15. April 1925

Artikel in der "Kölnischen Volkszeitung": "Die Einheit von Reich und Rhein. Ein bemerkenswertes Schlusswort des Oberbürgermeisters Dr. Adenauer"

Nach herzlichen Dankesworten für die ausgezeichneten Reden hob Oberbürger­meister Dr. Adenauer die Pflicht besonderen Dankes gegenüber dem Einberufer der Veranstaltung, Herrn Justizrat Mönnig, hervor, der seit Jahren in selbstloser Weise unter Hintansetzung selbst seiner persönlichen Bedürfnisse für die deut­sche Sache am Rhein unermüdlich gearbeitet habe.

(Allseitiger lebhafter Beifall.)

Dann fuhr er fort:

Die Rede von Prof. Dr. Schmitt hat vielleicht in manchem von uns neue Gedanken erweckt. Sehr wenige ahnen wohl, welche tiefe moralische Gefahren auch in den gegenwärtigen politischen Verhältnissen verborgen liegen. Nicht viele sind sich klar, dass ihre Fortdauer mit sich bringt die Gefahr der allmählichen Entwurzelung der besten und edelsten menschlichen Gefühle. Es gilt, die Gedan­ken des Prof. Schmitt in Ruhe zu überlegen und sich klar zu werden, in welch großer Gefahr wir uns dauernd befinden. Wir sind ein furchtbar leichtlebiges Volk geworden und haben das Gestern und die Geschehnisse von 1923 allzu schnell vergessen. Wir müssen uns klar machen, dass die Grundursachen, welche zur Katastrophe geführt haben, ihr Nährboden, nach wie vor derselbe geblieben ist. Äußerste Wachsamkeit und höchstes Pflichtbewusstsein seien das Gebot der Stunde. Gegen die Gefahr sei die Anwendung von Gewalt eine Utopie. Die Leute, welche in diesem Geiste noch denken, wohnen weit weg von hier.

(Lebhaftes Sehr richtig!)

Ihnen ist leider nicht zu helfen, und man kann nur wünschen, dass sie möglichst wenig Einfluss auf die Geschicke des deutschen Volkes erlangen.

(Allgemeine Zustimmung.)

Was können wir tun? Unsere auswärtige Politik muss absolut neutral sein gegen jedermann. Wir dürfen weder Bündnisse noch Freundschaften kennen. Wir müssen für uns bleiben, müssen unsere internationalen Verpflichtungen erfüllen, und wir müssen abwarten, bis bei den anderen die Dinge sich geändert haben. Eins können wir tun im Innern: Wir müssen sorgen für innere Geschlossenheit des deutschen Volkes und für seine moralische Wiedergeburt. Das deutsche Volk wird keinen Wiederaufstieg erleben, wenn es nicht vom Herzen aus ein anderes geworden ist. Deutschland kann keinen Frühling erleben, wenn es nicht dem Materialismus abgeschworen und nicht zur idealen Gesinnung zurückge­kehrt ist. Es sieht sehr traurig bei uns aus in dieser Beziehung.

Nach Erinnerung an den Krieg, die Revolution und die Zuckungen in der Nachkriegszeit fuhr Dr. Adenauer fort:

Es reicht nicht, nur an die Zeit vom 1. August 1914 an zurückzudenken, son­dern wir müssen 20-30 Jahre vor 1914 die Wurzel zu all dem Unglück, das über uns hereingebrochen ist, suchen, denn wir haben damals jahrzehntelang den Materialismus gepflegt und auch in den Jahrzehnten vor 1914 keine Volksge­meinschaft gekannt.

(Sehr richtig!)

Es ist ein Mangel an logischem Sinn, wenn man behauptet, bis November 1918 sei alles in Ordnung gewesen. Wir haben gemeinsam gesündigt bereits vor dem 1. August 1914. Das kapitalistische Zeit­alter - kapitalistisch nicht im parteipolitischen Sinne aufgefasst -, das sich auszeichnete durch ungeheuren Bevölkerungszuwachs auf relativ engem Raum, hat eine Menge seelischer und körperlicher Krankheiten mit sich gebracht. Dieses Zeitalters sind wir nicht Herr geworden vor dem 1. August 1914!

(Sehr richtig!)

Dessen müssen wir Herr werden auf dem Wege der wahren Volksgemeinschaft, nicht der politischen, sondern der Volksgemeinschaft, die in Wirklichkeit in dem Volksgenossen den Mitbruder betrachtet. Es handelt sich um die Überwindung des Materialismus durch den Idealismus. Niemals war die Zentrumspartei so notwendig im Interesse des deutschen Volkes wie jetzt.

(Sehr richtig!)

Sie ist immer die Partei gewesen, welche den christlichen Idealismus an die Spitze ihrer Forderungen gestellt hat.

(Beifall.)

Dr. Adenauer erinnerte an eine jüngst mit dem Prälaten Seipel gehabte Aus­sprache, in welcher er auch Risse und Zerklüftungen innerhalb der Zentrums­partei erwähnt habe. Prälat Seipel habe ihn beruhigt und bemerkt, dieselben Erscheinungen hätten sich bei der österreichischen Bruderpartei gezeigt. Er wies dann sehr treffend zur Charakterisierung der politischen Verhältnisse auf eine Fahrt in einer Kutsche hin und führte aus:

Wenn der Weg eine Krümmung nach links mache und sie vom Wege abzugleiten droht, so müssen sich die Insassen etwas nach rechts legen, drohe die Kutsche nach rechts umzukippen, so müssen sie sich nach links neigen. Wesentlich sei nur, dass die Leute, welche sich nach rechts geneigt haben, nicht auf dieser Seite verharren und umgekehrt, sondern dass sie sich immer wieder aufrichten, um in der Mitte zu sitzen. Das scheine hohe staatsmännische Weisheit zu sein. Man darf nie vergessen, das Zentrum ist eine Partei der Mitte. Daran dürfe keine Koalition und ähnliche Bindungen etwas ändern. Unentwegt müssen wir uns vor Augen halten, dass wir eine Partei des Ausgleichs und des christlichen Idealismus sind.

Wenn je, so ist jetzt die Zentrumspartei für das deutsche Volk eine dringende Notwendigkeit, weil die inneren Gegensätze so scharf sind und der Materialismus eine so große Ausdehnung genommen hat.

Die Tausendjahrfeier darf uns nicht veranlassen, dem, was jetzt passiert, gleichgültig gegenüberzustehen. Unsere Zeit ist eine wahrhaft große Zeit wegen der großen Verantwortung, die wir, kaum einem früheren Geschlecht vergleich­bar, vor unsern Nachkommen und Urenkeln tragen. Ein Blick in die wechselvolle Geschichte unseres Volkes aber zeigt, dass schon schlimmere Situationen her­eingebrochen und von unseren Vorfahren überwunden worden sind. So werden wir auch diese schweren Zeiten überwinden, getragen von der heißen Liebe zum gemeinsamen deutschen Vaterlande, dem unser ganzes Sinnen und Arbeiten gilt.

(Stürmischer Beifall.)

Oberbürgermeister Dr. Adenauer schloss mit einem begeistert aufgenomme­nen Hoch auf das geliebte deutsche Vaterland. Den Schluss der eindrucksvollen Veranstaltung bildete das stehend gesungene Deutschlandlied.

 

Quelle: „Kölnische Volkszeitung", Nr. 276, Abendausgabe vom 15. April 1925. Abgedruckt in: Konrad Adenauer 1917-1933. Dokumente aus den Kölner Jahren. Hrsg. v. Günther Schulz. Köln 2007, S. 110-113.