14. September 1954

Unterredung des Bundeskanzlers Ade­nauer mit dem Unterstaatssekretär im amerikanischen Außenministerium, Murphy

Anwesend waren Staatssekretär Professor Hallstein, Botschafter Blankenhorn, Gesandter von Herwarth, Botschafter Dr. Conant und Mr. Dowling.

Der Herr Bundeskanzler bemerkte einleitend, alle warteten jetzt auf die Vereinigten Staaten. Amerika sei viel zu geduldig. Schon seit vier Jahren vertrete er diese Auffassung und habe Amerikanern gegenüber immer wieder darauf hingewiesen, dass sie die Europäer nicht kennen und ihnen zu viel Geld geben würden, ohne etwas dafür zu verlangen.

Wegen der europäischen Situation sei er in sehr ernster Sorge. Wie die amerikanischen Herren wahrscheinlich gelesen hätten, seien durch eine Indiskretion, die entweder in London, Brüssel, Den Haag oder Bonn geschehen sei, die Vorschläge, die Eden Mendès France unterbreiten wolle, in etwas entstellter Form in die Öffentlichkeit gelangt. Mit Eden sei in Bonn unter anderem über den Gedanken gesprochen worden, den Brüsseler Vertrag zu verändern und zu erweitern. Dieser Vertrag sei ursprünglich gegen Deutsch­land gerichtet gewesen, und deshalb solle nunmehr der Artikel gegen Deutschland gestri­chen werden. Deutschland solle in das System des Brüsseler Vertrags aufgenommen werden. Dieser Vorschlag entspreche der Veranlagung der Engländer, ein schon vorhande­nes Objekt zu benutzen, um ihn der Welt und insbesondere Frankreich annehmbar zu machen. Ob Frankreich diesem Vorschlag zustimme, wisse natürlich niemand.

Bereits in der gestrigen Unterhaltung sei von Herrn Mendès France gesprochen worden. Der Herr Bundeskanzler glaubte, dass Mendès France Frankreich zur führenden Konti­nentalmacht auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet machen wolle und deshalb versuche, den Konkurrenten Frankreichs, die Bundesrepublik, mit Hilfe der Sowjetunion niederzuhalten. Es dürfte den amerikanischen Herren bekannt sein, dass Mendès France in Moskau eine besondere Note überreichen wollte. Dieser Vorfall habe manchen Leuten die Augen geöffnet und werfe ein scharfes Licht auf das, was Mendès France tue.

Die Bundesrepublik, d. h. die Bevölkerung und die öffentliche Meinung, stehe noch fest. Dies reiche bis weit in die SPD hinein. Doch werde dieser Zustand nicht ewig anhalten. Wenn der Erfolg ausbleibe, werde diese Politik verlassen werden. Die SPD habe eine andere Linie eingeschlagen; in einer Rede, deren Zeitpunkt sich feststellen lasse, habe Professor Carlo Schmid erklärt, man müsse den Ausdruck „Neutralismus" vermeiden. In einer Rede, die er vor kurzem in Schweden gehalten habe, habe er den Begriff „Bünd­nislosigkeit" verwandt, was genau der Formel von Herrn Undén entspreche. Hierzu bemerkte Dr. Conant, dass auch Washington einen ähnlichen Ausdruck in seinem politi­schen Testament gebraucht habe („no entangling alliances"), doch hätten sich inzwischen die Zeiten geändert. Der Herr Bundeskanzler führte weiter aus, dass die SPD bisher mit ihrer Politik keinen Erfolg erzielt habe. Er bat Mr. Murphy herzlich, Mr. Dulles sagen zu wollen, wie dies Mr. Dulles übrigens selbst schon zum Ausdruck gebracht habe, dass die Lage keineswegs ewig so bleiben könne. Es müsse etwas geschehen.

