15. November 1950

Brief an Dannie N. Heineman, Brüssel

Dannie N. Heineman (1872-1962), amerikanischer Industrieller deutsch-jüdischer Abstammung, 1905-1955 Generaldirek­tor des belgischen Elektrokonzerns Sofina (Société Financière de Transports et d'Entreprises Industrielles, einer über zahlreiche Länder gestreuten Beteiligungsgesellschaft großer Bankhäuser und Industrieunternehmen), 1907 erst­mals mit Adenauer zusammengetroffen, ihm dann bis zum Tode in enger Freundschaft verbunden.

 

Lieber Freund!

Dass Sie besonders von Brüssel herübergekommen sind, um mir Lebewohl zu sagen, hat mich sehr gefreut. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und für die vielen Anregungen, die er mir gebracht hat.

Besonders waren mir auch Ihre Hinweise auf die Frage der Elektrizitätsversorgung von Interesse. Ich werde, sobald Sie, wie in Aussicht gestellt, die Darlegungen schriftlich übermittelt haben, die Angelegenheit weiter verfolgen. Zu unserem Gespräch über Sowjetrusslands Satellitenstaaten und Westeuropa darf ich folgendes wiederholen und hin­zusetzen:

Sowjetrussland hat sich seit 1945 die Herrschaft über Gebiete von zusammen 12 Mill. qkm verschafft. Es ist dabei in derselben Art und Weise vorgegangen: 5. Kolon­ne, Einschüchterung der widerstandsbereiten Elemente in den zu unterwerfenden Staaten, Schaffung vollendeter Tatsachen auf dem Wege der Gewalt, Einheitspartei, Einheitswahlen, Sowjetrussland hörige Regierungen. Die Expansionstendenz Sowjetrusslands seit 1945 ist derartig eklatant, dass man nicht versteht, wie es möglich war, dass die Westalliierten dem so lange untätig zugesehen haben. Es spricht auch nichts dafür, dass diese Expansionspolitik nicht weiter verfolgt werden soll. Im Gegenteil, die Ansammlung sowjetrussischer Armeen in der Sowjetzone Deutschlands, die Schaffung des Satellitenstaates „Sowjetzone Deutschland" nach der oben geschilderten Methode, die Schaffung der sogenannten Volkspolizei-Armee, die Wühlarbeit in der Bundesrepublik Deutsch­land, in den kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens lassen völlig klar erkennen, dass Sowjetrussland die Absicht hat, seine Herrschaft auch über Westeuropa auszudehnen. Das Verhalten der westeuropäischen Staaten demgegenüber, insbesondere auch die Einstellung Frankreichs gegenüber der Schaffung einer Abwehrfront einschließlich der Bundesrepublik Deutschland, lassen den mangelnden Widerstandswillen und die mangelnde Einsicht in die Gefährlichkeit der Lage sehr deutlich erkennen.

Die Behandlung der deutschen Wehrmacht und des deut­schen Volkes nach dem Zusammenbruch durch die West­alliierten hat die Achtung vor allem, was mit Wehrmacht irgendwie zusammenhängt, im deutschen Volke weitgehend vernichtet. Auch das Bewusstsein, abhängig und nicht frei zu sein, schränkt in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere auch bei der jüngeren Gene­ration, die Überzeugung, dass es notwendig sei, auch unter Opfern sich die Freiheit von Sowjetrussland zu bewahren, in starkem Maße ein. Man kann nur dann von einem Volk verlangen, für die Freiheit alles zu opfern, wenn es wirk­lich frei ist und wenn es davon überzeugt ist. Hinzu kommt, dass die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland nicht davon überzeugt sind, dass die West­alliierten wirklich bereit sind, alles, was in ihren Kräften steht, zu tun, um die Bundesrepublik vor einem Einbruch sowjetischer Truppen zu schützen. Diese Überzeugung fehlt insbesondere aus 2 Gründen: Zunächst ist seit etwa 2 Jahren von den Westalliierten einmal von der Verteidi­gung westlich des Rheins und dann von einer hinhalten­den Verteidigung zwischen Elbe und Rhein gesprochen worden. Ferner sind die westalliierten Streitkräfte in Deutschland im Verhältnis zu den sowjetrussischen in der Ostzone derartig gering, dass vielfach der Eindruck ent­standen ist, die Westalliierten, insbesondere die Vereinig­ten Staaten, wollten im Grunde doch keine wirkliche Zurückdrängung Sowjetrusslands.

Diese defaitistische Stimmung, die von der Ostzone her aus tausend Quellen genährt wird, war besonders stark nach dem Angriff der Nordkoreaner auf Südkorea. Die Stimmung besserte sich, als die Nordkoreaner durch die UNO-Streitkräfte zurückgeschlagen wurden. Sie ist wie­der gesunken, seitdem anscheinend auch Rot-China sich in den Kampf einmischt. Durch letzteres ist die Befürchtung entstanden, US werde die bisher für Europa bestimmten Streitkräfte zu einem erheblichen Teil in Asien verwenden müssen, so dass eine erfolgreiche Verteidigung gegenüber Sowjetrussland nicht möglich sei.

Sie haben mich nun gefragt, was man dagegen tun könne? Lassen Sie mich kurz zusammenfassen, was meines Erachtens unbedingt geschehen muss, und zwar bald geschehen muss.

1. Die sich nunmehr seit September hinziehenden Bera­tungen unter den Atlantikpaktmächten müssen endlich zu einem vernünftigen Schluss gebracht werden, damit das deutsche Volk sieht, die Atlantikpaktmächte sind einig.

