16. September 1955

Ausführungen des Bundeskanzlers vor der Presse über seine Moskaureise

Das Urteil über die Moskauer Konferenz kann man nur dann fällen, wenn man sich die ganze Situation seit 1939 vor Augen hält, wenn man sich vor Augen hält, daß etwas später der Krieg zwischen der Sowjetunion und Deutschland entbrannte, daß der Krieg zu sehr grausamen Ergebnissen führte und daß schließlich unser Land vollkommen zusammenbrach. Bei der Beurteilung werden Sie auch daran denken müssen, daß wir in der Zwischenzeit mit den drei westlichen Alliierten zu einer Verständigung gekommen sind, die uns die Souveränität wiederbrachte und zur Schaffung der WEU und zu unserem Eintritt in die NATO führte. Weiter werden Sie sich vor Augen halten müssen, daß unsere Beziehungen zur Sowjetunion bisher noch so waren, wie sie bei Abbruch des Krieges gewesen sind, und Sie müssen daran denken, daß die Sowjetunion in dem Gebiet, das ihr als Besatzungsmacht anvertraut wurde, ohne Rücksicht auf die anderen einen Staat geschaffen hat, den wir nicht als Staat betrachten können, weil diejenigen, die dort die Macht haben, nach unserer Überzeugung nicht die wahren Beauftragten des weit überwiegenden Teiles der Bevölkerung der Sowjetzone sind. Aber Sie werden daran denken müssen, daß diese Machthaber der „DDR" ideologisch und auch in dem, was sie getan haben, im großen und ganzen mit der Ideologie und der Verfahrensweise übereinstimmen, wie Sowjetrußland sie besitzt.

Ich bitte Sie, auch daran zu denken, daß in der Sowjetunion sich noch rund 10.000 deutsche Kriegsgefangene befinden. Ich sage Kriegsgefangene, während die Sowjetregierung sie „Kriegsverbrecher" nennt, weil sie sagt, sie seien von sowjetischen Gerichten entsprechend den sowjetischen Gesetzen verurteilt worden. Vielleicht darf ich hier einfügen, daß die Versuche, die sowohl Eisenhower als auch Eden in Genf gemacht haben, diese Gefangenen freizubekommen, von der Sowjetregierung nicht beachtet worden sind. Bei Ihrem Urteil bitte ich Sie auch daran zu denken, daß noch viele andere Deutsche, die in den Wirren des Kriegsendes in die Sowjetunion gebracht wurden, nicht zurückkehren können. Wir und das Rote Kreuz besitzen Briefe, die von Deutschen in der Sowjetunion an ihre Angehörigen in der Bundesrepublik in den beiden letzten Jahren geschickt worden sind, unter genauer Angabe des Ortes und des Lagers, in dem sie sich befinden. Auf Grund dieser Briefe beziffern wir die Zahl der so Zurückgehaltenen auf etwa 100.000. Ich wiederhole: Es sind Briefe, die in den beiden letzten Jahren an die Angehörigen gekommen sind, und es wird sehr wohl möglich sein, daß sie nicht mehr alle am Leben sind, sondern daß ein gewisser Prozentsatz in den beiden Jahren eines natürlichen Todes gestorben ist.

Endlich bitte ich Sie, daran zu denken, daß die Sowjetunion ein Sechstel der Erdoberfläche bedeckt. Ich bitte Sie, auch daran zu denken, daß trotz ihrer Zugehörigkeit zur NATO, trotz ihrer Zugehörigkeit zur WEU, die anderen Länder dieser beiden Organisationen Botschaften oder Gesandtschaften in Sowjetrußland unterhalten, während wir bisher nicht dazu gekommen sind, vielleicht auch nicht kommen wollten oder nicht kommen konnten. Das möchte ich allgemein vorausschicken, ehe ich nun auf die Konferenz selbst eingehe.