England schicke sich an, in Führung zu gehen. Es lege dabei großen Wert darauf, mit den USA konform zu gehen. Aus einem vertraulichen Gespräch mit Eden habe er den Eindruck gewonnen, dass die 1953 im Zusammenhang mit dem Verhältnis zur Sowjetunion zwischen den Vereinigten Staaten und England bestehenden Meinungsverschiedenheiten nicht mehr vorhanden seien.

Zweifellos könne England in Frankreich gut wirken. Das französische Parlament entspre­che jedoch nicht der Situation unter den französischen Wählern und der Weltlage. Da sich kein Parlament selbst den Todesstoß gebe, werde die französische Nationalversammlung eines natürlichen Todes sterben, was aber erst im Mai 1956 eintreten werde. Das sei eine lange Zeit, und so lange könne man nicht warten. Mit diesem Gedanken müsse man sich vertraut machen. Europa dürfe nicht wegen der hundert kommunistischen Stimmen in Paris, die auf Befehl Moskaus abgegeben würden, zugrunde gehen. Wenn Frankreich nicht fähig sei, die politische Situation zu ändern, müsse man eine Politik verfolgen, die Frankreichs Stuhl freihalte und warte, bis es seinen Platz einnehme.

Mr. Murphy sagte, Mr. Dulles sehe die Lage sehr klar und insbesondere diejenigen Proble­me, die der Herr Bundeskanzler besonders betont habe. Die Möglichkeit eines Zusam­mengehens von Frankreich mit der Sowjetunion sei eine seiner größten Sorgen. Eine französisch-russische Allianz habe bereits in der Vergangenheit bestanden, und Mr. Dulles sei sich der Tatsache bewusst, dass sie in den Gedankengängen von Mendès France und seiner Umgebung auch für die Zukunft eine Rolle spiele. Ein Punkt in den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers scheine ihm besonders wichtig, dass nämlich Frankreich durch eine Allianz mit Russland versuche, Deutschland niederzuhalten. Mr. Dulles seien auch die Tendenzen bekannt, die von einzelnen Franzosen vertreten würden. Ebenso wisse er, genau wie der Herr Bundeskanzler, wie wichtig der Zeitfaktor sei. Er glaube, dass sich die Überlegungen des Herrn Bundeskanzlers und von Mr. Dulles in derselben Richtung bewegten. Ihre Verwirklichung sei jedoch schwierig. Er glaube nicht, dass die Geduld von Mr. Dulles unerschöpflich sei. Bisher seien die Amerikaner wie auch die Deutschen außerordentlich geduldig gewesen, doch komme einmal die Zeit, zu der Entscheidungen getroffen werden müssten. Mr. Dulles habe sich in dieser Frage etwas zurückgehalten, weil er nach dem Scheitern der Brüsseler Konferenz erst die Stellungnahme des Herrn Bun­deskanzlers abwarten wollte. Außerdem habe während der letzten Wochen sein Haupt­interesse fernöstlichen Fragen gegolten. Nunmehr werde er sich aber auf das Europa­problem konzentrieren, und aus diesem Grunde seien [die] gestrigen und heutigen Gesprä­che mit dem Herrn Bundeskanzler nützlich und konstruktiv gewesen und werden dazu beitragen, Mr. Dulles eine Entscheidung besser treffen zu lassen.

Der Herr Bundeskanzler bedankte sich für diese Erklärung. Er wolle einen Punkt an die Spitze stellen: Das Besatzungsregime müsse so bald wie möglich abgeschafft werden; nicht etwa, weil sich die Bundesregierung durch den amerikanischen Hohen Kommissar be­drückt fühle, denn selten sei die Zusammenarbeit so erfreulich wie mit Dr. Conant gewe­sen.

