13. Juli 1951

Aussprache des Bundeskanzlers mit Chefredakteuren

Der Bundeskanzler war bei dieser Zusammenkunft aufgeschlossener und weit offener als bei früheren ähnlichen Gelegenheiten. Man hatte das Gefühl, dass die Beendigung der Bundestagsverhandlungen und die Aussicht auf den bevorstehenden Ferienmonat zu dieser Auflockerung beigetragen hatten. Er bat, von einem ausgesprochenen Vortrag absehen zu dürfen, statt dessen möchte er Fragen, aus denen sich dann das Gespräch entwickeln werde. Die folgende Zusammenfassung gibt im wesentlichen unter Fortlassung der Fragen die Gedankengänge Adenauers so wieder, wie er sie dem Sinne nach und zum Teil wörtlich aussprach.

Es wurde ganz zu Anfang eine Frage danach gestellt, ob die Probleme deutscher Verteidigungsbeitrag und Herstellung der deutschen Souveränität unbedingt miteinander verquickt seien oder ob die Herstellung der deutschen Souveränität nach seiner Auffassung auch ohne den Verteidigungsbeitrag zu erzielen sei.

Das seien doch zwei Dinge, die rein sachlich miteinander zusammenhingen, meinte er. Wesentlich an der politischen Situation sei die Bedrohung durch die Sowjetunion. Gegen diese Bedrohung suche sich der Westen zu sichern. Der deutsche Verteidigungsbeitrag gelte als ein Zeichen dafür, dass Deutschland sich voll dem Westen anschließen wolle. Wenn man von deutscher Seite diesen Verteidigungsbeitrag ablehne, so müsse das im westlichen Lager ja den Eindruck machen, als strebten wir mindestens nach einer Neutralität, um uns aus der Ost-West-Spannung herauszuhalten, und Neutralität rufe natürlich sofort das Misstrauen hervor, dass man in Wirklichkeit mit beiden Lagern zu spielen beabsichtige. Streben nach Souveränität unter Verweigerung eines deutschen Verteidigungsbeitrages sei also mit Aussicht auf Erfolg nicht gut denkbar.

Gegen den Schuman-Plan hätten sich in der letzten Zeit eine Anzahl französischer Industrieller gewandt. Sie hätten dabei auch mit belgischen, italienischen und deutschen Industriellen Fühlung genommen. Er glaube aber nicht, dass diese Strömung in der französischen Industrie sich durchsetzt. Frankreich sei durch den Schuman-Plan diplomatisch stark in Front gekommen. Es gäbe also keine denkbare französische Regierung, die in der Lage sein würde, das durch den Schuman-Plan gewonnene internationale Ansehen wieder preiszugeben, indem sie auf die Kohle- und Stahl-Union verzichte. (Aus einem Gespräch mit Staatssekretär Hallstein hatte sich vorher ergeben, dass mit der Ratifizierung des Schuman-Planes in allen beteiligten Ländern erst in der ersten Oktoberwoche zu rechnen ist, weil jetzt überall die Parlamentsferien beginnen. Das wäre dann kurz vor dem letzten vorgesehenen Ratifizierungstermin, dem 17. Oktober. Die Frage, wer schneller oder langsamer ratifiziert, ergibt also höchstens eine Differenz von einigen Tagen.)

Deutscher Verteidigungsbeitrag: Eisenhower hält sich in der ganzen Frage aus begreiflichen Gründen sehr zurück. Es ist wohl ganz ernsthaft, dass er als Präsidentschaftskandidat in Betracht kommt, so dass er sich nicht vorzeitig exponieren, sondern sozusagen auf einen diplomatisch-militärischen Erfolg zusteuern will, der diese Kandidatur weitgehend sichert. Er wird also in der Frage des Verteidigungsbeitrages nicht eigentlich ultimativ handeln (gemeint ist gegenüber den Franzosen), sondern die Dinge bis zu dem Punkt abrollen lassen, wo den Franzosen gar nichts anderes übrig bleibt, als sich nach den militärisch-technischen Notwendigkeiten zu richten.

