verehrten Zuhörer, daß mir deswegen von Herrn Ollenhauer und von der sozialdemokratischen Presse und auch einem Teil der nichtsozialdemokratischen Presse -

Zuruf von der SPD: "Teil" ist gut!

ja, sicher lese ich das doch auch; das ist doch ganz klar - diese Vorwürfe gemacht werden und behauptet wird, daß ich von der Demokratie nichts halte, kein inneres Verhältnis dazu habe, so möchte ich Ihnen, Herr Ollenhauer, folgendes sagen. Ich habe in meinem ganzen langen Leben, auch in der Zeit der Verfolgung durch den Nationalsozialismus,

Sehr richtig! bei der CDU/CSU.

bewiesen, daß ich demokratische Grundsätze vertrete.

Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.

Aber ich für meine Person und, ich glaube, auch meine Parteifreunde halten für den obersten Grundsatz der demokratischen Ordnung, daß jeder seinem Gewissen folgt,

Beifall bei der CDU/CSU.

und ich verlange von Ihnen, meine Herren von der Sozialdemokratie, daß, wenn ich Ihnen sage: Ich bin bei dieser Entscheidung meinem Gewissen gefolgt, Sie das nicht bezweifeln, sondern mir das glauben. Sie mögen das für falsch halten, was ich getan habe, Sie sehen es von einem anderen Standpunkt aus an; meinetwegen; es ist eines jeden Recht zu kritisieren. Aber das bitte ich zu respektieren: ich habe diesen Entschluß gefaßt nach sehr reiflicher und gewissenhafter Überlegung auch mit meinen Parteifreunden, zum Teil im Gegensatz zu meinen Parteifreunden. Ich erblicke demokratische Freiheit darin,

Beifall bei der CDU/CSU.

daß man unter Umständen auch gegen die Meinung seiner Parteifreunde handelt.

Ehe ich auf weitere Vorwürfe des Herrn Kollegen Ollenhauer eingehen muß - leider muß -, möchte ich hier einige Feststellungen zu den Tatsachen treffen.

Ich habe mich am 7. April gegenüber dem Gremium, das meine Partei und die CSU zur Vorbereitung der Bundespräsidentenwahl bestimmt hat, bereit erklärt, die Kandidatur anzunehmen. Jeder, der dabei gewesen ist - und es waren über 70 Leute dabei -, weiß - es lag in meinen Worten und, ich glaube, auch in der Art, wie ich die Worte ausgesprochen habe -, daß mir dieser Entschluß nicht leicht gefallen ist. Er ist mir nicht leicht gefallen, weil die ganze Situation in der Welt verlangt - das bitte ich doch einmal zu verstehen -, daß nicht ganz plötzlich mitten während dieses weltpolitischen Geschehens sich dasselbe ereignet, was sich damals ereignet hat, als Churchill dadurch, daß er die Wahlen verlor, durch Attlee ersetzt wurde,

Zurufe rechts: Sie haben doch keine Wahl verloren!

der ein ausgezeichneter Mann ist, der aber in die ganzen Verhandlungen hineinkam, ohne vorher damit befaßt gewesen zu sein.

Sehr richtig! bei der CDU/CSU. Zurufe von der SPD und der FDP.

Seitdem, meine Damen und Herren, hat sich die Weltlage wiederum verändert. Ich habe hier vor mir liegen - und ich werde ihn mit Erlaubnis des Präsidenten verlesen - einen Brief, den der amerikanische Staatssekretär Dulles am 8. April an mich gerichtet hat. Er schrieb so:

Mein lieber Freund!

Die Nachricht von Ihrem Entschluß, sich als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland aufstellen zu lassen, hat mich hier in Florida erreicht. Ich habe auch mit dem größten Interesse Berichte über Ihre heutige Ansprache an das deutsche Volk erhalten. Obgleich ich im einzelnen nicht die Beweggründe kenne, die Ihnen diese Entscheidung nahelegten, habe ich volles Vertrauen, daß sie Ihre Absicht widerspiegeln, sich auch weiterhin für die Sache der menschlichen Freiheit und den konstruktiven Wiederaufbau Europas einzusetzen, bei dem sich Ihre staatsmännische Kunst bereits in so hervorragender Weise erwiesen hat. Ich teile Ihre Überzeugung, daß die aufgeklärte Politik, die Sie in so weitgehendem Maße zu einem Bestandteil des nationalen Lebens Ihres Landes gemacht haben, von langer Dauer sein wird. Ich freue mich darauf, in den harten bevorstehenden Zeiten gemeinsam mit Ihnen unsere Anstrengungen fortzusetzen.

