16. Juni 1962

Fernsehansprache zum Tag der Deutschen Einheit

 

Meine verehrten Zuhörerinnen und Zuhörer!

Morgen begehen wir den Tag der Deutschen Einheit. Der Anlaß, gerade an diesem Tage der Deutschen Einheit und unserer Landsleute in Berlin und in der Zone zu gedenken, liegt nunmehr neun Jahre zurück.

Vor neun Jahren, am 16. Juni 1953, beschlossen die Arbeiter der Bauunion auf der Stalin-Allee in Berlin einen Streik und einen Protestmarsch zur Leipziger Straße. Auf dem Wege dorthin schlossen sich viele andere Menschen an. Überall bildeten sich weitere Demonstrationszüge. Der Generalstreik wurde ausgerufen. Es wurde die Freilassung der politischen Gefangenen gefordert. Am Abend des 16. Juni beschlossen die Arbeiter der Berliner Vororte, am nächsten Tag nach Berlin zu gehen.

Am 17. Juni war der ganze Sowjetsektor in Aufruhr. In allen größeren und kleineren Städten und vielfach auch auf dem Lande fanden Demonstrationen statt. Vergeblich versuchten die Redner der SED und Volkspolizisten, die Massen zu zerstreuen. Hunderte von sowjetischen Panzern und Gefechtsfahrzeugen fuhren auf. Feldmarschmäßig ausgerüstete sowjetische Truppen riegelten das Viertel des Ulbricht-Regimes ab. Gegen Mittag fielen die ersten Schüsse. Um 13 Uhr verkündete der sowjetische Militärkommandant den Ausnahmezustand. Es begannen die Verhaftungen und Erschießungen und damit das langsame Zusammenbrechen des Aufstands der wehrlosen Bevölkerung.

Meine verehrten Zuhörerinnen und Zuhörer, der Aufstand brach aus, weil das Leben ohne Freiheit den Menschen unerträglich geworden war. Sie kennen das traurige Ende: 569 Menschen haben den Tod gefunden, 141 von ihnen wurden standrechtlich erschossen; 1744 wurden verletzt; 5143 Demonstranten wurden verhaftet und außerdem 1756 Volkspolizisten und SED-Funktionäre, die zu der Bevölkerung übergegangen waren oder die sich gegen die Freiheitsbewegung nicht hart genug eingesetzt hatten. Alle diese Menschen opferten sich für die Freiheit, für die eigene, für die Freiheit ihrer Familien und die ihres Volkes. Der Wunsch nach Freiheit und nach dem Recht, so zu leben, wie man leben möchte, waren die Kräfte, die hinter dem Aufstand der wehrlosen Menschen standen, und die ihnen den Mut gaben, ihren Willen - trotz der sowjetischen Armee und ihrer Helfershelfer - zum Ausdruck zu bringen.

Die Sowjetunion war nicht gut beraten, als sie die Freiheit unterdrückte. Und lassen Sie mich dieses sagen: Die Sowjetunion ist auch heute nicht gut beraten, wenn sie versucht, 17 Millionen Menschen das Recht vorzuenthalten, so zu leben, wie sie leben wollen. Wir wissen, daß wir die Wiedervereinigung nicht sehr bald erreichen können. Wir werden keine Gewalt anwenden, um zu unserem Ziel zu kommen, aber die Zeit wird für uns arbeiten; denn der Geist ist auf die Dauer stärker als rohe Gewalt.

Und auch dieses Wort möchte ich heute an die Sowjetunion richten, das ich schon in Dortmund gesagt habe: In der Deutschland-Frage lassen wir uns weniger von nationalen als von menschlichen Gefühlen leiten. Gebt unseren Brüdern hinter dem Eisernen Vorhang und hinter der Mauer mehr Freiheit, gebt ihnen ein menschenwürdiges Dasein, laßt sie selber bestimmen, wie sie leben möchten - dann können wir über andere Fragen sehr viel leichter und besser miteinander reden!

Noch ein Wort an unsere Brüder und Schwestern in der Zone: Wir können Ihnen ja nur Worte zukommen lassen; und oft wird das von denen, die in so schwieriger Lage sind, als zu leicht und zu billig empfunden. Aber als einer, der im Leben viel erfahren hat, glaube ich, Ihnen doch sagen zu dürfen: Halten Sie aus! Die Geduld bedeutet viel im Leben, und das Ausharren ist eine große Kraft!

Ein Wort möchte ich an Sie, meine Zuhörerinnen und Zuhörer in der Bundesrepublik, richten. Wir haben in den letzten zwölf Jahren sehr viel besser leben können als unsere Landsleute in der Zone. Wir sollten dankbar dafür sein. Wir sollten uns überlegen, warum es uns besser geht, und wir sollten derer gedenken, denen es so viel schlechter geht. Helfen Sie Ihren Verwandten und Freunden in der Zone, so gut Sie können. Sprechen Sie ihnen Mut zu und zeigen Sie ihnen, daß wir uns mit ihnen als ein Volk fühlen, daß wir ihnen die Treue halten werden. 

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 110, 19. Juni 1962, S. 949. Abgedruckt in: Konrad Adenauer: „Die Demokratie ist für uns eine Weltanschauung.“ Reden und Gespräche 1946-1967. Hg. von Felix Becker. Köln-Weimar-Wien 1998, S. 194-196.