Eine kritische Frage sei jedoch, was geschehe, wenn die Franzosen nein sagten. Was würden dann Amerika und England tun? Mr. Murphy fragte, ob sich Eden hierzu klar geäußert habe. Der Herr Bundeskanzler berichtete, Eden habe gesagt, dass die Frage, was zu tun sei, wenn die Franzosen nicht mitmachten, im britischen Kabinett noch nicht behandelt worden sei. Mr. Murphy erkundigte sich daraufhin, ob Eden auch keine persönliche Meinung zum Ausdruck gebracht habe. Hierauf antwortete der Herr Bun­deskanzler, dass er eine solche habe durchklingen lassen, indem er ihn darauf hingewiesen habe, dass die drei Benelux-Länder glaubten, im Falle einer Ablehnung durch Frankreich allein handeln zu müssen. Er verstehe auch, warum das britische Kabinett vor der Reise Edens nach Paris diese Eventualität nicht erörtert habe. Durch eine Indiskretion hätte davon etwas bekannt werden können, so dass bei den Franzosen leicht der Eindruck entstanden wäre, man wolle ihnen drohen. Wahrscheinlich sollte dies vermieden werden. Im Laufe dieser Woche werde sich die Lage in Paris jedoch klären. Die dringende Bitte, die der Herr Bundeskanzler Mr. Murphy vortragen wolle, sei, dass die Beendigung des Besatzungsregimes sofort in die Hand genommen werde, nötigenfalls von den Vereinigten Staaten und von England allein.

Mr. Murphy sagte, er werde es nicht unterlassen, diesen Punkt Mr. Dulles gegenüber besonders hervorzuheben, der ihn bereits genau kenne und seine Dringlichkeit einsehe. Er selbst hoffe und wünsche, dass dies geschehe, doch kenne er noch nicht das Wie.

Der Herr Bundeskanzler wies darauf hin, dass dies durch eine Erklärung geschehen könne, wenn jede Besatzungsmacht erkläre, dass das Besatzungsregime beendet sei. Wenn die Vereinigten Staaten und England dies täten, würden es auch die Franzosen in kürzester Frist tun. Sonst könnten sie sich nicht in der deutschen Bevölkerung halten. Die Stimmung in der deutschen Bevölkerung sei gegenüber den Franzosen im Gegensatz zu den Ameri­kanern und Engländern schlecht, weil die Franzosen aus ihrer Zone sehr viel an Maschi­nen, Holz und sonstigen Dingen herausgeholt hätten. Wenn die Amerikaner und Englän­der allein vorgingen, könnten es die Franzosen psychologisch nicht durchhalten.

Mr. Murphy erkundigte sich, ob François-Poncet dies verstehe. Der Herr Bundeskanzler gab seiner Überzeugung Ausdruck, dass François-Poncet genauso denke wie er. Seit der Brüsseler Katastrophe habe er ihn nicht mehr gesehen. In der Deutschlandfrage sei François-Poncet immer für eine gute und vernünftige Politik gewesen. Dr. Conant stellte hierzu fest, dass François-Poncet über die augenblickliche Lage sehr traurig sei und sie als schlimm ansehe. Er sei beinahe hoffnungslos und gar nicht zufrieden.

Auf das am Vorabend mit dem Herrn Staatssekretär geführte Gespräch eingehend, sagte Mr. Murphy , dass die von Professor Hallstein geäußerte persönliche Ansicht weitgehend den neuesten Überlegungen des State Department entspräche, selbstverständlich vor­behaltlich der Zustimmung von Mr. Dulles. Insbesondere im Zusammenhang mit der von Professor Hallstein entwickelten dritten Lösung habe sich eine große Ähnlichkeit, ja fast Identität ergeben. Der Herr Staatssekretär wiederholte kurz den Inhalt des Gesprächs vom Vorabend und wies darauf hin, dass er dasselbe Bild wie der Herr Bundeskanzler ge­braucht habe, dass nämlich für Frankreich ein Stuhl freigehalten werden solle. Die dritte Lösung sei mit der zweiten weitgehend übereinstimmend mit dem einzigen Unterschied, dass Frankreich zeitweilig nicht dabei sei. Das Besatzungsregime solle notfalls in der britischen und amerikanischen Zone allein aufgehoben werden.

