16. Februar 1967

Rede im Ateneo in Madrid

Über europäische Geschichte, über europäische Kultur zu sprechen, würde gerade in Spanien so verlockend sein, weil Spanien eine große Geschichte hat, weil es Jahrhunderte hindurch mit den übrigen europäischen Ländern durch Politik, durch Kunst und Kultur auf das engste verbunden war, weil es europäische Kultur weithin ausgestrahlt hat. Aber die erste Hälfte dieses Jahrhunderts hat eine Entwicklung gebracht, die die Freiheit der europäischen Völker und damit die europäische Kultur in ihrem innersten Bestand bedroht, die eine völlige Entmachtung Europas, aller seiner Staaten, zur Folge haben kann. Darum möchte ich sprechen von dieser Gefahr und von dem, was wir tun müssen, um Europa zu retten.

Wenn ich von Europa spreche, so meine ich damit alle in Europa liegenden Staaten, mit Ausnahme Sowjetrusslands. Sowjetrussland, ohne seine westwärts liegenden Satellitenstaaten, ist ein Großkontinent für sich. Wenn man von der Einigung Europas spricht, so kann man damit nicht an eine Vereinigung mit Sowjetrussland denken in der Art, wie die übrigen europäischen Staaten miteinander verbunden werden müssen. Sowjetrussland liegt teils in Europa, teils in Asien. Es ist mit seinen 22 Millionen qkm der Fläche nach der größte Staat der Erde, mehr als doppelt so groß wie Rotchina oder wie die Vereinigten Staaten. Eine Vereinigung der europäischen Länder mit Sowjetrussland würde einem Aufgehen Europas in Sowjetrussland gleichzusetzen sein, eine Vereinigung nur mit dem westlich vom Ural liegenden Teil Sowjetrusslands würde sofort die Frage aufwerfen, was dann mit den in Asien liegenden Gebieten Sowjetrusslands werden solle, ob man etwa die Sowjetunion teilen wolle? Wir Europäer denken nicht daran, der Sowjetunion etwas Derartiges zuzutrauen. Die Einigung Europas kann also nur die übrigen Länder Europas umfassen. Sie sind es auch, die in der größten Gefahr schweben, ihre Freiheit zu verlieren. Die Gefahr, in der die europäischen Völker schweben, wird klar, wenn man die Verteilung der Macht auf der Erde prüft und dabei feststellen muss, mit welcher Schnelligkeit der Verlust der europäischen Länder an Macht schon fortgeschritten ist. Ich werde versuchen, in einigen Sätzen die Machtverteilung in der Welt zu Beginn dieses Jahrhunderts, also etwa um 1900, zu schildern und dem die Lage in der Welt um 1960 gegenüberzustellen.

Um 1900 wurde das politische Geschehen der Welt von Europa aus geleitet. Die europäischen Großmächte Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, Spanien und andere europäische Länder waren maßgebend für den Lauf dieser Politik. Die Vereinigten Staaten hatten zu Beginn dieses Jahrhunderts keine Außenpolitik. Das zaristische Russland war am Geschehen in Europa wohl interessiert, aber es hatte für sich allein keinen bestimmenden Einfluss auf die Geschichte Europas. Die großen Völker in Asien und Afrika, wie Indien, Japan, China und andere, beschäftigten sich kaum mit europäischen Angelegenheiten, oder sie waren europäische Schutzgebiete oder Kolonien.

