16. April 1953

Ansprache vor dem American Committee on United Europe in New York

 

Meine Damen und Herren!

Ich bin Ihrem Präsidenten General Donovan ganz besonders dankbar, dass er mir diese Gelegenheit gegeben hat, Sie kennen zu lernen und mit Ihnen einige Ideen auszutauschen. Es ist für uns Europäer sehr ermutigend zu wissen, dass auf der anderen Seite des Ozeans eine Gruppe einflussreicher Staatsbürger sich mit solcher Hingabe für die Idee eines einigen Europas einsetzt. Wir sind uns in Europa sehr wohl der Tatsache bewusst, dass wir das Ziel, das wir uns gesteckt haben, nur erreichen können mit der tätigen Unterstützung unserer amerikanischen Freunde. Sie, die Sie heute hier versammelt sind, sind bereits mit den Problemen, denen wir hierbei gegenüberstehen, aufs beste vertraut. Ich kann deshalb bei Ihnen ein hohes Maß von Kenntnis voraussetzen und darf mich darauf beschränken, einige Probleme des europäischen Einigungswerkes hier zu erörtern, die - so weit mir bekannt ist - noch nicht Allgemeingut der amerikanischen Öffentlichkeit geworden sind.

I. Zunächst möchte ich noch einmal die Motive klarlegen, die uns bei unseren Bemühungen um die europäische Einigung leiten.

1.) Der akuteste Grund ist natürlich die ständige und stetig größer werdende Drohung vom Osten. Ich habe neulich aus besonderem Anlass einmal im Kreise meiner Kollegen, der Außenminister der sechs Schuman-Plan-Staaten, Zahlen über die russischen Rüstungen mitteilen müssen. Diese Zahlen geben ein besorgniserregendes Bild von dem militärischen Kräfteverhältnis, das zwischen dem sowjetischen Machtbereich einschließlich der Satellitenstaaten und des sowjetisch besetzten Teiles Deutschlands einerseits und den freien Nationen Europas andererseits besteht. Auf der einen Seite - alles in allem - mehr als zweihundert vollzählige und modern ausgerüstete Divisionen, beweglich und von einer vergleichsweise sehr erheblichen Feuerkraft, auf der anderen Seite die in Europa stationierten NATO-Streitkräfte, die das militärische Menschenpotential des freien Europa, solange Deutschland nicht beteiligt ist, noch nicht voll ausschöpfen, und außerdem, solange die europäische Verteidigungsgemeinschaft noch nicht steht, auch die Schwächen einer Koalitionsarmee haben. Die Notwendigkeit, diesen Kräfteunterschied auszugleichen, liegt auf der Hand. Auf der Hand liegt auch, dass angesichts der Tiefenwirkung moderner militärischer Operationen - man denke an Düsenjäger und an die Beweglichkeit von Panzerdivisionen - eine militärische Planung und Führung, die sich auf die kleinen Räume der europäischen Nationalstaaten beschränkt, sinnlos geworden ist. Mit einem beinahe logischen Zwang führte daher die Entwicklung schon im Dezember 1950 zu dem Entschluss des Nordatlantik-Rates, dass ein deutscher Beitrag für die Verteidigung Europas geleistet werden sollte. Als man dann daran ging, die Form dieses deutschen Beitrages zu suchen, entstand der Gedanke einer voll integrierten europäischen Armee. Das heißt: Man machte sich die organisatorischen Lösungen zu Nutze, die man soeben zur Verwirklichung des Schuman-Planes entwickelt hatte: Man folgte auch hier dem Grundgedanken, dass die Mitgliedstaaten der zu bildenden Verteidigungsgemeinschaft auf dem Gebiete der Verteidigung auf ihre Souveränität verzichten und diese der Gemeinschaft übertragen sollten.