Der Herr Bundeskanzler sagte, er habe erwogen, wenn sich herausstellen sollte, dass Frankreich nicht mittue, an die drei Besatzungsmächte einen offiziellen Antrag auf Beendi­gung des Besatzungsregimes zu stellen. Dr. Conant fragte, wie dann der Status der in Deutschland stationierten Truppen geregelt werden solle. Hierzu bemerkte der Herr Staatssekretär, dass die Truppen selbstverständlich hier bleiben könnten. Es handle sich dann um eine Ausnahme oder Einschränkung. Ergänzend bemerkte der Herr Bundes­kanzler, dass dies so sein müsse. Wenn aber die Bundesrepublik einen offiziellen Antrag stelle, bringe sie die Beratungen zwischen den Drei Mächten von der Stelle. In einem derartigen Antrag würde stehen, dass die Fragen Berlins, Gesamtdeutschlands, der Trup­penstationierung und der finanziellen Leistungen eine Ausnahme bilden würden. Ein solcher Antrag würde dazu beitragen, einen Schritt weiterzukommen.

Mr. Murphy fragte sodann, wie diese Truppen genannt würden. Der Herr Staatssekretär erwiderte, dass es dann Verteidigungstruppen wären und dass zum Beispiel das Requisi­tionsrecht ein Residuum des Besatzungsregimes wäre.

Der Herr Bundeskanzler wies darauf hin, dass man seit 1945 eine Reihe von Entwicklungs­stufen durchlaufen habe. Zunächst hätten die Alliierten die gesamte Gewalt gehabt, dann sei ein Stück freigegeben worden, dann wieder und so fort; das letzte Stück sei 1949 mit der Revision des Besatzungsstatuts freigegeben worden. Bei dem jetzigen Plan handle es sich um die Freigabe eines weiteren Stückes. Der Herr Staatssekretär bemerkte ergänzend hierzu, dass dieser Zustand nicht für immer bestehen bleiben solle, sondern auf die Her­stellung eines Vertragszustandes tendiere.

Sodann erinnerte der Herr Bundeskanzler daran, dass im November Wahlen in Hessen und Bayern, im Dezember in Berlin stattfänden. Das Ergebnis sei wichtig als Zeichen dafür, wohin sich das deutsche Volk psychologisch wende. Auch für den Bundesrat sei das Wahlergebnis bedeutsam. Man könne nicht einfach alles schleifen lassen, weil hundert kommunistische Abgeordnete in Paris Moskau gehorchten. Es entstehe eine ernste psy­chologische Gefahr.

Dr. Conant stellte zusammenfassend fest, dass es der Bundesregierung offensichtlich auf drei Hauptpunkte ankomme: (1) Umwandlung der Hohen Kommissionen in Botschaften, (2) Aufhebung des Vetorechts für Verfassungsänderungen, (3) Aufhebung des Militärischen Sicherheitsamtes.

Zum dritten Punkt bemerkte der Herr Bundeskanzler, dass dieses Amt besonders Anstoß errege. In Knappsack bei Köln sollte ein Aluminiumwerk vergrößert werden. Auf den Einspruch französischer Fabriken beim Sicherheitsamt hin sei diese Erweiterung nicht genehmigt worden. Daraufhin seien deutsche und französische Industrialisten zusammen­gekommen und hätten eine Summe vereinbart, für die sich die Franzosen bereit erklärt hätten, ihren Einspruch zurückzuziehen. Daraufhin sei die Erweiterung des Werkes genehmigt worden. Dr. Conant bemerkte, dass seine Erfahrungen auch nicht gut seien. Die drei von ihm genannten Punkte könnten in einer Dreimächte-Erklärung enthalten sein.