Auch die europäischen Völker hatten Differenzen untereinander, aber sie hatten immer doch auch ein Empfinden und ein Gefühl für die Bedeutung Europas und hüteten sich davor, diese Bedeutung Europas durch ihre Politik zu beeinträchtigen. Und nun die Machtverteilung auf der Erde sechzig Jahre später, etwa um 1960? An Macht und Einfluss stehen nunmehr an der Spitze die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Sie haben eine Bevölkerungszahl von 179,3 Millionen, ein Gebiet von 9,3 Millionen qkm. Sie haben eine Truppenstärke von insgesamt 2,5 Millionen Mann. Ihnen folgt Sowjetrussland. Es hat ein Gebiet von 22,4 Millionen qkm. Es ist der bei weitem größte Staat der Erde. Seine Bevölkerungszahl ist 210 Millionen. Seine Streitkräfte betragen 2,7 Millionen Mann. Diesen beiden Riesenländern folgt als dritte Supermacht Rotchina. Ich muss hier betonen, dass bei Rotchina die Zahlenangaben zum Teil auf Schätzungen beruhen. Rotchina hat eine Fläche von 9,7 Millionen qkm, etwas mehr als die Vereinigten Staaten und viel weniger als die Hälfte der Fläche von Sowjetrussland. Seine Bevölkerung schätzt man auf ca. 630 Millionen, seine Truppen auf 3 Millionen Mann. Wie sieht es in Europa aus? Sein gesamtes Gebiet, abgesehen von dem sowjetrussischen Teil, ist klein, insgesamt etwa 4,9 Millionen qkm. Aber Europa ist sehr dicht besiedelt, im Jahre 1960 von 425 Millionen Menschen. Für die Schätzung des Wertes der Bevölkerung möchte ich Ihnen den Anteil Europas, der Vereinigten Staaten und der restlichen Welt an der industriellen Weltproduktion anführen. Im Jahre 1960 war der Anteil Europas an der Weltproduktion 27 Prozent, der Anteil der Sowjetunion 18 Prozent, derjenige der Vereinigten Staaten 33 Prozent und derjenige der restlichen Welt 22 Prozent. Wenn man auch an der materiellen Produktion die geistige Produktion nicht ohne weiteres ablesen kann, so kann man doch aus der immensen Produktion Europas auf eine den Europäern eigene große geistige Kraft schließen. Die körperliche und geistige Arbeit, die in Europa geleistet wird, ist für das Gedeihen und die Entwicklung der gesamten Welt unentbehrlich.

Gegen Ende des großen Krieges trat ein neuer Faktor auf, der wie kein anderer die Machtverhältnisse in der Welt bestimmt und damit auch den politischen und wirtschaftlichen Einfluss der Mächte oder Mächtegruppen. Das ist die Verwendung der Atomkraft im Kriege in ihrer unvorstellbaren Zerstörungsfähigkeit und weiter die Entwicklung der Trägermittel für diese schreckliche Waffe, seien es nun Raketen oder Flugzeuge. Zwei von den drei Supermächten, die Vereinigten Staaten und Sowjetrussland, verfügen über ein riesiges Arsenal an nuklearen Sprengsätzen, an Trägermitteln für den Einsatz der Sprengsätze über Meere und Kontinente hinweg. Frankreich besitzt als einzige kontinentaleuropäische Macht eine atomare Rüstung, die aber nicht sehr groß ist. Das gleiche gilt von Großbritannien. Rotchina baut eine Nuklearmacht auf. Ihre jetzige Stärke können wir nicht zuverlässig schätzen, ebenso wenig, wie wir zuverlässig beurteilen können, wie schnell sie in Rotchina weiter aufgebaut werden kann. Zwischen den beiden Weltmächten, den Vereinigten Staaten und Sowjetrussland, finden nun Verhandlungen statt mit dem Ziele, die Produktion und den Besitz solcher Waffen zum ausschließlichen Privileg Sowjetrusslands und der Vereinigten Staaten zu machen. Darin liegt die größte Gefahr für die übrigen Völker in der ganzen Welt, insbesondere aber für das produktiv so außerordentlich wertvolle Europa, die Gefahr, politisch und wirtschaftlich machtlos und einflusslos zu werden. Wegen seiner für die Welt unentbehrlichen Produktionskraft stehen die europäischen Länder, steht Europa in Gefahr, die Beute von Gegensätzen zwischen den Weltmächten oder infolge seiner geographischen Lage und seiner dichten Besiedlung im Kampfe zerstört zu werden. Die Gefahr für Europa ist viel größer, als die meisten Menschen sich vorstellen. Die Entwicklung seit dem letzten Kriege, insbesondere die Entwicklung der atomaren Waffen, und in ihrem Gefolge die Verhandlungen zwischen Sowjetrussland und den Vereinigten Staaten können für die europäischen Völker das Ende ihres politischen und wirtschaftlichen Einflusses bedeuten. Sie zwingen daher Europa zu einer politischen Einigung. Die Supermächte können über den Widerspruch eines einzelnen europäischen Landes hinweggehen. Die Stimme eines geeinten Europa muss von ihnen auch im eigenen Interesse beachtet werden.

