Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer
Genau in der Woche, in der die Bevölkerung von Rheinland-Pfalz ihre Stimme bei den Landtagswahlen abgibt, vollziehen sich Ereignisse, die für die Bundesrepublik von entscheidender Bedeutung sind. Die Aufnahme in die NATO und die wiedererlangte Souveränität der Bundesrepublik sind Meilensteine in der Entwicklung der deutschen Nachkriegspolitik und weithin sichtbare, in ihrer Auswirkung für die Zukunft nicht hoch genug einzuschätzende Erfolge der Politik, an der die CDU maßgeblich und führend beteiligt ist. Der Wähler von Rheinland-Pfalz sieht an seinem Wahltag Wünsche erfüllt und Aufgaben gelöst, die ihm in all den Jahren sehr am Herzen lagen und für die er praktisch seine Entscheidungen auch in den Wahlen auf der Landesebene getroffen hat. Er weiß, dass diese großen Erfolge nur möglich waren, weil die CDU mit einem klaren und gradlinigen Programm den Weg zu einer neuen gemeinsamen europäischen Politik mutig angetreten und unbeirrt verfolgt hat.
Die neue deutsche Lage
Es ist zur klaren Beurteilung der Bedeutung von Landtagswahlen unerlässlich, auch einen Blick auf diese außenpolitische Arbeit des Bundes zu richten. Der Abschluss der Pariser Verträge hat das Besatzungsregime beendet und gleichzeitig den Beitritt der Bundesrepublik zur Westeuropäischen Union und zum Nordatlantikpakt ermöglicht. Jetzt, da diese Aufgaben gelöst und diese Ziele erreicht sind, sollte dennoch nicht versäumt werden, immer wieder zu betonen, dass nur diese Lösung uns die Sicherheit vor jeglicher Aggression gewährt. Und gerade die Bewohner von Rheinland-Pfalz werden den Abschluss dieser Verträge besonders begrüßen, weil damit auch das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich auf eine neue Grundlage gestellt worden ist und sich zwischen diesen beiden Ländern eine echte Freundschaft für die Zukunft angebahnt hat.
Überlegungen zur Viererkonferenz
Der Besuch des französischen Außenministers Pinay hat diesen Willen zur Zusammenarbeit noch einmal unterstrichen. Diese gesicherte Position ermöglicht uns eine sinnvolle Initiative zur Wiedervereinigung. Mit der Unterstützung aller vierzehn Vertragspartner der NATO werden wir die Forderungen einer Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit mit dem notwendigen Nachdruck erheben. Wir stehen dem sowjetischen Verhandlungspartner nicht mehr isoliert gegenüber. Wir werden nun zu überlegen haben, wie diese Verhandlungen mit der Sowjetunion begonnen werden können, und die Tagung der Arbeitsgruppe in London, die der Vorbereitung einer großen Viererkonferenz dient, hat unter voller Beteiligung der deutschen Vertreter den Weg erkundet, der in diesen Verhandlungen mit der Sowjetunion beschritten werden soll. Die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit ist nach wie vor das große und unabdingbare Anliegen des deutschen Volkes.
Wir werden nicht müde werden, für die Freiheit der 18 Millionen Landsleute hinter dem Eisernen Vorhang zu arbeiten und zu ringen. Der Tag der Wiedervereinigung aber wird nicht kommen, wenn wir uns ungeschützt und praktisch isoliert als eine bündnislose Mitte anbieten. Dass wir auf dem richtigen Wege sind, beweist nicht zuletzt der Kurswechsel der sowjetischen Politik in der Österreichfrage. In diesem Zusammenhang sollte nicht unbeachtet bleiben, dass die Stellung Sowjetrusslands zunehmend von inneren Schwierigkeiten und von dem Verhältnis zu den asiatischen Völkern gekennzeichnet ist, die - insbesondere Rotchina - immer mehr zu politischer Eigenständigkeit drängen. Das Interesse der Sowjetunion an einer Entspannung der politischen und militärischen Lage in Europa nimmt daher ständig zu. Es ist die erklärte Politik der Bundesregierung und der ihr im Nordatlantikpakt verbündeten Mächte, dass der Weg zu dieser Entspannung nur über die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit führen kann.
Während angesichts der Entwicklung der modernen Atomwaffen der militärische Wert der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands ständig geringer wird, wächst das Interesse der Sowjetregierung, durch den Verzicht auf die Zone und auf die Forderung nach Neutralisierung ganz Deutschlands eine für sie günstige Änderung der Europapolitik der Vereinigten Staaten herbeizuführen.
Wir müssen uns darüber klar sein, dass die Sowjetunion ein zäher Verhandlungspartner sein wird, der sich jedes Zugeständnis nur durch ein entschlossenes und gemeinsames Auftreten der Mächte der freien Welt abringen lässt. Es ist daher klar, dass eine Viererkonferenz einer gründlichen Vorbereitung bedarf. Eine gescheiterte Konferenz wäre schlimmer als gar keine. Aber wir können jetzt in Zusammenarbeit mit unseren westlichen Partnern eine solche Zusammenkunft mit allem Ernst, ohne Besorgnis und mit Hoffnung auf Erfolg vorbereiten. Wir müssen uns allerdings darüber klar sein, dass unter Umständen diese Viererkonferenz ein Glied in einer Reihe von sich über geraume Zeit erstreckenden Konferenzen sein kann.
Die Bevölkerung von Rheinland-Pfalz hat nach dem Kriege den Hauptteil der Verantwortung für das Schicksal des Landes in die Hände christlich-demokratischer Männer und Frauen gelegt und diesen Auftrag bei der letzten Landtagswahl erneut bestätigt. Wie im Bund, hat die CDU auch in Rheinland-Pfalz diesen Auftrag nach besten Kräften und zum Wohl des Landes erfüllt. Unsere Partei kann daher mit gutem Gewissen dem Entscheid des Wahltages entgegensehen. Sie hat sich in der Erfüllung ihrer Pflichten bewährt.