Hierauf entgegnete der Herr Bundeskanzler, dass Dr. Conant vom Einzelnen her zum Prinzip gelangen wolle. Auf deutscher Seite wolle man das Prinzip und davon Einzelheiten ausnehmen. Nach Ansicht Dr. Conants könnte hierüber verhandelt werden. Seiner Auffassung nach wünsche man auf deutscher Seite, von diesen drei Punkten frei zu sein. Der Herr Bundeskanzler erklärte, es sei etwas mehr, da man ein psychologisch wirkendes Faktum schaffen wolle.

Mr. Murphy fragte, ob hierüber mit den Engländern gesprochen worden sei. Der Herr Staatssekretär erläuterte, dass in den Gesprächen mit Eden die Situation anders gewesen sei. Eden sei es darum gegangen, Meinungen zu sammeln, die er zu Mendès France bringen könne. Es sei also zu früh gewesen, mit Eden über diese Frage zu reden, da man nicht wünsche, dass Mendès France nein sage. Im Hintergrund sei diese Möglichkeit selbstver­ständlich auch vorhanden gewesen. In dem Gespräch mit Murphy sollten aber die letzten Möglichkeiten erörtert werden, und deshalb stünden die beiden Gespräche nicht auf der gleichen Stufe.

Mr. Murphy erwähnte, dass die Frage des Militärischen Sicherheitsamts in Washington ebenfalls geprüft worden sei und dass das französische Interesse an dieser Einrichtung stärker sei. Dennoch glaube er, dass in dieser Frage vielleicht mit Gewalt etwas nach­geholfen werden könne und dass sich die verschiedenen Meinungen doch unter einen Hut bringen ließen. Außerdem seien in militärischen Kreisen Washingtons gewisse kon­struktive Überlegungen angestellt worden, die den Franzosen vielleicht auch langsam bekannt würden und ihnen zu der Einsicht verhelfen würden, dass sie auf die Dauer nicht mit der Geduld der Amerikaner rechnen könnten. Es sei vielleicht besser, wenn das den Franzosen auf diesem Wege zum Bewusstsein komme.

Der Herr Bundeskanzler schnitt sodann die Frage an, wer im Falle der zweiten Lösung dies am besten in die Hand nehme. Mr. Murphy erwiderte, dass Washington wegen der Abwesenheit von Mr. Dulles noch nicht endgültig Stellung genommen habe. Der Herr Bundeskanzler hielt es für wünschenswert, dass die Vereinigten Staaten und England in dieser Sache zusammengehen sollten.

Diese Entwicklung entspreche auch seiner Vorstellung, wie Mr. Murphy sagte. Vor einer endgültigen Entscheidung würde es Mr. Dulles begrüßen, eine persönliche Aussprache mit dem Herrn Bundeskanzler zu haben. Doch könne er nicht sagen, ob dies möglich sei. Bei der Lösung dieses Problems würden es die Amerikaner vorziehen, zusammen mit der Bundesrepublik und England vorzugehen, weil hierdurch die Erfolgsaussichten größer würden.

Mr. Dulles beabsichtige, im Oktober einen kurzen Urlaub zu nehmen, um in aller Ruhe diese Frage durchdenken zu können. Der Herr Bundeskanzler hielt es für günstig, wenn eine Möglichkeit bestünde, dass Mr. Dulles vor Antritt seines Urlaubs die Ansichten der Bundesregierung kennenlernen könnte. Aus Mr. Edens Worten habe er den Eindruck gewonnen, dass Mr. Dulles vielleicht Ende nächster Woche zu einer Konferenz nach London komme.

Mr. Murphy sagte, dies sei ursprünglich geplant gewesen, doch hänge alles weitgehend von dem Erfolg der Eden-Reise ab. Am 21. September müsse Mr. Dulles bei der Eröffnungssit­zung der Vereinten Nationen in New York sein und dort die Eröffnungsrede der amerika­nischen Delegation halten. Ob deshalb der ursprünglich vorgesehene Termin einer Europareise zwischen dem 18. und 20. September aufrechterhalten werden könne, er­scheine zweifelhaft. Vielleicht sei eine solche Reise aber Ende September möglich.