Was ist bisher geschehen, um unser Ziel, eine politische Einigung Europas, zu erreichen? Ich beschränke mich bei der Beantwortung dieser Frage auf die Zeit nach 1945, obwohl schon in den zwanziger Jahren viele die Notwendigkeit eines europäischen Zusammenschlusses erkannt hatten. Ich denke dabei an Briand. Ich erinnere mich meiner eigenen Überlegungen, die mich aus dem Erlebnis des Ersten Weltkrieges, an dessen Ende Deutschland völlig isoliert, ohne Freunde dastand, zu der Erkenntnis führten, dass Deutschland und Frankreich zusammenfinden müssten, um eine Einigung der europäischen Staaten vorzubereiten und zu ermöglichen, wenn Europa Glück und Gedeihen finden solle. 1946 hat Winston Churchill in Zürich die Vereinigten Staaten von Europa und enge Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland gefordert. Im Oktober 1948 traf ich zum ersten Mal mit Robert Schuman, dem damaligen französischen Außenminister, zusammen, der im Mai 1950 den Plan einer europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorschlug. Sie wurde im April 1951 Wirklichkeit. Die Tage des Scheiterns der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahre 1954 gehören zu den tragischsten Stunden Europas nach dem Kriege, weil die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, wäre sie zustande gekommen, uns damals schon die politische Einigung Europas gebracht haben würde. Nach ihrem Scheitern musste von vorne begonnen werden. Die im März 1957 unterzeichneten „Römischen Verträge" brachten dann die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft, denen die sechs Vertragspartner der Montanunion angehören. Diese Verträge, die ihre große Bedeutung auf dem wirtschaftlichen, zum Teil auch auf dem politischen Gebiete haben, sind von den sechs Partnern abgeschlossen worden in dem Bewusstsein, dass diese Verträge nicht die europäische politische Einigung ersetzen könnten.

Allerdings hat sich schon 1950 bei den Verhandlungen über die Montanunion und später auch bei den EWG-Verhandlungen gezeigt, dass Großbritannien aufgrund seiner Verbindungen zu den Commonwealth-Ländern nicht bereit und in der Lage war, einem echten Anschluss an Europa, mit der Übernahme aller damit verbundenen Pflichten, zuzustimmen.

Sie wissen, dass der englische Premierminister Wilson zurzeit mit den einzelnen Regierungen der sechs EWG-Staaten über die Bedingungen des Beitritts Großbritanniens in die EWG verhandelt. Wir müssen das Ergebnis dieser Verhandlungen abwarten. Eintritt in die EWG ist aber nicht dasselbe wie die Schaffung einer europäischen politischen Union. Ich möchte das sehr nachdrücklich betonen und ferner betonen, dass wir die politische Union vor allem brauchen.