Pleven-Plan: Man muss die Dinge in größerem Zusammenhang sehen. Grundlage aller Politik ist die Tatsache, dass Russland Gesamtdeutschland in die Hand bekommen will, um sein Kriegspotential zu erhöhen. Zu diesem Zweck muss es Deutschland unverwüstet bekommen, d.h. nicht durch Krieg. Aus diesem Grunde versucht Russland immer wieder, in Frankreich und in England die Kräfte zu mobilisieren, die gegen den Aufbau einer deutschen Verteidigung sind. Gleichzeitig versucht es, die kommunistischen Einflüsse in Frankreich und in Italien auszubauen. Gelänge es Russland, sein Kriegspotential durch die Einbeziehung eines unverwüsteten Deutschland zu vergrößern, so wäre es für die USA ein wirklich starker Gegner, was jetzt nicht in diesem Maße der Fall ist. Die sowjetische Politik zielt deshalb auf Neutralisierung und Demilitarisierung, weil ein solches Vakuum in Europa die unvermeidliche Folge haben würde, dass in wenigen Jahren Westdeutschland völlig der Sowjetunion ausgeliefert ist, die ja von der Ostzone her dann völlig freie Hand hätte, in Deutschland mit kommunistischer Propaganda zu wirken.

In diesem Zusammenhang bekommt der Pleven-Plan einer Europa-Armee erst seine tiefere Bedeutung. Man muss ja trennen zwischen dem augenblicklichen Spannungszustand, der den Atlantik-Pakt hervorgerufen hat, und einer späteren Zeit, in der diese unmittelbare Spannung Moskau-Washington vielleicht nachgelassen hat und in der die Masse der amerikanischen Bevölkerung also dahin drängen würde, dass die USA-Truppen aus Europa zurückgezogen werden. Für diesen späteren Zeitpunkt ist eine europäische Armee ganz unerlässlich, weil sonst Europa völlig hoffnungslos den Sowjets gegenüberstände.

Die Form des deutschen Verteidigungsbeitrages wird sich schließlich daraus ergeben, dass nach amerikanischer Auffassung weder eine atlantische noch eine europäische Verteidigung ohne Deutschland möglich ist. Darin liegt das ausgesprochene indirekte Druckmittel gegen französische Strömungen, die diesen deutschen Beitrag in eine militärisch unmögliche Form bringen möchten.

Frankreich und England sind durch starke innenpolitische Verwicklungen heute nur in begrenztem Maße außenpolitisch aktionsfähig. Frankreich hat zwar die Wahlen überwunden und wird also wohl in einiger Zeit zur Ruhe kommen. England aber ist stark gehemmt durch die Revolte in der Labour-Party, den kommenden Labour-Parteitag im Herbst und die vielleicht im Herbst bevorstehenden Wahlen. Das englische auswärtige Amt, das in früheren Jahren auch in Zeiten parteipolitischer Auseinandersetzungen den Kurs unverändert fortsetzte, ist aber durch den Personalwechsel, der seit 1945 eingetreten ist, sehr lahmgelegt und kann deshalb die frühere Tradition einer parteipolitisch unabhängigen Außenpolitik nicht fortsetzen.

Französische Absichten bei Pleven-Plan: Es ist durchaus möglich, dass die Urheber des Pleven-Planes geglaubt haben, dadurch die Mitwirkung Deutschlands in der atlantischen Verteidigung auszuschalten. Aber inzwischen haben sich die Verhältnisse eben wesentlich geändert, und bei dem jetzigen Stand können sich auch die Pleven-Plan-Kreise in Frankreich den Forderungen Eisenhowers gar nicht mehr entziehen.

Strategische Verteidigungslinie: Die strategische Verteidigungslinie liegt fest, ich kenne sie, darüber können Sie unbesorgt sein. Aber (plötzlich sehr lebhaft) das kann ich Ihnen allerdings sagen, wenn es mit gewissen deutschen Stimmen so weitergeht wie bisher, dann kann allerdings der Augenblick kommen, in dem die strategischen Pläne von Grund auf geändert werden. Sie dürfen doch nicht vergessen, dass ein doppeltes Misstrauen immer besteht: einmal dass eine gewisse große Partei, wenn sie im Jahre 1953 zur Regierung kommen sollte, einen wilden Nationalismus loslassen würde (unmittelbar war von Schumacher die Rede gewesen). Ebenso wenig wie ich die Ohne-Mich-Politik mitgemacht habe, mache ich Herrn Schumachers Alles-oder-Nichts-Politik mit. Zum anderen richtet sich das Misstrauen dahin, dass Deutschland, wenn es souverän ist und eine eigene Armee hat, mit dem Osten fraternisieren könnte.

