16. März 1956

Die deutsche Aufgabe

Ein Wort zur Situation der Bundesrepublik

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Der schnelle Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft droht da und dort den Blick für die noch vorhandene Gefährdung unserer Existenz zu trüben: eine "neue Politik", die an nationalistische Instinkte appelliert, möchte an die Stelle der bisherigen treten. Man fordert einen "gesamtdeutschen Willensakt", der angeblich in der Lage sein soll, binnen kurzem die deutsche Einheit herbeizuführen. Man verdächtigt die Bundesregierung und ihre Vertragspartner, sie hätten viele Chancen zur Wiedervereinigung versäumt oder wollten diese gar nicht. Unter Missachtung der Empfindlichkeit unserer Wirtschaft gegenüber Vorgängen in der Außenpolitik wird dem deutschen Volk einzureden versucht, es sei jetzt an der Zeit, den nationalen Alleingang zu wagen und endlich eine "nationale Politik" an die Stelle des bisherigen "europäischen Irrweges" zu setzen ...

Vergebens sucht man in dieser Kette von Illusionen und Verdächtigungen ein greifbares Programm. Man könnte daher im Vertrauen auf die bei den Wahlen in Baden-Württemberg bewiesene Vernunft unseres Volkes darüber hinweggehen, wenn nicht die Gefahr bestünde, dass die angepriesene "neue Politik" im Ausland als Vorhut eines neuen deutschen Nationalismus gewertet wird, der alles mühsam errungene Vertrauen wieder zerschlagen und unser Land hoffnungslos isolieren müsste.

 

Nationalismus und Materialismus

Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass das deutsche Volk nochmals dem Irrweg des Nationalismus verfallen und sich dadurch selbst um alle wirklichen Chancen für die Wiedergewinnung seiner Einheit in einem freien und vereinigten Europa bringen will. Nichts ist so abwegig wie die Unterstellung, dass die europäische Einigungsbewegung erloschen oder als ausschließlich "christliche" Zielsetzung verdächtig sei. Die führenden Köpfe der europäischen Völker, Liberale so gut wie Sozialisten, stimmen mit den christlich-demokratischen Politikern nach wie vor darin überein, dass die noch freien Staaten Europas keine andere Wahl haben, als sich entweder zusammenzuschließen oder nacheinander mit ihrer Existenz Schluss zu machen.

Nur ein von der geschichtlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte unberührt gebliebener Nationalismus kann darüber hinwegsehen, dass ganz Europa durch die beiden Weltkriege entthront und der Gefahr ausgesetzt worden ist, dem bolschewistischen Machtblock zu verfallen, wenn es sich nicht im Zusammenwirken mit den Vereinigten Staaten zu einer Föderation entschließt, die ihre Kraft aus der Einheit im Notwendigen und der elastischen Vielfalt ihrer frei verbundenen Glieder bezieht.

 

Eine bessere Gesellschaftsordnung

Diese Aufgabe ist seit der scheinbaren Auflockerung des bolschewistischen Machtapparates noch dringlicher geworden, weil die neue Taktik darauf zielt, den Westen über die Größe der Gefahr zu täuschen und die noch freien Völker Europas einzeln und von innen her aus dem Schutzverband der atlantischen Welt herauszubrechen. In dieser Beurteilung der Lage treffe ich mich mit der Feststellung des Generalrats der Sozialistischen Internationale, dass "die auf dem jüngsten Parteitag der Kommunistischen Partei zutage getretenen Änderungen der kommunistischen Politik kein ausreichender Beweis einer echten Wandlung in den Prinzipien oder in der Politik der kommunistischen Diktatur" sind.