Herr Kollege Ollenhauer, eines bitte ich daraus zu ersehen: daß ich damals ohne jede Einwirkung von außen den Entschluß gefaßt habe, mich als Kandidat zur Verfügung zu stellen. Ich möchte in gleicher Weise erklären, daß ich mich später ohne jede Einwirkung von außen entschlossen habe, diese Kandidatur zurückzuziehen. Ich habe das getan, weil plötzlich - Sie wissen, daß Foster Dulles sich in Florida zuerst erholte; Sie kennen die Bilder, wie er im Meer geschwommen ist -, ganz plötzlich gegen alle Erwartungen der Ärzte der katastrophale Rückschlag eingetreten ist, der es ihm dann trotz Aufwendung seiner letzten Kräfte unmöglich gemacht hat, auf dem gemeinsamen Feld im Kampf gegen den Kommunismus, auf dem wir alle stehen, meine Damen und Herren, weiter mitzuarbeiten. Der Tod Dulles' war für alle freien Völker der Welt ein großer, ein nicht zu ersetzender Verlust. Ein Weiteres kam hinzu: der Ablauf der Dinge in Genf. Diese beiden Umstände zusammen haben in mir immer mehr den Entschluß reif werden lassen, bei der Tätigkeit zu bleiben, die ich jetzt ausübe.

Herr Ollenhauer hat mir vorgeworfen, ich hätte das Parlament getäuscht. Anscheinend sieht er eine Täuschung des Parlaments darin, daß ich auf die leidlich freundlichen Abschiedsworte, die Herr Erler mir am 3. Juni gewidmet hat,

Heiterkeit bei der CDU/CSU.

ihm nicht gesagt habe: Verehrter Herr Erler, Sie müssen noch einige Jahre warten.

Erneute Heiterkeit bei der CDU/CSU.

Ich leugne nicht, Herr Erler, daß auf der einen Seite Ihre Worte mir gutgetan haben. Auf der anderen Seite muß ich aber auch hier ehrlich bekennen, daß ich mich über eins gewundert habe. Ich habe nämlich schon am 14. Mai im Bundeskabinett erklärt, daß mein Entschluß, mich als Kandidat für die Bundespräsidentenwahl zur Verfügung zu stellen, infolge des Verlaufs der Ereignisse schon zu 90 % nicht mehr vorhanden sei. Daß Sie, Herr Erler, der Sie so vieles hören und wissen, davon nichts gehört haben, das hat mich beim Anhören Ihrer Rede etwas gewundert.

Abg. Erler: Der Erhard hat's mir nicht gesagt! - Weitere Zurufe von der SPD.

Also meine Damen und Herren, ich habe diese Erklärung ja vor dem Kabinett, das voll besetzt war, abgegeben. Daran ist also nichts zu rütteln.

Abg. Erler: Aber der Erhard hat's doch auch nicht gewußt!

Herr Erhard war dabei, als ich das gesagt habe.

Abg. Kühn (Köln): Er war doch überrascht! - Weitere Zurufe von der SPD.

Ich möchte etwas Weiteres klären. Als ich mich bereit erklärte, die Kandidatur anzunehmen, habe ich - meine Parteifreunde, mit denen ich gesprochen habe, werden das bestätigen - zur Bedingung gemacht, daß über die Frage der Nachfolgerschaft im Bundeskanzleramt erst gesprochen werde, wenn die Bundespräsidentenwahl vorbei sei.

Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!