Auf die Frage des Herrn Bundeskanzlers, ob Mr. Murphy auch nach Paris fahre und Mendès France sehe, erwiderte Mr. Murphy, dass er keine Pläne hierfür gemacht habe; er wolle den Eden-Besuch nicht stören, und außerdem wäre der Zweck einer Reise nach Paris zu offensichtlich. Der Herr Bundeskanzler warf ein, man solle Mendès France auch nicht zu stolz machen.

Dr. Conant schnitt noch einmal die Frage des einzuschlagenden Weges an. Man müsse auf Mendès France genügend Druck ausüben, damit er die Lösung annehme. Amerika und England müssten zusammen vorgehen und Mendès France sehr deutlich zu verstehen geben, dass eine bestimmte Lösung angeboten werde und dass, sollte sie nicht angenommen werden, das und das passieren werde. Der Herr Bundeskanzler hielt es für richtig, dass zunächst Eden allein verhandle, und falls Mendès France nicht wolle, sei ein solcher Schritt angebracht. Dr. Conant fügte hinzu, dass man sich genau darüber im klaren sein müsse, wann Druck angewendet werden solle. Dem pflichtete Mr. Murphy bei und wies auch darauf hin, dass man über gewisse Druckmittel verfüge. Der Herr Bundeskanzler fragte, was diese wert seien, wenn man sie nicht benutze. Dr. Conant wiederholte die einzelnen Lösungsmöglichkeiten und fragte, ob es für Bundesregierung und Bundestag zufrie­denstellend wäre, wenn die Bundesrepublik in ein bis zwei Monaten die Souveränität haben könne und Verhandlungen über die Aufnahme in die NATO stattfänden. Diese Frage bejahte der Herr Bundeskanzler.

Nach Auffassung des Herrn Bundeskanzlers werde Mendès France, wenn er nicht zu­stimmen wolle, nicht einfach nein sagen, sondern unerfüllbare Forderungen stellen. Dr. Conant meinte, man könne sehr klar Mendès France zu verstehen geben, dass nicht mehr viel Zeit sei und eine Lösung so oder so gefunden werden müsste. Der Herr Bundeskanzler erinnerte daran, dass Mendès France gesagt habe, er werde bis Ende des Jahres eine Lösung gefunden haben, wozu der Herr Staatssekretär bemerkte, dass er gegenüber den Englän­dern erklärt haben solle, binnen zwei Monaten die Lösung nicht nur gefunden, sondern auch in die Tat umgesetzt zu haben. Später sei er jedoch vor die Nationalversammlung getreten und habe erklärt, diese Frage habe keine große Eile. Mr. Murphy stellte fest, dass man auf deutscher Seite die zweite Lösung vorziehen würde und an die dritte nur gedacht habe, weil man über die zweite etwas skeptisch sei. Dr. Conant fügte hinzu, dass man auch die dritte als Druckmittel benutzen könne, um die zweite zu erreichen. Dem pflichtete der Herr Bundeskanzler bei und sagte, wenn Mendès France glaube, die anderen hätten keine dritte Lösung, so werde er gar nichts tun. Wenn er wisse, dass eine Lösung doch komme, ob mit ihm oder ohne ihn, dann werde er immer dabei sein wollen, weil dies für ihn günstiger sei. Die dritte Lösung sei für ihn wegen der innenpolitischen Schwierigkeiten nicht tragbar und mit der Gefahr seines Sturzes verknüpft; das werde ihm bekannt sein, und deshalb werde er voraussichtlich bei der zweiten Lösung mitwirken.

gez. Weber

 

Quelle: Aufzeichnung des Chefdolmetschers des Auswärtigen Amtes, Weber, in: BArch, NL Blankenhorn N 1351/33a, Bl. 80-89.