2. Ganz dringend ist, dass so schnell wie möglich ameri­kanische Truppen in nicht unerheblicher Stärke nach hier gelegt werden, damit das deutsche Volk an den Wider­standswillen der Vereinigten Staaten in Europa wieder glaubt. Zwei Divisionen, die jetzt hier stehen, kann man notfalls zurücknehmen, eine Armee wird man nicht zurücknehmen können. Die Aufstellung einer solchen Armee ist daher ein unbedingtes Erfordernis.

3. In ernsthafter Weise muss die wirtschaftliche Kraft Deutschlands, wenn es einen Beitrag zur Verteidigung zu stellen hat, nachgeprüft werden. Man muss dafür sorgen, dass die sozialen Aufgaben weiter gelöst werden können. Man wird nicht, wie anscheinend in Aussicht genommen ist, einfach sagen dürfen, ein bestimmter Prozentsatz des Sozialprodukts muss für Besatzung und Verteidigung aus­gegeben werden. Man würde dabei übersehen, dass Deutschland anders wie andere Länder durch seine Flüchtlinge und die großen Zerstörungen infolge des Krieges viel größere Soziallasten zu tragen hat und dass die Nichterfüllung dieser Soziallasten das beste Mittel sein würde, den Widerstandswillen zu schwächen.

4. Ein Volk wird nur dann Opfer für seine Freiheit brin­gen, wenn es überzeugt ist, im Besitze dieser Freiheit zu sein. Diese Überzeugung besteht im deutschen Volke noch nicht und kann auch noch nicht bestehen. In einer sicht­baren und die breiten Massen überzeugenden Weise müs­sen, wenn das deutsche Volk Kontingente stellen soll, Beweise dafür gegeben werden, dass dem deutschen Volke seine Freiheit in kürzester Frist wiedergegeben wird. Sicher wird das nicht auf einmal möglich sein, aber es muss doch ein sehr starker Fortschritt für alle sichtbar ein­treten. Die Auslieferung von Deutschen an Frankreich zur Aburteilung und die Verhaftung dieser Personen durch Organe der Besatzung unter der Begründung, dass der Wille der Besatzungsbehörden über dem deutschen Grundgesetz stehe, und eine ganze Anzahl ähnlicher Dinge erzeugen sehr viel böses Blut. Sicher weiß die Mehrzahl der Deutschen, dass das Leben unter russischer Besatzung ungleich härter ist, aber dieses Wissen befähigt noch nicht, unter Umständen Gut und Blut einzusetzen gegen den sowjetrussischen Druck.

5. Die sozialdemokratische Partei versucht, die Abnei­gung der Deutschen gegen die Stellung deutscher Kon­tingente für ihre parteipolitischen Zwecke auszunutzen. Dabei hat sie unzweifelhaft Erfolge. Der Krieg, der Nationalsozialismus, die Behandlung aller militärischen Fragen seit 1945 durch die Westalliierten in Deutschland, haben eben eine sehr ungünstige Atmosphäre geschaffen. Man wird der sozialdemokratischen Agitation nur dann mit Erfolg entgegentreten können, wenn man die oben angeführten Punkte berücksichtigt.

Ich bin, lieber Freund, wie Sie mir angemerkt haben, in ernster Sorge um die gesamte Entwicklung. Ich hoffe den­noch, dass man in den übrigen Ländern Westeuropas, ins­besondere in Frankreich - ebenso wie in den Vereinigten Staaten - einsieht, worum es sich handelt, und weiter ein­sieht, dass schnelles Handeln unbedingt erforderlich ist. - Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir baldmöglichst Ihr Bild senden würden.

Ich hoffe, dass Sie im nächsten Sommer ebenso frisch zurückkehren, wie Sie jetzt beim Abschied waren. Grüßen Sie Ihre Frau recht herzlich und seien Sie selbst vielmals gegrüßt von

Ihrem

(Adenauer)

 

P.S. In strengem Vertrauen lege ich Ihnen einen Teil von Ausführungen bei, die ich der Hohen Kommission gemacht habe.

Wenngleich ich der Auffassung bin, dass sich im Deut­schen Bundestag eine Mehrheit für die Leistung eines Beitrages zur Verteidigung Europas finden wird, so zeigen doch der Erfolg der Agitation der sozialdemokratischen Partei, die Rundfunkkommentare, Zeitungsäußerungen - auch von angeblich neutralen Blättern -, dass der Gedanke der Leistung eines Beitrages und der Übernahme von Verpflichtungen im deutschen Volke nicht so aufgenom­men wird, wie er aufgenommen werden müsste. Um die zögernde Haltung der deutschen Bevölkerung zu überwin­den, wird es notwendig sein, sie davon zu überzeugen, dass die Bundesrepublik Deutschland frei ist oder wenigstens die Aussicht besteht, bald völlige Freiheit für sie zu erlan­gen, dass es sich deshalb verlohnt, Opfer zu bringen. Die psychologische Vorbereitung der deutschen Bevölkerung bitte ich dringend durch entsprechende Schritte der Besatzungsmächte zu erleichtern. Die Situation in der Welt hat sich seit der New Yorker Außenministerkonfe­renz im September so außerordentlich schnell zugespitzt, dass nach meiner Meinung großzügige Handlungen der Westalliierten gegenüber Deutschland, Handlungen, die für jeden verständlich sind, schnellstens erfolgen müssen. Es wird sonst sehr schwer, wenn nicht unmöglich sein, die deutsche Bevölkerung zur freiwilligen Mitarbeit an der Verteidigung Europas auch innerlich zu gewinnen.

 

Quelle: Konrad Adenauer: Briefe über Deutschland 1945-1955. Eingeleitet und ausgewählt von Hans Peter Mensing aus der Rhöndorfer Ausgabe der Briefe. München 1999, S. 114-121.