Als wir diesen Weg beschritten, waren wir uns darüber klar - besonders der französische Außenminister Robert Schuman hat das ausgesprochen -, dass man die europäischen Lösungen in einer etwas unnatürlichen Reihenfolge entwickelte. Hätten wir Zeit gehabt, die einzelnen Elemente der europäischen Einigung Stück für Stück in Ruhe zu entwickeln, so würde sicher das Verteidigungsressort das letzte gewesen sein, das man aus der nationalen Sphäre der einzelnen Staaten in die supranationale Sphäre des vereinigten Europa übertragen hätte. Denn das Recht und die Macht, sich zu verteidigen, sind seit alters die am strengsten gehüteten Stücke der staatlichen Souveränität gewesen. Aber es war eben die von mir skizzierte Drohung aus dem Osten, die uns keine Zeit ließ; deshalb ist auf diesem Gebiet die Einigungsarbeit schneller vorangeschritten als auf politischem.

Aber ich lege großen Wert darauf zu betonen, dass diese akute Bedrohung nicht das einzige Motiv für die europäische Verteidigungspolitik ist.

2.) Das erste dieser Motive ist die Notwendigkeit, zur Balancierung und Stabilisierung des Verhältnisses zwischen dem Osten und dem Westen beizutragen. Man muss sich nur einmal an das Kräfteverhältnis erinnern, das vor dem ersten Weltkrieg und auch noch in etwa in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg bestand. Europäische Großmächte stellten ein so großes wirtschaftliches, militärisches und politisches Potential dar, dass die selbständige Politik dieser Großmächte allein einen wesentlichen Faktor der Stabilisierung der Weltlage bildete. Vor dem ersten Weltkrieg war das wirtschaftliche und militärische Potential Russlands nicht entfernt so entwickelt, wie es heute ist, und es herrschte in Russland keine Ideologie und kein politisches System, das wie heute eine latente Gefahr für den Weltfrieden darstellt. Heute liegt das Zentrum der Verteidigung gegen die Gefahren der ungeheuren Machtzusammenballung des Ostblocks außerhalb Europas. Es liegt in Ihrem Land, das die lasten- und opferreiche Verantwortung auf sich genommen hat, die freie Welt in ihren Bemühungen um die Erhaltung der Freiheit zu führen. Gemessen in den modernen Größenordnungen kann man die gegenwärtige staatliche Struktur Europas nur als Kleinstaaterei bezeichnen. Europa ist verloren, wenn es in viele Staaten aufgeteilt dem Sog des sowjetrussischen Machtsystems ausgesetzt wird. Die Macht wirkt wie ein Magnet auf schwächere Körper. Europa darf aber nicht untergehen. Es ist das Herz der abendländisch-christlichen Kultur. Es hat Unendliches für die Entwicklung der Menschheit geleistet. Seine geistigen, kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Kräfte sind nicht erschöpft. Die Menschheit würde empfindlich ärmer werden, wenn dieses alte Europa eines Tages dem Ansturm der asiatischen Barbarei erliegen würde. Deshalb muss Europa sich einigen und so sich davor retten, vom Ostblock in irgendeiner Form assimiliert zu werden. Nur durch Einigung kann es wirtschaftlich wieder so gesunden, dass es ohne ständige Annahme von Geschenken aus Amerika leben kann. Nur so kann es den Lebensstandard seiner Bevölkerung so steigern, dass es mit den wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen der übrigen Welt Schritt halten kann. Nur so kann es ein politisches Eigengewicht bekommen, das es instand setzt, ein wirklich nützlicher, kräftiger Partner der freien Welt zu sein.

3.) Schließlich aber gibt es ein drittes konkretes Motiv für die europäische Einigungspolitik, das für sich allein diese Politik rechtfertigt: Durch eine Einigung Europas würden in Zukunft europäische Kriege unmöglich gemacht werden. Warum haben wir die konkreteste und intensivste europäische Vereinheitlichung, die wir bisher zu Wege gebracht haben, auf dem Gebiet der Produktion von Kohle und Stahl vollzogen? Vor allem auch deshalb, weil durch eine Vergemeinschaftung der Schwerindustrie, die wie keine andere Produktion geradezu zum Symbol der Rüstung geworden ist, jede Aufrüstung eines der beteiligten Länder gegen ein anderes praktisch ausgeschlossen wird. Unendliches Leid wird Millionen europäischer Menschen in Zukunft erspart bleiben, wenn durch die Kohle- und Stahl-Gemeinschaft, durch die Verteidigungsgemeinschaft und durch alle anderen Pläne, die verwirklicht oder entworfen sind, auch nur das eine erreicht wird: dass die Kriege zwischen europäischen Völkern, insbesondere auch Kriege zwischen Frankreich und Deutschland, aufhören.