Saarlösung im Gesamtrahmen
Das große Maß an Verantwortungsbewusstsein wurde auch an jener Frage deutlich, die in Rheinland-Pfalz besondere Bedeutung besitzt, der Saarfrage. Hier ist gegenüber dem früheren Status eine umfassende und spürbare Verbesserung erzielt worden. Das würden auch diejenigen, die das Abkommen in oft unqualifizierbarer Weise angreifen, sofort erkennen, wenn sie die Texte genau und objektiv studierten. Sie würden zweifellos feststellen, dass die Bildung und die freie Betätigung von Parteien, die bislang unmöglich war, einen unbestreitbaren Fortschritt darstellen.
Die Bevölkerung an der Saar hat die Möglichkeit, im freien Spiel der politischen Kräfte ihrer Meinung Ausdruck zu geben und in Freiheit eine Vertretung für das Parlament des Saargebietes zu wählen. Es ist eindeutig festgelegt, dass das Saarstatut ein Provisorium darstellt und keine Dauer- oder gar Endlösung. Was kann man mehr erwarten und verlangen, als dass die Saarbevölkerung ihr politisches Schicksal selbst in die Hand nehmen und letztlich darüber entscheiden kann!
Das Saarproblem muss darüber hinaus im Gesamtrahmen der europäischen Politik und der Pariser Verträge beurteilt werden. Erst unter diesem größeren Aspekt wird man ihm gerecht werden können. Der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, dem das Schicksal der Saar vor allen anderen Problemen stets am nächsten am Herzen lag, hat in dieser Erkenntnis und in der daraus erwachsenden Verantwortung seine Entscheidung im Bundesrat getroffen und mitgeholfen, den Weg der Bundesrepublik für eine wahre europäische Politik freizumachen.
Schließlich sei darauf hingewiesen, dass ebenfalls das Bundesverfassungsgericht in seinem Entscheid dieses Saarabkommen auch von der juristischen Seite her als gültig und unanfechtbar gekennzeichnet hat. Das Gericht hat anerkannt, dass das Abkommen deutliche Verbesserungen gegenüber dem bisherigen Zustand enthält und den Status des Saargebietes wesentlich näher an die Vorstellungen des Grundgesetzes heranführt. Es hat dieses Abkommen als verfassungsmäßig erklärt und eine Haltung abgelehnt, wonach "das Schlechte dem Besseren nicht weichen dürfe, weil das Beste nicht erreichbar sei". Damit hat es auch vom Geiste der Verfassung her diesen für die Saar erzielten klaren Fortschritt höher bewertet als ein Untätigbleiben.
Die rheinland-pfälzische Situation
Der Wähler in Rheinland-Pfalz weiß, dass sein Land im Zuge der allgemeinen wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung der Bundesrepublik einen guten Platz erobert hat. Einige Zahlen mögen diesen Stand greifbar machen:
Die Industrie des Landes hat ihren Grundumsatz von 3,6 Milliarden D-Mark im Jahre 1950 auf 6,5 Milliarden D-Mark im Jahre 1954 erhöht und damit den Bundesdurchschnitt übertroffen. Rheinland-Pfalz gilt als ein Land mit Vollbeschäftigung. Die Zahl der Beschäftigten ist von rund 702.000 im Jahre 1949 auf 930.000 im Jahre 1954 gestiegen und nähert sich der Millionengrenze.
Trotz dieser Leistungen und Entwicklungen gehört Rheinland-Pfalz zu jenen Ländern, die wegen ihrer vielfältigen lebensnotwendigen Aufgaben der Hilfe des Bundes bedürfen. Besonders der Notstand in den Grenzgebieten des Landes erfordert eine nachhaltige Unterstützung durch den Bund, und es darf in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass aus dem Grenzlandförderungsprogramm des Bundes für das Rechnungsjahr 1954/55 rund 11,8 Millionen D-Mark für die Beseitigung von Wirtschaftsschäden bereitgestellt worden sind. Außerdem flossen der Agrarwirtschaft des Landes Rheinland-Pfalz aus dem Programm der Bundesregierung zur Förderung vordringlicher agrarpolitischer Maßnahmen nicht geringe Summen zu. An den Gesamtkosten der Siedlungsmaßnahmen in Höhe von etwa 58,5 Millionen D-Mark beteiligte sich der Bund allein mit 42 Millionen D-Mark.
Die Bundesregierung fühlt sich auch weiterhin verpflichtet, das Land Rheinland-Pfalz in seinen Bemühungen um die Gesundung der Grenzgebiete und der durch die Kriegshandlungen sehr stark mitgenommenen Teile der Landes zu unterstützen und die vielgestaltigen sozialen Probleme lösen zu helfen. Aber alle diese Bemühungen um den weiteren Aufstieg des Landes würden gefährdet sein, wenn der Wähler durch seine Stimme nicht zur weiteren klaren Verfolgung des bisher eingeschlagenen Weges seinen Auftrag erteilte. Zur weiteren Aufwärtsentwicklung ist es notwendig, dass die bisherige Politik fortgeführt wird. Die CDU in Rheinland-Pfalz stellt sich am 15. Mai in Ruhe und Zuversicht den Wählern des Landes.
Quelle: Bundesländerdienst vom 12. Mai 1955. Zugleich in: Trierische Landeszeitung vom 14. Mai 1955 (unter dem Titel "Entscheidung des 15. Mai").