Aufgrund der Bonner Erklärung der sechs Regierungschefs vom 18. Juli 1961, mit der eine Kommission zur Ausarbeitung eines europäischen politischen Statuts eingesetzt wurde, entstand der sogenannte Fouchet-Plan. Im Januar 1962 lag ein neuer Entwurf vor, Fouchet-Plan II, bei dem eine Einbeziehung und Unterstellung der schon bestehenden wirtschaftlichen europäischen Institutionen unter die politische Gemeinschaft vorgesehen war. In diesem Punkt wurde der Plan später revidiert. Die Außenminister der Sechs haben sodann im April des gleichen Jahres über den neugefassten Fouchet-Plan II in Paris verhandelt. Vier der sechs Außenminister stimmten ihm zu. Die Vertreter Hollands und Belgiens verlangten für ihre Zustimmung die sofortige Einbeziehung Großbritanniens in die Verhandlungen. Um die dadurch eingetretene Stockung zu überwinden, hat der französische Staatspräsident im Einvernehmen mit dem deutschen Bundeskanzler dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten, der turnusmäßig dem Kreis der Regierungschefs präsidierte, vorgeschlagen, die sechs Regierungschefs zur Beratung und Beschlussfassung nach Rom einzuladen. Italien lehnte ab, auf diesen Vorschlag einzugehen. Seit dem Jahre 1962 ruhen die Verhandlungen über die europäische politische Union, aber der Gedanke der europäischen Einigung und damit die damalige Vorlage ist nicht tot. Dafür hat die Entwicklung seit 1962 reichlich gesorgt. Ich meine, es müsste jedem, der an verantwortlicher Stelle steht, im Laufe dieser Jahre klargeworden sein, wie groß die Gefahr für Europa ist, und dass Europa nicht mehr die Zeit hat, geruhsam abzuwarten, bis vielleicht einmal die perfekte Lösung, die allen Partnerstaaten gleichermaßen gefiele, zustande kommt. In unserer Epoche dreht sich das Rad der Geschichte mit ungeheurer Schnelligkeit. Wenn der politische Einfluss der europäischen Länder weiterbestehen soll, muss gehandelt werden. Wenn nicht gleich die bestmögliche Lösung erreicht werden kann, so muss man eben die zweit- oder drittbeste nehmen. Wenn nicht alle mittun, dann sollen die handeln, die dazu bereit sind. Ich glaube, dass Frankreich und Deutschland den Kern der politischen Union Europas in Zusammenarbeit bilden können. Man sollte nicht allzu großen Wert auf die juristische Form eines solchen Zusammenschlusses legen. Ob nun eine Föderation oder Konföderation entsteht, oder welche Rechtsform es immer sein mag: Handeln, Anfangen ist die Hauptsache. Ich bin nicht ohne Hoffnung. Gerade die letzten Wochen haben gezeigt, dass der deutsch-französische Vertrag, neu belebt, von beiden Partnern genutzt, ein Instrument sein kann, die europäische politische Einigung voranzubringen.

Unser Ziel kann - das ist meine feste Überzeugung - nicht ein Europa der Sechs bleiben. Auch Spanien muss dazukommen. Spanien muss wegen seiner geographischen Lage, wegen seiner Geschichte, seiner Tradition, seines unersetzlichen Beitrags zur europäischen Kultur ein wesentlicher Bestandteil auch des kommenden geeinten Europa sein. Aber auch nach Osten müssen wir blicken, wenn wir an Europa denken. Zu Europa gehören Länder, die eine reiche europäische Vergangenheit haben. Auch ihnen muss die Möglichkeit des Beitritts gegeben werden. Europa muss groß sein, muss Kraft haben, muss Einfluss haben, um seine Interessen in der Weltpolitik zur Geltung bringen zu können.

Was seit einiger Zeit in Rotchina vor sich geht, ist, so glaube ich, eine letzte ernste Mahnung für Europa. Was dort auch geschehen mag, es wird eine ernste Bedrohung für die Sowjetunion sein und auch für das Russland westlich des Ural. Die Gefahr für Europa, die aus dem Fernen Osten herüberleuchtet, ist wahrscheinlich viel näher, als die meisten von uns glauben. Als ich noch Bundeskanzler war, habe ich mich immer wieder mit dem Problem Sowjetrussland-Rotchina beschäftigt, und zwar aufgrund von Gesprächen, die ich bei meinem Besuch in Moskau im Jahre 1955 mit Chruschtschow hatte; Chruschtschow hielt schon damals die chinesische Gefahr für sehr groß und nahm sie sehr ernst.

Die durch die moderne Waffentechnik verursachte Überwindung auch sehr weiter Entfernungen bringt die Gefahren, die im Fernen Osten vorhanden sind, uns unheimlich schnell nahe. Ich glaube, eine Karte würde zeigen, dass die Entfernungen des Gebiets, in dem die Chinesen den nuklearen Krieg vorbereiten, zu den europäischen Großstädten, in der Luft gemessen, erschreckend wenig Sicherheit mehr bedeuten, wenn man sich den Aktionsradius der modernen Fernlenkwaffen vor Augen hält. Nach Zeitungsnachrichten hat die amerikanische Luftwaffe in den letzten Tagen die Entwicklung eines Flugzeuges in Auftrag gegeben, das jeden Punkt der Erde innerhalb einer Stunde erreichen soll. Man darf nicht glauben, dass die politische Einigung Europas uns in Gegensatz zu den Vereinigten Staaten bringen würde. Das Gegenteil ist der Fall. John Foster Dulles und sein Nachfolger, Staatssekretär Herter, haben immer wieder gedrängt, dass die politische Einigung Europas zustande käme. Die Interessen Europas und die der Vereinigten Staaten sind nicht immer identisch, und die europäischen Staaten müssen durch die Einigung Europas in die Lage versetzt werden, auch ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Das Wesentliche und Grundsätzliche, die Erhaltung der Freiheit und des Friedens als die höchsten Güter der Menschheit, sind in den Vereinigten Staaten und in Europa in gleicher Weise Ziel der Politik.