II. Dies also sind unsere wichtigsten Motive. Unsere Arbeit ist noch nicht vollendet. Aber es ist doch Wichtiges erreicht. Nicht Schwäche und Entschlusslosigkeit sind daran schuld, dass noch nicht mehr erreicht ist, sondern die Größe der Hindernisse, die es zu überwinden gilt.

1.) Das Bild der europäischen Organisation erscheint zunächst kompliziert. Da ist der Straßburger Europa-Rat mit seinen 14 Mitgliedstaaten. Er ist eine Frucht der ersten europäischen Erkenntnis nach dem zweiten Weltkrieg. Er ist unvollkommen, weil sein parlamentarisches Organ nur konsultative Befugnisse und keine echte Entscheidung hat und weil in seinem Ministerkomitee der Grundsatz der Einstimmigkeit gilt, der jedem Mitglied ein Veto verleiht. Wir haben weiter die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit geschaffen als Gegenpol für jene großartige wirtschaftliche Nachkriegshilfe, die Ihr Land Europa geleistet hat, die für immer mit dem Namen Marshall verbunden sein wird. Auch sie hat vielleicht nicht alle Erwartungen erfüllt, die sich mit ihrer Schaffung verknüpften, besonders deshalb, weil auch hier grundsätzlich Einstimmigkeit notwendig ist, was zu mancherlei Kompromisslösungen Anlass gegeben hat. Zweifellos hat aber auch diese Organisation ebenso wie der Europarat eine nicht zu unterschätzende erzieherische Wirkung ausgeübt. Sie hat die europäischen Politiker, Wirtschaftspolitiker, Verwaltungen, Minister und die Öffentliche Meinung stärker, als das bisher der Fall war, daran gewöhnt, nicht in engen nationalen, sondern in weiteren europäischen Kategorien zu denken. Schließlich besteht eine dritte Entwicklungslinie europäischer Organisation, die mit der Kohle- und Stahlgemeinschaft eröffnet wird, in den supranationalen Gemeinschaften. Hierauf konzentriert sich immer stärker die schöpferische Energie der europäischen Politiker. In diesen Plänen erst ist der Durchbruch zu einem echten föderativen Denken vollzogen. Allen diesen Plänen - Kohle- und Stahlgemeinschaft, Verteidigungsgemeinschaft und der jüngst entworfenen Politischen Gemeinschaft - ist gemeinsam, dass die Mitgliedstaaten Teile ihrer Souveränität an das größere Ganze abgeben. Es gibt also grundsätzlich kein Erfordernis der Einstimmigkeit, vielmehr sind alle diese Gemeinschaften nach Art eines Bundesstaates konstruiert. Sie haben eine eigene Exekutive, sie haben ein eigenes parlamentarisches Organ, und sie haben eine eigene Gerichtsbarkeit. Die partikularen Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten sind daneben in einem Ministerrat vertreten.

Ich wiederhole, das Nebeneinander dieser drei Organisationstypen macht einen verwickelten Eindruck. Aber liegt nicht auch etwas Ermutigendes in der Tatsache, dass Europa auf so vielen verschiedenen Wegen gesucht wird? Diese Systeme stellen doch nur verschiedene Schichten des historischen Geschehens dar, ich zweifle nicht daran, dass sie in nicht allzu ferner Zeit in ein geschlossenes einheitliches Gebilde eingeschmolzen werden können. Schon heute ist zu sagen, dass mit großer Sorgfalt eine Koordinierung und gegenseitige Verzahnung hergestellt worden ist. Durch gemeinsame Sitzungen, durch gegenseitige Unterrichtung, durch Entsendung von ständigen Beobachtern ist eine enge Verbindung geschaffen. Am Beispiel der einzigen bisher bestehenden supranationalen Gemeinschaft, nämlich der Kohle- und Stahlgemeinschaft, lässt sich das demonstrieren: sie ist sowohl mit dem Europarat, wie mit der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit organisch verknüpft.

