12. Dezember 1923

Gegenvorschlag Adenauers zu einer Denkschrift Tirards

Von mir an T. in Bonn übergeben am 12/12 als Gegenvorschlag auf seine Principien

Das Verlangen Frankreichs nach Sicherheit muss deutscherseits durchaus ernst genommen werden. Die Schaffung eines Pufferstaates zwischen Frankreich und Deutschland würde für Frankreich aber keine Sicherheit auf die Dauer bringen. Dieser Pufferstaat würde immer die Wiedervereinigung mit Deutschland betreiben; das übrige Deutschland würde die Abtrennung dieses Gebietes niemals verschmerzen können, und es würde nötigenfalls im Wege des Krieges, sobald ihm dies irgendwie möglich sein würde, dieses Gebiet wieder mit sich zu vereinigen suchen.

Dagegen würde die Schaffung eines westdeutschen Bundesstaates im Verbande des Reiches die größte Sicherheit für einen langen Frieden zwischen Frankreich und Deutschland bieten. Dieser Bundesstaat würde, falls er genügend groß ist, infolge dieser seiner Größe, seiner Einwohnerzahl und der Bedeutung seiner Wirtschaft auf die innere und äußere Politik Deutschlands einen entschei­denden Einfluss ausüben. Da sein Gebiet Schauplatz eines etwaigen zukünfti­gen Krieges zwischen Deutschland und Frankreich sein würde, würde seine Bevölkerung und seine Regierung, schon um diesen Krieg von ihrem eigenen Lande fernzuhalten, auf ein möglichst gutes Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland hinzuwirken suchen. Es kommt hinzu, dass die rheinisch-westfälische, die lothringische und luxemburgische Industrie als ein einheitlicher wirtschaft­licher Organismus seinerzeit geschaffen und gewachsen sind. Wenn es gelänge - und das ist durchaus möglich -, durch eine gegenseitige Verflechtung dieser Industrien gemeinsame wirtschaftliche Interessen zwischen der Bevölkerung die­ses Bundesstaates und Frankreich zu schaffen, so würde dieser Bundesstaat seinen Einfluss in Deutschland noch stärker im Sinne einer friedlichen Zusam­menarbeit mit Frankreich ausüben, und der Frieden würde dadurch um so mehr gefestigt werden.

Dieser Bundesstaat kann aber nur dann auf die Politik Deutschlands einen größeren Einfluss ausüben, wenn er dieselben Rechte und Pflichten wie alle übri­gen Bundesstaaten hat. Würde er in seiner Verbindung mit dem Reich irgend­welchen Einschränkungen unterliegen oder aber würde er durch Besatzung, Rheinlandkommission usw. ausländischem Einfluss direkt unterstellt werden, so würde sein Einfluss auf die deutsche innere und äußere Politik sofort abnehmen und verschwinden. Man muss sich nur einmal in die Lage des übrigen Deutsch­land versetzen, so wird man eine solche Entwicklung als durchaus logisch und unabwendbar ansehen. Der Sicherheits-Koeffizient, der in der Schaffung eines solchen Bundesstaates für Frankreich bestehen würde, verliert an Bedeutung proportional mit jeder Beeinträchtigung der staatsrechtlichen Stellung dieses Bundesstaates innerhalb des Deutschen Reiches.

Man wird, wenn man sich auf den Boden meiner Konstruktion stellt, sich auch vollständig und resolut auf ihn stellen und mit dem Gedanken eines Puf­ferstaates dann endgültig brechen müssen, aber nicht diese beiden Gedanken miteinander verwirklichen dürfen dadurch, dass man einen Bundesstaat mit starken Einschränkungen schafft. Ein dauernder Friedenszustand zwischen Frankreich und Deutschland kann nur in der von mir ins Auge gefassten Weise begründet wer­den durch Verstärkung des Einflusses Westdeutschlands innerhalb des Deutschen Reiches und durch Schaffung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen zwischen Westdeutschland und Frankreich. Unzweifelhaft geht die Entwicklung in Deutsch­land dahin, die Weimarer Verfassung im Sinne einer stärkeren Entwicklung des föderalistischen Gedankens abzuändern - vergleiche die anliegende Nummer der Kölnischen Volkszeitung -, so dass auch durch diese Entwicklung der Einfluss des westdeutschen Bundesstaates, wenn er ein wirklich voll- und gleichberechtigter Bundesstaat wie die anderen ist, noch erhöht werden würde. Bestrebungen, mehrere Bundesstaaten am Rhein zu schaffen, oder aber den westdeutschen Bundesstaat wichtiger Rechte und Pflichten gegenüber dem Deutschen Reiche zu entkleiden und ihn so zu einem Staate zu machen, der zwar äußerlich, aber nicht innerlich dem Verbande des Deutschen Reiches in vollem Umfange angehören würde, liegen nicht im Interesse des Friedens und nicht im wohlverstandenen Interesse der französischen und natürlich auch nicht der deutschen Politik.