Lassen Sie mich zum Schluss zusammenfassend noch einmal eindringlich hinweisen auf die außerordentliche Gefährlichkeit der politischen Epoche, in der wir leben. Die Gefährlichkeit beruht einerseits in der Schnelligkeit, mit der sich umwälzende Machtverschiebungen vollzogen haben und noch vollziehen. Sie liegt weiter in dem Vorhandensein von Supermächten, deren Bestehen die Gefahr in sich birgt, dass die übrigen Mächte zu mehr oder weniger Bedeutungslosigkeit verurteilt werden, sie werden Werkzeuge des Willens der ganz Großen. Sie liegt schließlich in der Unübersehbarkeit der Entwicklung Rotchinas.

Diese Gefährlichkeit der Lage, die außerordentliche Schnelligkeit der Entwicklungen, zwingt Europa zu schnellem, entschlossenem Handeln, zwingt es zur schnellen politischen Einigung, um seine besonderen Interessen zu wahren, und damit seine Existenz als Faktor des Weltgeschehens zu erhalten.

Wir sollten aber nicht nur diesen Zwang zum Handeln sehen, sondern auch die Chance, mit unserem Handeln Erfolg zu haben. Es ist zum Beispiel ermutigend zu beobachten, wie sich die immer noch im Werden und Entwickeln begriffene wirtschaftliche Zusammenfassung europäischer Länder zum Besten Europas ausgewirkt hat. Wenn die europäischen Länder, oder auch nur ein großer Teil von ihnen, in einer politischen Union geeint sind, wird ihre Stimme in der Weltpolitik gehört werden auch in den Fragen, die mit der nuklearen Waffe und der Verwendung der Atomkraft für friedliche Zwecke zusammenhängen.

Die Verhandlungen, die zurzeit zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion geführt werden, sind für Europa, für alle Länder Europas lebenswichtig. Ein nuklearer Krieg würde ein Flächenkrieg sein, der Europa wegen seiner großen Bevölkerungsdichte am meisten und verheerendsten treffen würde. In Europa wohnen im Durchschnitt 89 Menschen auf einem qkm, gegenüber 10 Menschen je qkm in der Sowjetunion, 21 Menschen je qkm in den Vereinigten Staaten von Amerika sowie 70 Menschen je qkm in Rotchina.

Europa will helfen, die Gefahr eines nuklearen Krieges zu beseitigen. Ehe Bindungen erfolgen, muss aber Europa wissen, worum es sich handelt: Im Interesse Europas ist es aber nicht möglich, ja geradezu absurd, dass nur nichtnukleare Mächte kontrolliert werden sollen, nukleare Mächte aber nicht. Wir können nicht kontrollierte Objekte der herrschenden nuklearen Staaten werden.

Zu den gegenwärtigen Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wegen der Nichtverbreitung von Atomwaffen ist noch folgendes zu sagen: Im Jahre 1954 auf der Londoner Neunmächtekonferenz hat sich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber acht Mächten verpflichtet, keine Atomwaffen herzustellen, sie hat sich verpflichtet, sich einer Kontrolle der Innehaltung dieser Verpflichtung durch die anderen Mächte, mit denen die Bundesrepublik Deutschland diesen Vertrag geschlossen hat, zu unterstellen. Der Vertrag ist geschlossen worden. Es ist eine Behörde mit dem Sitz in Brüssel geschaffen worden, die diese Kontrolle wahrnimmt. Der Vertreter der Vereinigten Staaten bei dieser Behörde hat die Zufriedenheit der USA mit der Art der Durchführung dieser Kontrolle erklärt.