Das hielt ich für korrekt und das hielt ich auch für richtig gegenüber Herrn Bundespräsidenten Heuss. Ich wäre mir direkt etwas komisch vorgekommen, wenn ich, der ich vorläufig Kandidat war, der ich noch gar nicht gewählt war, nun große Verhandlungen darüber hätte führen sollen, wer Bundeskanzler wird. Auch deswegen, meine Damen und Herren, bin ich an dem Tage, nachdem ich mich bereit erklärt hatte, nach Cadenabbia abgefahren, damit keiner an mich herantreten könnte, um mich zu fragen.

Lachen, Unruhe und Zurufe bei der SPD.

Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht; ich gebe das offen zu.

Heiterkeit in der Mitte.

Diese Tage in Cadenabbia sind mir nicht gerade verschönt worden durch die Ausführungen namentlich in der deutschen Presse darüber, wer nun Bundeskanzler werden wolle.

Die Annahme des Herrn Kollegen Ollenhauer, daß ich vom Weißen Haus in Washington irgendwie beeinflußt worden sei - das hat er nämlich auch angedeutet -, ist völlig falsch.

Abg. Dr. Schmid (Frankfurt): Ist nicht gesagt! - Weitere Zurufe von der SPD: Na, na!

Er hat gesagt, am 4. Juni habe das Weiße Haus erklärt, es sei nicht überrascht gewesen.

Zurufe von der SPD: Ja!

Also jetzt verstehe ich Sie nicht mehr! Das soll doch wohl heißen:

Abg. Dr. Schmid (Frankfurt): Nein, er hat damit gesagt, daß Sie das Weiße Haus unterrichtet haben, aber nicht, daß Sie vom Weißen Haus beeinflußt wurden! - Abg. Erler: Das Weiße Haus hat mehr gewußt als Erhard! Das ist alles! Nicht etwa: Es hat Sie angestiftet; das war nicht der Inhalt!

Ja, da muß ich Ihnen auch wieder eine Legende zerstören. Ich habe mit Herrn Erhard, ehe er nach Amerika abreiste, zweimal, einmal anderthalb Stunden und einmal eine Stunde, in voller Freimütigkeit gesprochen, wie das unter Parteifreunden bei uns üblich ist.

Abg. Ollenhauer: Wer sagt hier die Wahrheit? Sie oder Erhard? - Zurufe von der SPD: Er sieht weg! Wer lügt? Sehen Sie ihn an dabei!

Ich sage nochmals: Ich habe es zuerst im Kabinett gesagt, am 14. Mai in Gegenwart von Herrn Erhard.

Abg. Wienand: Dann hat Erhard nicht zugehört! - Abg. Dr. Schmid (Frankfurt): Herr Erhard, nicken Sie mal!

Nachdem mich Herr Ollenhauer in sehr starken Ausdrücken bezichtigt hat, daß ich durch mein Verhalten die höchsten Ämter in einem demokratischen Staat in der Öffentlichkeit herabgesetzt und das aufkommende Gefühl für demokratisches Empfinden entweder, wie er gesagt hat, zertreten oder zerstört hätte, möchte ich Ihnen doch einmal mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten vorlesen, wie Herr Ollenhauer vorher über mich geurteilt hat. Ich zitiere hier nach der "Freien Presse" in Bielefeld vom 27. April 1959:

Die Kandidatur des Bundeskanzlers für das Amt des Bundespräsidenten sieht Ollenhauer als Beweis dafür an, daß Adenauer durch seine inflexible Politik, seinen persönlichen Starrsinn und seine Isolierung von den westlichen Verbündeten

- ich bin von ihnen gar nicht isoliert, verehrter Herr Ollenhauer -

mit seiner Außenpolitik endgültig gescheitert sei. Er habe keine andere Möglichkeit gesehen, als sich aus der aktiven Politik zurückzuziehen.

Lachen bei der CDU/CSU.

Nun, das war doch gerade vor dem Bundespräsidentenposten auch nicht sehr schmeichelhaft, wenn Sie damals die Ansicht geäußert haben, ich träte als gescheiterter Politiker die Flucht auf den Bundespräsidentenstuhl an.

Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.

Ich weiß nicht, ob solche Ausführungen sehr geeignet sind, den Respekt im deutschen Volke vor demokratischen Einrichtungen zu stärken.

Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.