Der Konferenz ist, wie Sie wissen, ein umfangreicher Notenaustausch vorangegangen. Die Aufforderung zur Normalisierung der Verhältnisse zwischen der Sowjetunion und uns, zur Herstellung von diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen ist durch die Note vom 7. Juni dieses Jahres von der Sowjetregierung ausgegangen. Wir haben darauf geantwortet, daß wir die Anregung, die Einladung begrüßten, daß wir aber den Wunsch hegten, noch andere Dinge vorzubringen, die nach unserer Auffassung, wenn man an eine Normalisierung herangehe, notwendigerweise besprochen und gelöst werden müßten. Wir nannten als solche insbesondere die Freigabe der zurückbehaltenen Personen und die Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Die Sowjets haben darauf geantwortet, daß sie bereit seien, diese Fragen der Wiedervereinigung, der Einheit Deutschlands mit uns zu erörtern, aber ihr Standpunkt zu der Angelegenheit stehe ja fest. Auf die Frage der Freigabe der zurückbehaltenen Personen haben sie in ihrer letzten Note nicht geantwortet, aber erklärt, daß sie bereit seien, über internationale Angelegenheiten, die sie und uns beträfen, zu sprechen. Das ist der Hintergrund, auf dem sich die Konferenz in Moskau abspielte. Es gilt, glaube ich, hier wie überall: Man muß den Hintergrund kennen und beachten, wenn man zu einer Beurteilung dessen gelangen will, was sich in Moskau begeben hat.

Lassen Sie mich zunächst folgendes voranstellen. Die offiziellen Verhandlungen, aber auch die Gespräche, die wir miteinander gehabt haben, waren auf beiden Seiten noch von den Erinnerungen und Leiden durchzittert, die der vergangene Krieg sowohl über Sowjetrußland als auch über uns gebracht hat. Die Sowjetunion mißt uns Deutschen die Schuld zu. Wir mußten der sowjetischen Delegation sagen, daß auch andere Länder, darunter auch Sowjetrußland, daran schuld gewesen seien, daß Hitler diese Macht bekommen habe. Die Auseinandersetzungen, die wir darüber gehabt haben, möchte ich Ihnen nicht in extenso ausbreiten. Es genügt - insbesondere, da Sie ja die Reden kennen, die gehalten worden sind -, wenn ich hervorhebe, daß es eine Konferenz war, nicht wie andere internationale Konferenzen, bei denen etwa unter sachlich verschiedenen Gesichtspunkten Dinge erörtert werden und die Meinung von dem einen oder anderen sachlich dargelegt wird, sondern, daß dieses Leidenschaftliche, dieser Groll, diese Gegensätze, wie ich sie eben geschildert habe, dabei eine außerordentlich starke Rolle gespielt haben. Es war aber gut, daß sowohl die Russen als auch wir über diese Dinge gesprochen haben. Denn Sie wissen, es geht im Leben doch immer so: Unausgesprochene Gegensätze, unausgesprochene Dinge sind damit nicht aus der Welt zu schaffen. Viel eher schafft man sie aus der Welt, indem man darüber spricht, und zwar in aller Offenheit und manchmal auch mit Erregtheit und Temperament. Das ist geschehen, und ich glaube, dadurch sind die Ereignisse der Moskauer Konferenz nicht ungünstig beeinflußt worden, so widerspruchsvoll das vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Natürlich hatten diese Gegensätze zur Folge, daß das Ergebnis der Moskauer Konferenz eigentlich bis zum letzten Tage völlig ungewiß war. Wir waren wiederholt nicht nur darauf gefaßt, sondern unsererseits vollkommen entschlossen, unverrichteter Dinge von Moskau zurückzufahren.

Hier möchte ich noch etwas einschieben. Die öffentlichen Veranstaltungen gastlicher Art standen in einem eigenartigen Gegensatz zu den Verhandlungen: Sie waren einwandfrei, zeigten sogar manchmal eine sehr betonte Herzlichkeit, die einen überraschte, während die Verhandlungen selbst scharf geführt wurden.

Das Ergebnis der Konferenz möchte ich Ihnen in großen Strichen folgendermaßen zeichnen. Die Herstellung der diplomatischen Beziehungen war für die Russen eine Forderung von großer Bedeutung. Dabei spielten gewisse Prestigefragen mit. Es war sicher auch eine gewisse Entspannungsstrategie, es waren vielleicht noch andere Momente, die wir im Augenblick noch nicht überschauen. Aber eines trat ganz klar aus allem hervor: Die Vertreter Sowjetrußlands waren nicht etwa für ihre Person, sondern für Sowjetrußland selbst außerordentlich empfindlich. Sie betrachteten die Ablehnung der Herstellung diplomatischer Beziehungen oder die mit Bedingungen versehene Annahme ihres Vorschlags, diplomatische Beziehungen herzustellen, geradezu als eine Beleidigung der Sowjetunion und betonten sowohl in den Verhandlungen als auch in den Einzelgesprächen wiederholt, die Bundesrepublik schaffe dadurch, daß sie keine diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion herstelle, die Existenz ihres Staates nicht aus der Welt; dieser Staat bestehe, und er werde bestehen, gleichgültig, ob wir diplomatische Beziehungen zu ihm herstellen oder nicht.