Evangelischer Kirchentag: (noch lebhafter) In dieser Hinsicht hat heute "Die Welt" Deutschland einen sehr schlechten Dienst erwiesen. Sie bringt auf der ersten Seite ein Bild, das Herrn Pieck neben dem Bischof Dibelius zeigt und außerdem noch Nuschke und Diekmann, und in der Unterschrift sagt sie, dass der ostzonale Staatspräsident der Eröffnungsfeier beiwohnte. Sehen Sie, das ruft immer wieder Fraternisierungsbefürchtungen bei den Westmächten hervor. Längere Diskussion über den Kirchentag.

Adenauer: Sie wissen ja gar nicht, was alles dahinter steckt. Zuerst sollte Pieck als Staatspräsident ganz offiziell auf dem Kirchentag begrüßt werden. Das wurde gerade noch abgebogen. Aber wir können doch nicht Bundesministern zumuten, dass sie sich neben Herrn Pieck auf die Bank der Ehrengäste setzen. Und die Fraternisierungsbefürchtungen des Westens werden noch durch manches andere genährt. Heute habe ich gerade gehört, dass Herr Niemöller in 14 Tagen mit Grotewohl über das Thema "Frieden" sprechen will, und an mich wurde nun die Forderung gerichtet, ich sollte vorher mit Niemöller über das gleiche Thema sprechen. Auseinandersetzung darüber, ob es zweckmäßig war, den evangelischen Kirchentag in Berlin abzuhalten, oder mindestens, ob sich nicht vermeiden ließ, dass eine so große Zahl von Kirchentagsveranstaltungen in den Ostsektor gelegt werden.

Division oder nicht? Die Größe der Einheiten bei einem deutschen Verteidigungsbeitrag ist eine rein militärisch-technische Frage, nicht eine Prestige-Frage. Seit 1945 ist in dieser Hinsicht auch ein gewisser Wandel in der deutschen Meinung eingetreten. Die Sachverständigen bezeichnen jetzt allgemein die Einheit von 12.000 Mann als die richtige Form, die nicht zu schwerfällig ist, aber doch alle die verschiedenen Waffen und taktischen Einheiten umfassen kann. Kleinere Kampfgruppen gehen nun einmal nicht. Soweit ich weiß, haben auch die Franzosen durchaus die militär-technische Meinung, dass Formationen von 12.000 Mann erforderlich sind. Und im übrigen würde in dieser Frage wohl ausschlaggebend sein, dass Eisenhower sich nicht mit Formationen zufrieden geben würde, die nicht voll kampfkräftig aus militär-technischen Gründen sind.

Zeitplan und Wehrkosten: Wir werden es natürlich zunächst mit Freiwilligen versuchen (auf die direkte Frage: Soll man dann aber nicht sagen, dass keine Wehrpflicht kommt? Die Antwort: Darauf kann ich mich nicht festlegen, wenn ich ehrlich bleiben will. Man kann nie wissen, wie die Entwicklung läuft, und wie würde ich dann dastehen. Aber das alles geht ja langsam, zunächst würde man ja erst einmal nur 50.000 Mann aufstellen, für die bestimmt die notwendige Zahl von Freiwilligen da ist. Wahrscheinlich auch für die ganzen in Betracht kommenden 250.000 Mann.) Eine Entscheidung über den deutschen Wehrbeitrag ist im Herbst zu erwarten. Man kann aber (das wiederum Antwort auf eine direkte Frage) jetzt noch nichts tun, um die Stimmung der Bevölkerung psychologisch vorzubereiten, denn das alles hängt ja noch international gesehen in der Luft. Und es wäre falsch und auch unrecht, wenn man jetzt der Bevölkerung bestimmte Dinge sagen wollte, ohne dass man selbst noch die Grundlage kennt.

Die Verteidigungskosten: Es ist stets daran festgehalten worden, dass die besonderen sozialen Aufwendungen Deutschlands durch Vertriebenenfrage, Arbeitslosigkeit usw. zur Sicherung der inneren Front notwendig sind, also zum Teil echte Verteidigungskosten darstellen. Ebenso sind die Besatzungskosten echte Verteidigungskosten. Was Deutschland also mit dem Verteidigungsbeitrag finanziell aufbringt, wird in jedem Fall unter Beachtung dieser jetzt schon bestehenden indirekten und direkten Verteidigungskosten festgesetzt werden.

