12. Februar 1950

Artikel des amerikanischen Journalisten Middleton in der Tageszeitung "The New York Times": "Adenauer entwirft die Bedingungen der Einheit"

Adenauer entwirft die Bedingungen für Einheit. Er behauptet, Bonn würde bereit sein, mit einer in freier Wahl gewählten Ostregierung zu unterhandeln. - Er sieht die Eingliederung für vital an. - Der Kanzler hält enge Bindungen in Europa für die einzige Lösung der allgemeinen Probleme.

Die Regierung der westdeutschen Bundesrepublik würde die Wiedervereinigung Deutschlands mit einer aus einer Wahl, in deren Vorbereitung alle politischen Parteien gleiche Freiheit genössen, hervorgegangenen Ostregierung besprechen, äußert der Kanzler Dr. Adenauer.

Im Verlauf eines Interviews erklärte Dr. Adenauer, daß sowohl die Wahlkampagne als die Wahl selbst in einer Atmosphäre "völliger Freiheit" vonstatten gehen müßte. Er fügte hinzu, daß Überwachungsgruppen, die sich aus Vertretern aller vier Besatzungsmächte zusammensetzen, den Wahlkampf und die Wahl selbst überwachen sollten.

Während des Interviews kam der Kanzler mehrmals auf die Notwendigkeit einer wirklichen europäischen Integration nicht nur als Lösung allgemeiner europäischer Probleme, wie der Saarfrage, sondern auch als Inspiration für Deutschlands Jugend zurück. Deutschlands Anteil an einem ["integrierten] geeinten Europa["] muß als Ersatz für die alten Gedanken von Deutschlands Beherrschung Europas treten, sagte er. "Unsere Jugend muß veranlaßt werden, die Wichtigkeit der Rolle Deutschlands in dieser Vereinigung und die Möglichkeiten, die ihr dadurch als guten Deutschen und Europäern gegeben werden, die Kraft des Ganzen zu steigern, zu erkennen"[, fügte er hinzu].

Im Gespräch über die Saarfrage erklärte Dr. Adenauer, er sei "froh", daß die französische Regierung jetzt in Paris mit einer Saardelegation über die engere Einbeziehung der Kohlengruben und Eisenbahnen dieses Gebietes in die französische Wirtschaft verhandele.

Aber er stellte in Frage, ob es den drei Westmächten, der Saar und Westdeutschland möglich sein würde, eine nicht präjudizierte Regelung der Saarfrage zu erreichen, wenn z. Zt. der Abhaltung einer Friedenskonferenz die wirtschaftliche Eingliederung noch weiter fortgeschritten sein würde als jetzt.

Der Kanzler erklärte, daß er nicht glaube, daß die wirtschaftliche Eingliederung des Saargebietes in Frankreich völlig von politischen Bindungen getrennt werden könne und daß eine Verengung der wirtschaftlichen und industriellen Bande zwischen Frankreich und der Saar die Wahl, die die Saarländer z. Zt. einer Friedenskonferenz zwischen Frankreich und Deutschland zu treffen haben würden, beeinflussen würden.

Er erklärte, daß diese Frage "im Rahmen der europäischen Integration und Union geregelt werden müsse". Aber Bemühungen, diese Integration zu verwirklichen, könnten nicht einseitig sein, erklärte er.

Es liegt ihm sehr daran, daß sowohl Regierungsbeamte wie Mitglieder des Bundestages das Maß ihrer Verantwortungen erkennen. Er hatte bis in die frühen Morgenstunden den Abgeordneten seiner eigenen Partei eine Strafpredigt darüber gehalten, daß es nicht angehe, zu gesellschaftlichen Veranstaltungen zu gehen oder sich über ein verlängertes Wochenende zu entfernen, während im Parlament zu arbeiten sei.

Er hatte auch in einer zweistündigen Kabinettssitzung im Verlauf des Morgens den Vorsitz geführt. Aber sein viereckiges, flaches Gesicht zeigte keinerlei Müdigkeit.

Dr. Adenauer gab zu, daß eine "gewisse" Gefahr in dem Wiederaufleben extremer Rechtsparteien mit nationalsozialistischen Tendenzen bestehe. Aber diese Gefahr, sagte er, ist "übertrieben" worden, und die Bedeutung von "Männern wie Remer" ist weit geringer, als allgemein angenommen wird.

Otto Ernst Remer, der in der Unterdrückung des Anti-Hitler-Putsches vom 20. Juli 1944 eine entscheidende Rolle spielte, war als Ergebnis seiner Leistungen an diesem Tage Generalmajor der Armee geworden. Heute ist er einer der vorwitzigsten Rechtsradikalen.

Dr. Adenauer gestand zu, daß ein "Sammelbecken des Protests" gegen die gegenwärtigen Bedingungen bei den arbeitslosen Flüchtlingen und Kriegsteilnehmern bestehe und daß viele innerhalb dieser Gruppen den anerkannten politischen Parteien gleichgültig gegenüberständen.

"Aber man muß ihnen Arbeit und Hoffnung geben", sagte er, "deshalb ist es so wichtig, Deutschland Arbeit zu geben."

Der Kanzler schlug vor, daß die Westalliierten die Grenze der Stahlproduktion, die jetzt auf 11.100.000 Tonnen jährlich festgesetzt ist, erhöhen sollten und die Erneuerungen ausländischer Investitionen zur Unterstützung der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Westdeutschland gestatten sollten.

"Ich bin mir bewußt, daß von einigen der Besatzungsmächte gegen diese Gedanken Einwände erhoben werden", fügte er hinzu.

Aber Dr. Adenauer betonte, daß eine größere Stahlproduktion notwendig sei, nicht nur weil die Stahlwerke selbst einen großen Teil der Arbeitslosen übernehmen würden, sondern auch weil Stahl erforderlich sei, wenn die Sekundärindustrie auf höchster Produktionsstärke arbeiten soll.

Wenn die Grundindustrie entwickelt werden soll, fügte Dr. Adenauer hinzu, ist ausländisches Kapital lebenswichtig. Eine gesteigerte Produktion wird sowohl aus der heutigen Arbeitslosigkeit erwachsende politische Gefahren beseitigen, als auch einen Beitrag zur wirtschaftlichen Integration Europas liefern.

 

Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Presse-Dokumentation. Adenauer (deutscher Text). The New York Times. 99. Jg. Nr. 33622 vom 12. Februar 1950, S. 5 (englischer Text).