Wir haben, glaube ich, richtig gehandelt, daß wir dem Verlangen der Sowjets auf Herstellung der diplomatischen Beziehungen nachgekommen sind, und zwar unter verschiedenen Gesichtspunkten. Wie ich eben schon sagte, hat die Sowjetunion ein ungeheuer großes Gebiet und ist zur Zeit eines der machtvollsten Staatengebilde der Erde. Daran kann man nicht vorbeigehen, und es wäre unklug gewesen, wenn wir das Angebot, diplomatische Beziehungen herzustellen, abgelehnt hätten. Ich habe eben schon gesagt: Die Länder der WEU und die Länder der NATO unterhalten auch diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion, ohne daß dadurch irgendwann und irgendwo einmal der Gedanke aufgetaucht wäre, sie seien infolgedessen nicht bereit, die durch die Zugehörigkeit zur WEU und zur NATO eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Was diese anderen Staaten für sich beanspruchen, müssen wir auch für uns in Anspruch nehmen. Wenn wir uns entschlossen haben, die diplomatischen Beziehungen aufzunehmen, dann ändert das nichts, aber auch gar nichts daran, daß wir unseren Verpflichtungen gegenüber den Organisationen des Westens, denen wir aus innerer Überzeugung beigetreten sind, in vollem Umfange treu bleiben.

Hier möchte ich auch sehr nachdrücklich erklären: Die Vertreter Sowjetrußlands haben niemals verlangt, daß wir aus diesen Organisationen ausscheiden sollen. Herr Chruschtschow hat erklärt: Sie haben die Pariser Verträge geschlossen. Sie sind diesen Organisationen beigetreten, das ist eine Realität, die wir als solche ansehen; wenn wir von Ihnen jetzt verlangen würden. Sie sollten daraus austreten, wäre das eine Art Ultimatum, und wir wollen keine Ultimaten stellen.

Aber aus den Verhandlungen und bei den Gesprächen - ich betone immer wieder die Gespräche bei irgendwelchen Veranstaltungen, weil sie ja zwangloser geführt werden und manchmal eine viel bessere Erkenntnis von dem geben, was sich wirklich abspielt, als die offiziellen Verhandlungen - haben wir wohl alle die Überzeugung gewonnen, daß die Sowjetregierung wirklich ein Sicherheitssystem will, und zwar aus den Gründen, die wir schon wiederholt angeführt haben. Die Sowjetregierung hat eine so große Fülle ungeheurer Aufgaben im Inneren des Landes zu erfüllen - ich denke jetzt nicht an politische, sondern an soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aufgaben -, daß sie der Erfüllung dieser Aufgaben ihre ganze Kraft widmen möchte. Dieses Bedürfnis ist nicht nur für kurze Zeit vorhanden, wie lange es vorhanden sein wird, kann niemand vorhersagen. Aber ich glaube, man würde die gesamte Lage falsch beurteilen, wenn man dieses Verlangen Sowjetrußlands ebenfalls nicht als eine Realität betrachten würde. Dem Bedürfnis nach einer Entspannung, nach einer wirklichen Entspannung in der Welt haben wir, glaube ich, auch dadurch einen Dienst getan, indem wir direkte diplomatische Beziehungen zu Sowjetrußland wiederherstellen, denn wir können dann auch unsere Beziehungen dorthin für eine friedlichere Zeit, für eine Periode des Friedens in der Welt einsetzen.

Nun zum Problem der Gefangenen. Die Vertreter Sowjetrußlands zeigten sich zunächst von unserer Forderung auf Freilassung der zurückbehaltenen Deutschen wenig beeindruckt. Eines möchte ich sehr nachdrücklich betonen: Auch der Politiker darf nicht sagen, bei großen Entscheidungen spielten schließlich 10.000 oder 100.000 Menschenleben keine Rolle; das würde, glaube ich, nicht richtig gehandelt sein. So hat uns bei allen Verhandlungen und bei den internen Aussprachen, die wir im Sonderzug hatten, immer der Gedanke bewegt, manchmal drückend bewegt: Was wird werden, wenn wir ohne eine Verständigung auseinandergehen, wenn niemand von den Gefangenen der Heimat und seinen Angehörigen zurückgegeben wird? Das war für uns ein sehr wesentlicher Gesichtspunkt.