Gleichberechtigung: Zu den Dingen, über die gar nicht diskutiert werden darf, gehört es, dass Deutschland natürlich auch in allen höheren Stäben vertreten ist und dass deutsche Divisionen ebenso wie andere Divisionen ausgerüstet sind. Aber man darf sich bei der Gleichberechtigung auch über manches Tatsächliche nicht hinwegtäuschen. Wenn z. B. das Besatzungsrecht überhaupt wegfiele, würde die Frage Berlin sehr kritisch werden, weil ja offiziell die Saar nach wie vor besetztes Gebiet ist, wenn die Franzosen dort auch stellvertretend die Besatzung ausüben. Außerdem muss beachtet werden, dass das Grundgesetz keinen Belagerungszustand kennt. Wenn es also irgendwo zu Unruhen größeren Umfanges kommen sollte, bietet nur das Besatzungsrecht Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Natürlich muss alles durch zweiseitige Verträge geregelt werden, und auch bei einem solchen Vorgehen auf Grund des Besatzungsrechtes muss Sicherheit bestehen, dass nur mit deutscher Zustimmung etwas gemacht wird. Aber ganz pauschal kann man das Besatzungsrecht doch nicht verwerfen. Die Frage wird bei uns jetzt sehr genau geprüft.

Saargebiet: Die Äußerung im Bundestag, dass in absehbarer Zeit eine befriedigende Regelung zu erwarten sei, hatte als konkrete Unterlage die Äußerung verschiedener sehr maßgebender Franzosen in dem Sinn, dass der jetzigen Saarpolitik durch die Entwicklung praktisch die Grundlage entzogen sei. Die alliierte Zustimmung zur französischen Saarpolitik ging seinerzeit davon aus, dass Deutschland der potentielle Kriegsgegner ist. Diese Voraussetzung ist völlig verschwunden. Die politische Grundlage für den jetzigen Zustand an der Saar ist also nicht mehr da, und alle maßgebenden Beteiligten sind sich darüber klar, dass das auch praktisch zu einer Änderung führen muss. Aber man darf die Dinge nicht übereilen. Wir haben sehr genaue Feststellungen darüber, dass es für eine Volksabstimmung heute noch zu früh wäre. Vorläufig glauben so viele Leute im Saargebiet, der heutige Zustand bringe ihnen sonst unerreichbare wirtschaftliche Vorteile, dass wahrscheinlich bei einer Volksabstimmung eine Mehrheit für die Erhaltung des jetzigen Zustandes kommen würde. Aus diesem Grunde möchten wir auch gar nicht, dass etwa Hoffmann im Oktober Wahlen macht, die jetzt noch seine Politik stützen könnten. In zwei bis drei Jahren wird das alles ganz anders aussehen, dann wird man auch im Saargebiet wissen, dass es in Deutschland wirtschaftlich nicht schlechter geht als bei dem jetzigen Zustand der Autonomie. Natürlich muss man ständig im Saargebiet arbeiten. Aber es ist um so besser, je weniger davon geredet wird. Wozu macht man denn so viel von Herrn Granval oder Herrn Hoffmann. Das sind doch keine großen Leute. Warum also gleich soviel Aufsehen machen, wenn einer von ihnen mal ein Interview macht oder eine Rede hält.

Mehrmals im Verlauf der Aussprache hatte der Bundeskanzler darauf aufmerksam gemacht, dass er sich wirklich einmal ganz offen ausspreche und dass alle seine Äußerungen unter keine Umständen für die Veröffentlichung benutzt oder zu Indiskretionen verwendet werden dürfen. Abschließend bat er noch einmal sehr eindringlich, das Ganze als eine persönliche und private Aussprache aufzufassen, die nichts mit einer Pressekonferenz zu tun habe. Er sei der Meinung, dass man sich von Zeit zu Zeit mit den Verantwortlichen der deutschen Presse völlig offen unterhalten müsse, aber dann müsse er auch sicher sein, dass er mit solcher Offenheit nicht die politische Arbeit schädige.

Ganz zum Schluss wiederholt er noch einmal seinen Grundgedanken: Die Gefahr für Deutschland sei sehr groß, nicht die Kriegsgefahr, denn davor scheuten die Russen wohl zurück. Aber die Gefahr, dass man auf eine Neutralisierung und Entmilitarisierung Deutschlands hinsteuere, um dann in einigen Jahren Deutschland ganz risikolos in die Hand zu bekommen.

 

Quelle: BArch, NL Kaiser 18/89.