13. September 1955

Wachstum im Gleichgewicht als Aufgabe

Der Bundeskanzler zum Lohn-Preis-Problem - Rücksichtnahme auf die außenwirtschaftlichen Beziehungen und alle Bevölkerungsschichten

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Die Bundesregierung weiß, daß der gegenwärtige Zustand der fast vollen Beschäftigung aller Arbeitskräfte nicht frei ist von Problemen und Schwierigkeiten. Die Gefahren würden bei wirtschaftspolitischen Fehlern schnell gespürt werden. Als wichtigste wirtschaftliche Aufgabe bleibt deshalb bestehen, auch für die Zukunft einen stetigen Aufstieg der Erzeugung von Industrie, Landwirtschaft und Gewerbe zu gewährleisten, der frei von bedenklichen Entwicklungen bleiben muß. Um so leichter wird es für uns sein, nicht nur den Wohlstand aller Schichten des Volkes stetig zu vermehren, sondern auch für die noch nicht ausreichend gelösten sozialen Fragen der von den Kriegsfolgen besonders hart getroffenen Bevölkerungskreise der Vertriebenen, Flüchtlinge, Kriegsopfer, Altsparer und Rentner größere finanzielle Möglichkeiten zu gewinnen. Die Lebenshaltung aller Bevölkerungsschichten zu verbessern, ist das eigentliche Ziel jeder wirtschaftlichen Tätigkeit. Für die westliche Welt ist ein wirtschaftliches Wachstum nur dann etwas wert, wenn es diese grundlegende Bedingung erfüllt.

Unsere bisherigen Erfolge haben sich in einer Wirtschaftsordnung vollzogen, in der Regierung und Staat auf unmittelbare Eingriffe in das Wirtschaftsleben, soweit möglich, verzichtet haben. Die Regierung hat weder Preise noch Löhne festgesetzt. Sie hat dazu verfassungsmäßig ja auch gar keine Rechte. Was die Regierung in dieser Hinsicht nur tun kann und immer wieder tun wird, ist, ihre Meinung zu sagen und einen Rat auszusprechen sowie die Finanz- und Wirtschaftspolitik des Staates so zu handhaben, daß die deutsche Währung gesund bleibt, die Bedürftigen genügend versorgt werden und für Initiative und Selbstverantwortung im Wirtschaftsleben der nötige Spielraum bleibt.

Zwischen der Preis-, Kredit- und Lohnpolitik und der allgemeinen Wirtschaftslage bestehen enge Zusammenhänge. Diese haben Einfluß aufeinander und auch besonders auf Art und Umfang unseres Güteraustausches mit dem Ausland. Durch die Entschlüsse der Verbraucher, zu kaufen oder zu sparen, sowie durch das Verhalten der Unternehmer gegenüber den jeweiligen Marktlagen werden die Spar- und Investierungsraten bestimmt, wobei wir aus Erfahrung wissen, daß diese für ein wirtschaftliches Gleichgewicht wichtigen Größen nicht durch Befehle, wohl aber durch eine geschickte Finanz- und Steuerpolitik und eine verantwortungsbewußte Währungspolitik in guter Weise zu beeinflussen sind.

Wir müssen uns stets klar machen, daß dieses wirtschaftspolitische Handeln nicht mechanisch erfolgt; es ist abhängig vom Verhalten der Bevölkerung, die besonders in einer Hochkonjunktur vom Vertrauen, dem Gemeinsinn und Verantwortungsbewußtsein bestimmt sein müssen. Die unbestreitbaren Erfolge, wie sie augenblicklich an vielen Wirtschaftszahlen abzulesen sind, dürfen uns nicht in eine Stimmung versetzen und zu Erwartungen verleiten, die über das Maß dessen hinausgehen, was zu verwirklichen ist. Wir müssen uns vor einem stimmungsmäßigen Zustand hüten, in dem wir die materiellen Möglichkeiten überschätzen und uns zu übertriebenen Forderungen und Handlungen verleiten lassen, die das Gleichmaß des erwünschten Wachstums gefährden könnten. Darum sollen Arbeitgeber und Gewerkschaften in gemeinsamer Verantwortung das Lohnniveau finden, das den produktiven Möglichkeiten entspricht. Die Bundesregierung muß wünschen, daß sie dabei Rücksicht nehmen auf unsere außenwirtschaftlichen Beziehungen wie auch auf die breiten Bevölkerungsschichten, deren Einkommen nicht ohne weiteres vergrößert werden kann. Die Bundesregierung erwartet aber auch, daß die spekulativen Kräfte sich zurückhalten und daß über Preise, Kurse und Gewinne nach dem Grundsatz der sozialen Verantwortung vor dem Ganzen mit Umsicht und Vorsicht verfügt wird. Ich habe keinen Zweifel, daß an manchen Stellen die in letzter Zeit erzielten hohen Gewinne nicht genügend genutzt wurden, um die Preise zu senken. Schwankungen der wirtschaftlichen Tätigkeit werden auch in Zukunft nicht zu vermeiden sein; der Wachstumsprozeß wird aber ungestörter verlaufen, wenn jetzt von allen Beteiligten Disziplin geübt wird. Nur so wird, wie bisher, das Realeinkommen stetig verbessert werden können. Fordert ein Partner, sei es der Unternehmer oder der Arbeiter, einen zu hohen Anteil an dem vermehrten Sozialprodukt, dann setzt er die Preis-Lohnspirale in Gang und bringt alle, auch sich selbst, um jeden Vorteil.

Im Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit der deutschen Unternehmer und Arbeitnehmer, auf ihre wissenschaftlichen, technischen und organisatorischen Fähigkeiten hat die Bundesregierung durch ihre Politik schon vor Jahren die Türen Deutschlands zum Weltmarkt geöffnet. Der Erfolg blieb nicht aus. Daß wir heute im Wettbewerb gegenüber größeren Ländern, die nicht wie wir mitten entzwei geschnitten und auch nicht im gleichen Umfang von Kriegszerstörungen heimgesucht wurden, derart bestehen können, beweist, daß die Regierung richtig gehandelt hat, als sie der Dynamik der wirtschaftlichen Kräfte vertraute und ihnen einen freien Raum der Betätigung verschaffte. Daraus folgt aber auch, daß von der Vernunft und von der Überlegung der einzelnen in der Wirtschaft Tätigen heute mindestens ebensoviel für den zukünftigen Wohlstand abhängt wie von den wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Staates. Deshalb wird die Bundesregierung stets bemüht bleiben, die sozialen und wirtschaftlichen Kräfte zusammenzuführen, damit sie einen gemeinsamen Weg finden, um der Aufgabe eines wirtschaftlichen Wachstums im Gleichmaß durch ihr Verhalten und Handeln gerecht zu werden.

 

Quelle: Schaufenster der Welt. Wirtschaftsjahresheft zur Industrieausstellung Berlin, hg. von der Zeitung Der Tag, Berlin. Zugleich in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 171 vom 13. September 1955, S. 1429f.