13. Oktober 1950

Rundfunkansprache des Bundeskanzlers Adenauer

 

Deutsche Männer und Frauen!

Millionen Deutsche werden am 15. Oktober in der sowjetischen Besatzungszone zu einer Wahl aufgefordert, die in Wahrheit keine Wahl ist. Soweit sie sich nicht ohne Gefährdung ihrer Person und ihrer Existenz der Stimme enthalten oder einen ungültigen Stimmzettel abgeben oder sonst die Ablehnung dieser Scheinwahl bekunden können, werden sie gezwungen, einem politischen System ihre Stimme [zu] geben, das sie aus innerster Überzeugung ablehnen und verabscheuen.

Ein Wahlakt, der dem Staatsbürger nicht mehr ermöglicht, frei und ohne Gefahr für Leib und Leben seiner wahren politischen Meinung Ausdruck zu verleihen, ist keine Wahl. Er ist eine erschreckende Vergewaltigung nicht nur der staatsbürgerlichen Rechte, sondern auch der menschlichen Würde. Er ist der Ausdruck eines Systems der politischen Entrechtung, das angesichts einer demokratischen Welt und unserer durch freie Wahlen begründeten Bundesrepublik noch nicht den Mut gefunden hat, auf einen demokratischen Deckmantel zu verzichten, unter dem es seine Gewalttätigkeit verbirgt.

Aus dieser Wahl können daher die Inhaber der Gewalt in der sowjetischen Besatzungszone keinerlei Rechte herleiten, im Namen ihrer Bevölkerung oder gar des deutschen Volkes zu sprechen oder politische Entscheidungen zu treffen.

Im Gegenteil: Die Aufstellung einer Einheitsliste, die Kontrolle der Wahlkandidaten durch die Organe der SED, die Verteilung der Sitze vor der Wahl beweist, daß die Inhaber der Gewalt in der sowjetischen Besatzungszone sich durchaus der Tatsache bewußt sind, daß ihnen niemals vom Volke ein politischer Auftrag erteilt würde, falls sie wirklich freie und demokratische Wahlen zuließen.

Die Wahl vom 15. Oktober, deren Ergebnis schon jetzt festgesetzt ist, ist daher auch kein Bekenntnis der Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone zum kommunistischen System, sondern ein Akt der politischen Erpressung, der seine Opfer weder bindet noch es erlaubt, sie schuldig zu sprechen.

Ich bin überzeugt, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der Sowjetzone sich bei freien Wahlen gegen den Kommunismus in jeder Form und für ein freies demokratisches Deutschland entscheiden würde.

Die Bundesregierung hat solche freie Wahlen für Gesamtdeutschland immer wieder gefordert. Sie hat stets den dringenden Wunsch wiederholt, daß die Einheit Deutschlands in Freiheit und Menschenwürde wieder hergestellt wird. Die Furcht vor der freien Entscheidung der gesamtdeutschen Bevölkerung hat die Machthaber der sowjetisch besetzten Zone veranlaßt, die Wiederherstellung der Einheit durch freie gesamtdeutsche Wahlen unmöglich zu machen. Sie haben daher trotz ihrer gegenteiligen Beteuerung bisher die Einheit Deutschlands verhindert.

Die Bundesregierung wird keine Mühe scheuen, diese Einheit in Freiheit und Recht zu erreichen. Sie ist sich dabei ihrer besonderen Verantwortung gegenüber der unterdrückten Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone bewußt. Sie ist überzeugt, daß sie bei diesem Ziel von dem Vertrauen und dem Wunsche dieser Bevölkerung getragen ist. Daß diese Überzeugung keine leere Annahme ist, beweist das überwältigende Ergebnis der Volksbefragung der Ostberliner.

Die Bundesregierung ist bemüht, auf dem Gebiete der Bundesrepublik eine echt soziale Ordnung zu schaffen, die später auch die Grundlage für ein gesamtdeutsches Sozialgefüge sein kann. Sie hat das Gesetz über das Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer in ihren Betrieben, den Lastenausgleich für Millionen von Vertriebenen, das Versorgungsgesetz für die Kriegsopfer und ähnliche gesetzliche Maßnahmen zur sozialen Neuordnung soweit vorbereitet, daß sie in wenigen Wochen verabschiedet werden können. Es werden mit ihrer Unterstützung in diesem Jahre rund 350 000 Wohnungen erstellt werden. Auch die Arbeitslosigkeit hat sich fortlaufend vermindert. All diese Erfolge auf dem sozialen und wirtschaftlichen Sektor hat sie erzielt ohne soziale Druckmittel bei freier Vereinbarung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, bei freiem Koalitionsrecht, bei freier Arbeits- und Berufswahl.

Die Bundesregierung war und ist überzeugt, daß die verantwortungsbewußte Zusammenarbeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern der Weg zur Lösung aller sozialen Probleme ist. Auf diesem Wege ist nicht nur bisher der soziale Friede gesichert worden, es wurde auch eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung der Bundesrepublik mit allen Versorgungsgütern erreicht, und es wird unser Bemühen sein, auf dem gleichen Wege eine weitere Steigerung des Lebensstandards zu erreichen.

Wir lehnen mit aller Entschiedenheit die Zwangsarbeit für Männer und Frauen ab, wie sie in der Ostzone in unmenschlicher Weise durchgeführt wird. Wir halten es unter der menschlichen Würde, den arbeitenden Menschen in seiner Arbeitskraft durch Produktionsaktivs und überhöhtes Leistungssoll auszubeuten. Wir bedauern aufs tiefste die unzureichende Versorgung der Bevölkerung der Sowjetzone mit allen wesentlichen Lebensmitteln und Gebrauchsgütern. Wir glauben nicht, daß die arbeitende Bevölkerung der Sowjetzone mit dieser Art einer sozialen Ordnung einverstanden ist.

Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß sich auch die Jugend niemals mit diesem System der Unfreiheit und der Minderung des Lebensstandards abfinden wird. Sie weiß zwar, wie schwer es dieser Jugend gemacht wird, im Nebel einer unwahrhaftigen Propaganda sich den kritischen Blick für die Wirklichkeit offen zu halten. Aber sie hat genügend Zeugnis dafür, daß die Jugend mit beispielhaftem Mut sich zur Freiheit der Persönlichkeit und zu den Gütern abendländischer Kultur bekennt.

Diese Jugend ist unsere Hoffnung. Sie wird zusammen mit der Jugend der Bundesrepublik helfen, die Einheit Deutschlands wieder herzustellen, nicht eine Einheit in äußerer und innerer Unfreiheit, in Zwangsarbeit und Leistungssoll, wie einige verblendete und unreife Jugendliche es wünschen. Die Jugend, der die Zukunft gehört, soll in der Einheit eines Deutschlands leben, das frei ist von Furcht vor jeglicher Willkür, das die Ehre und Würde der Arbeit achtet, das eingeschlossen ist in die Gemeinschaft der europäischen Völker und das seine geistige Kraft aus abendländisch-christlichem Geist immer wieder erneuert.

Deutsche Frauen und Männer, deutsche Jugend der Ostzone, laßt Euch nicht beirren durch eine Wahl, die diesen Namen nicht verdient. Wir kennen Eure Gewissensnot und vertrauen Euch, wie immer auch das vorher festgelegte Ergebnis dieser Wahl sein wird. Wir hoffen mit Euch auf ein Deutschland in Einigkeit und Recht und Freiheit.

 

Quelle: Mitteilung an die Presse Nr. 881/50. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Pressearchiv F 1/25.