2.) Noch eine zweite Kritik wird vielleicht an unserem europäischen Einigungswerk geübt werden: dass es Stückwerk sei, Stückwerk in einem doppelten Sinne. Einmal, dass es nicht die Gesamtheit staatlichen Lebens ergreift, sondern nur einzelne Ausschnitte daraus. In der Tat, was bisher steht, oder wenigstens in unterschriebenen Verträgen festliegt, sind nur Teile: Die Wirtschaftspolitik auf dem Gebiet von Kohle und Eisen, dass [und?] das Wehrwesen, das durch den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft europäisiert wird. Aber es wäre völlig falsch, in dieser vorläufigen Beschränkung auf Teilgebiete einen Dauermangel der europäischen Organisation zu sehen. Diese Gebiete sind von einer solchen Wichtigkeit für das staatliche, wirtschaftliche und politische Leben der beteiligten Länder, dass sie vorweggenommen werden mussten. Diese Gebiete werden ihrer Natur nach Fortschritte der Integration bringen. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft wird zwangsläufig eine gemeinschaftliche Außenpolitik mit sich bringen. Es ist daher alles andere als ein Zufall, dass schon bei der Ausarbeitung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft man einen Artikel des Vertrages - den Artikel 38 - einfügte, der die Ergänzung der Verteidigungsgemeinschaft durch eine Politische Gemeinschaft vorsah. Man sah sich zur Ausarbeitung des Entwurfs einer politischen Gemeinschaft schon entschlossen, noch ehe der Vertrag über die Verteidigungsgemeinschaft überhaupt in Kraft getreten ist. Es war eine gute Stunde meiner politischen Arbeit, als ich als damaliger Präsident des Ministerrates der Europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft im September vorigen Jahres dem Parlament der Kohle- und Stahlgemeinschaft den in Luxemburg gefassten Entschluss des Ministerrates mitteilen konnte, diese parlamentarische Versammlung möge sich sofort an die Ausarbeitung eines Vertrages über die politische Gemeinschaft [be]geben.

Die parlamentarische Versammlung der Montanunion, die von ihr zur Vorbereitung eingesetzte ad hoc Commission hat daraufhin binnen sechs Monaten den Entwurf einer Politischen Gemeinschaft vorgelegt. Vor einem Monat hat der Ministerrat der sechs Länder ihn entgegengenommen, und am 12. Mai werden wir zum ersten Mal darüber beraten. Ich hoffe, dass es gelingt, im Ministerrat zu einer nicht weniger raschen und energischen Arbeit zu kommen, sodass die Regierungen bald einen Vertrag schließen können, der dann den Parlamenten der sechs Staaten zur Ratifikation vorgelegt werden kann. Wenn das geschieht, werden zum ersten Mal in der Geschichte Europas gemeinsame Wahlen zu einem europäischen Parlament stattfinden. Eine auf dem Vertrauen dieses europäischen Parlaments beruhende europäische Exekutive wird geschaffen werden und damit der politisch entscheidende Schritt zur Vereinigung Europas getan werden. Diese politische Gemeinschaft soll nicht alle Gebiete staatlichen Lebens umfassen. Auch ihre Staaten haben Gebiete staatlicher Aufgaben, in denen sie völlig unabhängig sind.