Preußen, Hessen, Bayern widerstreben naturgemäß der Errichtung eines sol­chen Bundesstaates. Aber auch ein großer Teil der Bevölkerung des besetzten Gebietes verhält sich ablehnend, zum Teil aus innerer Anhänglichkeit an die oben genannten Länder, zum Teil betrachtet man die Schaffung eines solchen Bundesstaates als den ersten Schritt zur völligen Loslösung von Deutschland. Mit diesen Stimmungen muss durchaus gerechnet werden. Wenn mit der Schaffung eines solchen westdeutschen Bundesstaates aber gleichzeitig das ganze Verhält­nis zwischen Frankreich und Deutschland im Sinne des friedlichen Zusammenarbeitens geordnet würde, so würde die Errichtung eines solchen westdeutschen Bundesstaates meines Erachtens zu erreichen sein. Diese gesamte Ordnung des Verhältnisses zwischen Frankreich und Deutschland schließt in sich die Lösung der Reparationsfrage, die Lösung der Besatzungsfrage und die Lösung der Frage der Rheinlandkommission. Nur wenn dieser Bundesstaat frei würde von Besatzung und frei von der Rheinlandkommission, würde er in der Lage sein, mit seinem ganzen Gewicht auf die deutsche Politik im Sinne eines dauernden, friedlichen Zusammenarbeitens mit Frankreich einzuwirken.

Zur Beruhigung desjenigen Teiles der französischen öffentlichen Meinung, der befürchtet, dass ein solcher Bundesstaat nach kurzer Zeit wieder verschwin­den würde, könnte sein dauernder Bestand international garantiert werden. Ebenfalls könnte zur Beruhigung der französischen öffentlichen Meinung anstelle der Besatzung evtl. auf eine gewisse Reihe von Jahren eine internationale Gendarmerie zum Zwecke der Überwachung der Durchführung der Entmilitarisierungsvorschriften des Versailler Vertrages treten.

Von dem oben wiedergegebenen Standpunkt, dass dieser Bundesstaat sich nur dann im Interesse des Friedens auswirken kann, wenn er vollberechtigt und vollverpflichtet innerhalb des Deutschen Reiches ist wie die übrigen Bundes­staaten, ausgehend, ist zu den „Principes" folgendes zu bemerken: Die Schaf­fung mehrerer Bundesstaaten, auch wenn diese durch eine Konföderation wieder zusammengefasst würden, würde den politischen Einfluss Westdeutschlands inner­halb des Deutschen Reiches erheblich beeinträchtigen. Den Verschiedenheiten der Bevölkerung in der Pfalz, Hessen, Rheinprovinz, Westfalen könnte dadurch Rechnung getragen werden, dass, ähnlich wie auch jetzt in Preußen, Provinzialverwaltungen und Provinziallandtage, die für gewisse Fragen zuständig sind, eingerichtet werden.

Der westdeutsche Bundesstaat würde eine eigene Verfassung erhalten, die sich natürlich innerhalb des Rahmens, den die Reichsverfassung für die Verfassung der Bundesstaaten vorsieht, bewegen müsste.
Er würde Herr seiner Gesetzgebung innerhalb des seitens des Reiches für die Bundesstaaten zuge­standenen Rahmens sein.
Er würde Chef der Verwaltung sein, ausgenommen der Verwaltungen, die nach der Reichsverfassung Sache des Reiches sind: Zölle, Post usw. Er würde also Herr sein der Verwaltungsbeamten, der Justiz, Polizei usw.
Die Beamten des Bundesstaates würden nicht mehr von Preußen, sondern nur von dem westdeutschen Bundesstaate abhängig sein in allen Punkten, die Reichsbeamten natürlich von der Reichsverwaltung.
Der Staat würde Herr seiner Hilfsquellen in dem von der Reichsverfassung gezogenen Rahmen sein; im glei­chen Umfange würde er ein eigenes Budget haben. Eine von der Reichswährung verschiedene Münze dürfte er schon aus dem Grunde nicht haben, weil dadurch die Ausfuhr nach dem übrigen Deutschland, die eine absolute Notwendigkeit ist, erheblich beeinträchtigt würde.
Die Bahnen müssten, wenn nicht dem Reich, so doch diesem Staate zur Verfügung gestellt werden, weil er sonst überhaupt nicht leben kann. -
Nur eine Verständigung, die auf der Überzeugung beruht, dass die getroffene Regelung den Interessen beider Beteiligten nach Möglichkeit gerecht wird, vermag einen dauernden Frieden zu schaffen; der obige Vorschlag würde dieser Bedingung gerecht werden.

 

Quelle: HAStK 2/253/7, Konzept und Durchschrift der Reinschrift. Abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik, S. 327-331; Konrad Adenauer 1917-1933. Dokumente aus den Kölner Jahren. Hrsg. v. Günther Schulz. Köln 2007, S. 224-227.