Warum wollen die Vereinigten Staaten auf das Verlangen der Sowjetunion nach einer Kontrolle aller nichtnuklearen Mächte durch die Sowjetunion eingehen? Warum stellt die Sowjetunion ein derartiges, vollkommen unberechtigtes Verlangen? Nun, als der dänische Ministerpräsident Krag im vergangenen Jahr im Kreml mit Kossygin die Frage des damals schon diskutierten Vertrages besprochen hat, erklärte ihm Kossygin unverblümt, ihn interessiere an diesem Vertrag nur die Unterschrift der Deutschen. Der Grund ist nach Angabe deutscher Stellen für wissenschaftliche Forschung klar. Sowjetrussland will über das gesamte atomare Gebiet in Deutschland die Kontrolle erhalten, weil es damit die Kontrolle jeder Herstellung von atomarer Kraft in der Bundesrepublik erhält und damit bei der rapiden Steigerung der Verwertung von Atomkraft im wirtschaftlichen Leben auch die Kontrolle in größtem Umfang über die deutsche Wirtschaft. Die Deutschen würden dadurch in wirtschaftliche Abhängigkeit von der Sowjetunion geraten, und nicht nur die Deutschen, sondern große Teile von Westeuropa. Das würde das Ende eines freien geeinten Europa sein.

Von welchem Geiste dieser Plan getragen ist, zeigen folgende Bestimmungen, die der Vertrag, soweit bisher erkennbar, haben soll: „Die Kontrolle der Einhaltung und Durchführung des Vertrages soll dadurch gesichert werden, dass sich nichtnukleare Staaten mit ihrer Unterschrift verpflichten, ihre friedliche Atomforschung einer weltweiten Kontrolle zu unterstellen." - „Änderungen des Vertrages können auf einer Konferenz aller Unterzeichnerstaaten mit Stimmenmehrheit, allerdings nicht gegen die Stimme eines Atomstaates, beschlossen werden."

Das bedeutet also eine Herrschaft der sogenannten nuklearen Staaten über die ganze Welt, und zwar auch über die Wirtschaft der übrigen Welt. Wenn man sich vor Augen hält, dass nach der wohlbegründeten Ansicht der europäischen Wissenschaftler nach einigen Jahren, etwa nach zehn Jahren, elektrischer Strom durch Atomkraft zu einem Drittel der Kosten hergestellt werden kann, zu dem der elektrische Strom unter Verwendung von Kohle oder Öl herzustellen ist, so wird klar, dass hier beabsichtigt ist, die Herrschaft der sogenannten nuklearen Staaten über alle anderen Staaten dieser Welt aufzurichten.

Bemerkenswert ist, dass amerikanische Wissenschaftler an deutsche Wissenschaftler herangetreten sind, um diese zu überzeugen, dass die Sowjetunion durch eine ihr zufallende Kontrolle keinen Einfluss auf das Wirtschaftsleben in Deutschland und in Europa erhalten würde.

Nichts ist bezeichnender für die ganze Lage, als dass die Sowjetunion für sich die Kontrolle in größtem Umfange fordert, aber jede Kontrolle der Sowjetunion ablehnt. Die Europäer stehen in Gefahr, unter die Kontrolle der Russen hinsichtlich der Herstellung atomarer Kraft für friedliche Zwecke zu kommen. Diese Gefahr zeigt, wie dringend nötig die Schaffung einer europäischen politischen Union für alle europäischen Länder ist. Darum muss alles getan werden, so schnell wie möglich ein europäisches Statut, eine europäische politische Union zu schaffen, an deren Stimme auch die Superstaaten und das Weltgewissen nicht achtlos vorübergehen können.

Ich glaube - ich beschäftige mich übrigens seit vielen Jahren mit der Außenpolitik -, dass die außenpolitische Gefahr für Deutschland, für Europa, so groß ist wie noch nie zuvor. Für das ganze wirtschaftliche Leben in der Welt. Und darüber ist sich der Russe völlig klar: dass ein unterdrücktes und verarmtes Europa sich Moskau anschließt. Ich wünsche von ganzem Herzen, dass die Vereinigten Staaten dies erkennen. Wir gehen schweren Zeiten entgegen. Jeder, der an verantwortlicher Stelle sich mit Politik beschäftigt, muss die Augen offen halten, damit die Freiheit auf der Welt bestehen bleibt.

 

Quelle: StBKAH, maschinenschriftliches Redemanuskript und stenographische Nachschrift.