Unser Ziel ist nicht, eine alles staatliche Leben aufsaugende europäische Zentralgewalt, vielmehr wird die Gemeinschaft föderativen Charakter haben, das heißt, weite Bezirke staatlichen Lebens werden den Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Das gilt namentlich für das kulturelle Leben, soweit es einer staatlichen Behandlung bedarf, aber auch für viele andere Gebiete. Überhaupt müssen sich die Europäer vor einem Fehler hüten, der uns von unseren amerikanischen Freunden sehr oft vorgehalten wird: dem Perfektionismus. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Wir müssen Erfahrungen sammeln. Wir müssen die Dinge reifen lassen. Wir müssen Rücksicht nehmen auf die öffentliche Meinung in unseren Ländern. Diese öffentliche Meinung muss durch den Erfolg unserer Vereinigungsarbeit auf den verschiedenen Gebieten überzeugt werden. Weisheit und Maßhalten sind ebenso wichtig wie Entschlusskraft und vorwärtsdrängende Energie.

3.) Man wirft uns weiter vor, dass unser Werk Stückwerk im geographischen Sinne sei. Das tendenziöse Schlagwort lautet, wir schüfen nur ein „Klein-Europa", wir verhinderten das Großeuropa, das gefordert werden müsse. Dieses Schlagwort ist töricht. Es ist richtig, dass die supranationalen Gemeinschaften, die wir geschaffen oder vereinbart oder entworfen haben, nur sechs europäische Länder umfasst: Frankreich, Italien, die Niederlande, Belgien, Luxemburg und die Bundesrepublik Deutschland.

a.) Aber erstens haben wir immer gesagt - und wir werden nicht müde werden, es zu wiederholen -, dass dies nur ein Anfang ist. Der Beitritt zu diesen supranationalen Gemeinschaften steht allen Ländern offen, die ihn zu vollziehen wünschen. Wenn mehr als die sechs genannten Länder bisher nicht beigetreten sind, so hat das verschiedene Gründe. Eine Anzahl europäischer Länder steht unter sowjetischer Gewaltherrschaft. Diese Länder haben gar nicht die Macht, sich für den Beitritt zu entscheiden. Aber selbstverständlich denken wir auch an diese Länder als künftige Glieder der europäischen Gemeinschaft. Muss ich ausdrücklich sagen, dass diese Feststellung auch und insbesondere für den Teil Deutschlands gilt, der sich gegen den Willen seiner Bevölkerung unter sowjetischer Diktatur befindet?

Freilich, auch Länder westlich des Eisernen Vorhanges zögern zurzeit, sich uns anzuschließen. Wir bitten diese Länder - und das ist in unseren Verträgen ausdrücklich ausgesprochen - die permanente Einladung zum Beitritt nicht zu überhören, die wir an sie gerichtet haben. Die Gemeinschaft der sechs Länder ist nicht exklusiv. Sie ist - ich wiederhole es - nur ein Anfang. Wenn der Erfolg uns recht gibt - und er wird uns recht geben -, wird die Ausbreitung der Gemeinschaft von selber folgen.

b.) Noch etwas ist auf jenen Vorwurf zu erwidern, und das gilt besonders für ein Problem, das uns wie wenig andere beschäftigt hat: unser Verhältnis zu Großbritannien. Großbritannien ist der Anregung, sich uns anzuschließen, nicht gefolgt mit Rücksicht auf seine Stellung im Britischen Commonwealth. Es kommt uns nicht zu, über die Schlüssigkeit dieser Begründung mit der britischen Regierung zu streiten. Aber wir wünschen eine möglichst enge Beteiligung Englands. Aber es wäre ein schwerer methodischer und politischer Fehler, die Frage so zu stellen, dass Großbritannien nur entweder volles Mitglied der europäischen Gemeinschaft oder Nicht-Mitglied sein könnte. Die Wahrheit ist, dass es zwischen der vollen Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft und der absoluten Nicht-Mitgliedschaft Zwischenstufen gibt, Möglichkeiten organischer Verknüpfungen der kontinentalen europäischen Gemeinschaft mit Großbritannien. Eine partielle, relative Zugehörigkeit zu unserer föderativen Gemeinschaft also; das ist es, was wir uns gewöhnt haben, mit dem Ausdruck „Assoziation" zu bezeichnen.