Wenn ich mich nun, wie ich schon mehrfach gesagt habe, aus wohlerwogenen Gründen entschlossen habe, auf dieses von mir außerordentlich hoch eingeschätzte und respektierte Amt zu verzichten, so habe ich das auch nicht mit leichtem Herzen getan. Ich habe das - ich sage das ganz offen - mit geteilten Gefühlen getan. Denn es ist doch wohl selbstverständlich, daß ein Mann, der in seinem Leben so viel erlebt, mitgemacht und vielleicht auch geleistet hat, es auch einmal gern sehen würde, wenn er sich mit Ehren nur so aus der Entfernung, wie Herr Bundespräsident Heuss das getan hat, der Politik würde widmen können. Sehen Sie, ich stehe Ihnen so gern Auge in Auge gegenüber. Das Vergnügen würde ich dann nicht mehr haben.

Heiterkeit.

Das hat mich auch bewegt.

Erneute Heiterkeit.

Ich will Ihnen sagen, was mich außerdem etwas bewegt hat: Ich würde dann auch keine "hemdsärmeligen Wahlreden" mehr halten können. Das würde mir schmerzlich sein, ich gebe das offen zu.

Heiterkeit.

Ich tue das dann und wann gern, wenn es nicht so oft ist.

Erneute Heiterkeit.

Trotzdem hatte ich mich dazu entschlossen. Gott sei Dank habe ich dann aber doch gespürt, daß ich nicht so inflexibel bin, daß ich im richtigen Augenblick nicht doch noch einen anderen Entschluß fassen könnte.

Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.

Ich glaube, meine verehrten Damen und Herren, daß das deutsche Volk mich verstehen wird. Ich habe so, wie ich gehandelt habe, nicht im Hinblick auf meine Partei gehandelt - das sage ich Ihnen hiermit auch -, sondern ich habe so gehandelt, wie ich im Interesse des deutschen Volkes glaubte handeln zu müssen.

Beifall bei der CDU/CSU.

Die Zukunft wird zeigen, ob ich richtig gehandelt habe oder nicht. Ich bin überzeugt, ich habe richtig gehandelt, und ich hoffe, meine Damen und Herren, daß Sie das eines Tages auch noch einsehen werden.

Aber nun möchte ich eine Frage stellen. Während der Rede des Herrn Dr. Krone kamen Zwischenrufe, daß ich den gemeinsamen Kampf mit Ihnen gegen den Kommunismus abgelehnt hätte. Ich weiß nicht, wer aus Ihrer Mitte mir das zugerufen hat. Ich möchte den betreffenden Herrn wirklich bitten - vielleicht kann er mir schreiben, wenn er das Material gegenwärtig nicht hier hat -, mir doch zu schreiben, wann und wo ich das jemals getan habe. Das habe ich niemals getan, und ich werde es niemals tun. Denn weit über allem Parteigegensatz steht doch bei mir die Erkenntnis der furchtbaren Gefahr, in der wir alle stehen, der Gefahr, daß wir unsere Freiheit verlieren, wenn wir nicht in den freien Staaten der Welt alle diejenigen, die die Freiheit lieben, in den entscheidenden Fragen des Volkes zusammenhalten.

Beifall bei der CDU/CSU.

Damit möchte ich schließen. Ich bitte, nur noch eines von mir anzunehmen. Ihre Presse, die nicht zu Ihnen gehörende Presse, aber auch Herr Ollenhauer haben mehrfach betont, es handele sich hier um den Willen zur Macht. Nun, meine Damen und Herren, ich glaube, Sie alle werden mir zugeben, daß Sie den Willen zur Macht auch haben. Das ist doch selbstverständlich. Warum werfen Sie mir das denn vor, wenn Sie diesen Willen auch haben. Vor allem bitte ich nicht zu übersehen: es ist ja nicht die Arbeit, die den Menschen so mitnimmt - die ist es nicht -, sondern es ist die mit der Macht verbundene Verantwortung,

Beifall bei der CDU/CSU.

und aus diesem Gefühl der Verantwortung habe ich gehandelt.

Langanhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.

 

Quelle: Konrad Adenauer, Bundestagsreden. Hg. von Josef Selbach. Bonn 1967, S. 283-289.