Wir stehen nach wie vor einem Machtblock gegenüber, der mit neuen, gefährlicheren Methoden die alten Ziele verfolgt und in seiner Planung vor allem auf das Wiedererstehen eines Nationalismus setzt, der ihm die isolierten Nationen einzeln ausliefern würde. Nationalismus und Materialismus - nationalistische Verblendung über die Schwäche Europas und materialistische Erschlaffung der moralischen Widerstandskraft - sind die großen Bundesgenossen, die der Bolschewismus bei uns für sich zu gewinnen trachtet. Mit dieser Feststellung ist zugleich die deutsche Aufgabe von heute umrissen: Nur eine bessere Gesellschaftsordnung, wie sie von der Bundesregierung nicht nur durch die Sozialreform erstrebt wird, kann im Verein mit dem unbeugsamen Willen zur Verteidigung einer ethisch befestigten freien Lebensordnung dem Ansturm des Kollektivismus widerstehen.

Der kurzsichtige Egoismus, der Europas altes Staatensystem vernichtet und Deutschland und Europa zerspalten hat, wurzelt in dem sich gegenseitig verstärkenden Zusammenwirken des Materialismus mit dem Nationalismus. Das deutsche Volk muss sich daher klarer denn je bewusst werden, dass nur die entschiedene Abkehr von diesem falschen, ja tödlichen Weg seine Zukunft sichert. Es darf nicht noch einmal in den Fehler zurückfallen, die deutschen Interessen von denen eines freien und vereinigten Europa zu trennen, denn die Wiedergewinnung seines gemeinsamen freien Staatswesens ist nur dann möglich, wenn die freie Welt die Freiheit ganz Europas in einer umfassenden Friedensaktion anstrebt. Nur durch eine gesamteuropäische Freiheitspolitik, in der die deutsche Frage den ihr gebührenden mitteleuropäischen Rang erhält, lassen sich Freiheit und Frieden für alle erreichen. Eine Isolierung der deutschen Frage dagegen bringt die 18 Millionen unterdrückter Deutscher der ersehnten Freiheit nicht näher. Die Regierungschefs der Vereinigten Staaten und Großbritanniens haben bei ihrem letzten Zusammentreffen dieses zugleich deutsche und europäische Anliegen erneut bekräftigt. Ein kurzsichtiger deutscher Nationalismus würde das durch Hitler erzeugte Misstrauen in Ost und West erneut gegen uns aufflammen lassen und so Deutschland und Europa durch unsere eigene Schuld dem Untergang ausliefern.

 

Gesamteuropäische Verantwortung

Deutschland trägt dank seiner geographischen Lage und seiner Geschichte eine weit über seine Grenzen hinaus wirkende Verantwortung, nicht zuletzt deshalb, weil die von seinem Boden ausgegangene Irrlehre des dialektischen Materialismus nur durch eine beispielhaft ausstrahlende bessere Sozialordnung überwunden werden kann. Jenen aber, die heute noch oder schon wieder glauben, die liberale Idee müsse sich in einem neuen Nationalismus erfüllen, halte ich die Warnung des großen europäischen Liberalen und Deutschenfreundes Salvador de Madariaga entgegen, der die deutsche Aufgabe von heute gleichlautend umschrieb, als er jüngst in München sagte:

"Die Wiedervereinigung ist kein deutsches Problem allein, denn der Eiserne Vorhang reicht von der Ostsee bis zur Adria. Wenn Deutschland in Nationalismus versinkt, sieht Europas Zukunft dunkel aus. Wenn Deutschland sich zur Höhe des Erreichbaren aufschwingt, wird es in einem einigen Europa den Rang erhalten, den es dank seiner geistigen Kraft zu beanspruchen hat. Die Verantwortung Deutschlands ist um so größer, je stärker der Kommunismus sich in Frankreich und Italien ausbreitet. Die Stunde erfordert von allen große Entschlüsse, am meisten von den Deutschen."

Ich zweifle nicht daran, dass unser Volk diese Hoffnungen nicht enttäuschen, sondern mit Besonnenheit und seelischer Stärke den beschrittenen Weg fortsetzen wird, anstatt aus Ungeduld und Verkennung der Weltlage sich in eine abenteuerliche Politik zu stürzen.

 

Quelle: Rheinischer Merkur vom 16. März 1956.