Das will ich an einem Beispiel erläutern: Großbritannien unterhält bei der Kohle- und Stahlgemeinschaft eine ständige Mission. Das Exekutivorgan der Kohle- und Stahlgemeinschaft, die Hohe Behörde, hat bereits in einer gemeinschaftlichen Kommission ein Verbindungsorgan zwischen der Kohle- und Stahlgemeinschaft und Großbritannien geschaffen. Auch die vorhin von mir erwähnte Verzahnung der Kohle- und Stahlgemeinschaft mit dem Europarat und der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit - mit dem Informationsaustausch, den gemeinsamen Sitzungen usw. - wirkt in der Richtung einer engen Verbindung mit Großbritannien. Ein anderes Beispiel: Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist, wie Sie wissen, mit Großbritannien durch einen automatisch wirkenden Beistandspakt noch enger verbunden als mit den übrigen NATO-Staaten. Auch abgesehen vom Beistandsfalle ist eine besonders enge militärische Kooperation mit der Verteidigungsgemeinschaft zu unserer Genugtuung von der englischen Regierung angeboten worden.

Alle diese Dinge zeigen, wie falsch, ja wie unsinnig das Schlagwort von „Klein-Europa" ist. Wenn sie mir einen Vergleich aus dem Bereich der Chemie erlauben: Die Schaffung des intensiven Kerns der supranationalen Gemeinschaft ist ein Kristallisationsvorgang, dessen Wirkung sich nicht auf den Kern beschränkt, der die dichteste Verbindung eingeht. Um diesen Kern herum ordnen sich mit einer beinahe naturgesetzlich zu nennenden Notwendigkeit auch die anderen politischen Elemente neu. So entsteht ein System mehrfach abgestufter Gemeinschaften bis hin zu der größten Gemeinschaft, die die freien westlichen Nationen umspannt, der Atlantischen Gemeinschaft.

Das ist es, was ich Sie, die amerikanischen Freunde und Paten der europäischen Einigung, zu bedenken bitte, wann immer Sie in der Versuchung sind, angesichts der Langsamkeit der europäischen Entwicklung ungeduldig zu werden. Ich verstehe Ihre Ungeduld sehr gut. Auch ich bin oft sehr ungeduldig. Aber vergessen wir nicht, dass in mehr als zweitausend Jahren europäischer Geschichte innerhalb Europas Dämme aufgeworfen worden sind, die man nicht in wenigen Monaten abtragen kann. Was sich in Europa in diesen Jahren vollzieht, ist wahrhaft revolutionär. Tief eingewurzelte Anschauungen müssen über Bord geworfen werden. Die gesamte politische Erziehung der europäischen Völker, die an der Idee der Nation als den letzten Wert politischer Entscheidung orientiert war, muss umgestellt werden.

Das geht nicht von heute auf morgen. Darum ist es uns so wichtig, die Jugend der europäischen Völker auf unserer Seite zu haben. Dort liegt unsere ganze Hoffnung: bei der frischen, unbefangenen, von störenden Erinnerungen unbeschwerten Gestaltungskraft von Menschen, die mehr in die Zukunft blicken als in die Vergangenheit.

Wir werden in unseren Bemühungen nicht nachlassen. Wenn wir aber unseren Mut nicht verlieren sollen, so brauchen wir eines, und mit dieser herzlichen Bitte lassen Sie mich schließen. Wir brauchen die Gewissheit, dass das mächtigste Volk der Erde, ein Volk mit einem so starken Freiheitssinn wie kein anderes, dass Ihr Volk mit seiner Sympathie, mit seiner moralischen und materiellen Kraft auf unserer Seite ist. Ich wiederhole, was ich früher einmal gesagt habe, und ich wiederhole es nicht, um ein Bonmot zu sagen: die Amerikaner sind die besten Europäer. Ihre Geschichte liefert uns das eindruckvollste Beispiel für das, was Völker vermögen, die den ernsthaften Willen haben, sich zusammenzufinden. Helfen Sie auch uns, den Weg zu uns selber zu finden. Dann ist mir um den Erfolg unserer Arbeit nicht bange.

 

Quelle: StBKAH, maschinenschriftlich (hektogr.), Text des BPA.