Eben habe ich schon gesagt, daß die Russen aus einem vielleicht berechtigten Prestigegefühl die Aufnahme diplomatischer Beziehungen nicht an Bedingungen geknüpft wissen wollten, weil sie sagen: Man nimmt diplomatische Beziehungen miteinander auf, auch wenn man sonst Gegensätze hat. Die Herren sagten wiederholt: Wir haben diplomatische Beziehungen zu anderen Ländern, mit denen wir sehr schwere Gegensätze haben. Aber unsererseits mußten wir dann doch versuchen, gleichzeitig eine Erfüllung unserer uns so dringend am Herzen liegenden Wünsche - die Freigabe aller dieser Menschen - zu erreichen. Das ist dann dadurch geschehen, daß sowohl Bulganin wie Chruschtschow vor den versammelten Delegationen ihr Ehrenwort gegeben haben, daß die Gefangenen - sie nannten sie die Verurteilten - sofort freigegeben würden. Später versicherte mir Bulganin auf meine Frage noch einmal wörtlich: Wir fangen mit unseren Vorbereitungen dazu an, ehe Sie Bonn auf Ihrem Rückflug erreicht haben.

Die Frage der anderen, von denen wir Briefe haben, von denen die Sowjetvertreter erklärten, nichts zu wissen, haben wir dann so zu lösen versucht, daß wir ihnen eine Liste dieser Personen mit genauen Angaben geben und daß dann von den Sowjets festgestellt wird, wo diese Menschen sind. Beide Herren haben dann ebenfalls ihr Ehrenwort gegeben, daß diese Deutschen genauso behandelt werden würden wie diese Kriegsverurteilten. Das ist, glaube ich, für uns ein großer menschlicher Erfolg, den ich unter keinen Umständen missen möchte.

Ein weiteres bewegte uns bei unserer Reise nach Moskau: Die Frage nämlich, ob wir in der Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands etwas erreichen können. Wenn Sie die erste Rede durchlesen, die ich dort gehalten habe, werden Sie erkennen, daß wir uns dabei vor einem hüten mußten: Wir durften uns nicht in zweigleisige Verhandlungen mit Sowjetrußland über diese Frage begeben, damit die Verhandlungen der vier Siegermächte in Genf über dieses Problem nicht durch die zweigleisigen Verhandlungen mehr oder weniger gestört würden. Deswegen haben wir uns bewußt damit begnügt, daß auch Sowjetrußland anerkannt hat, die vier Siegermächte seien verpflichtet, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen, daß dieses dringendste nationale Verlangen des deutschen Volkes erfüllt werde. Ich lege auf das erste einen sehr großen Wert, auf die Anerkenntnis der Sowjetregierung, daß die vier Siegermächte, also auch Sowjetrußland, verpflichtet seien, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen. Ich gebe mich keinen Illusionen darüber hin, daß dazu langwierige Verhandlungen, auch unter den vier Siegermächten, nötig sind. Aber ich betrachte es doch immerhin als einen Fortschritt, daß Sowjetrußland diese Verpflichtung, die Einheit wiederherzustellen, anerkannt hat, und ferner, daß wir, sobald wir diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion haben, in der Lage sind, nicht nur mit den drei westlichen Alliierten, sondern auch mit Sowjetrußland, dessen Stimme ja auch nötig ist, über die Prozeduren der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu sprechen.

Daß Sowjetrußland nun die „DDR" nicht im Stich läßt, ist ja selbstverständlich. Die „DDR" ist ein Satellitenstaat, wie es manche andere Satellitenstaaten gibt, und was gegenüber dem einen Satellitenstaat geschieht, könnte unter Umständen Konsequenzen bei anderen Satellitenstaaten haben, obgleich natürlich hier - wenn man die „DDR" betrachtet - die Tatsache eine entscheidende Rolle spielt, daß die „DDR" ein Teil des gesamten Deutschlands ist. Man kann derartige Parallelen nicht völlig durchführen, und die Rücksicht Sowjetrußlands auf die anderen Satellitenstaaten, falls sie genommen werden sollte, darf dort natürlich nicht dazu führen, daß man sagt, die Einheit Deutschlands habe Zeit, das werde sich später einmal finden.

Die Eindrücke, die wir in Moskau bekommen haben, waren für uns sehr wertvoll und sehr wesentlich. Sie werden von Ihren Kollegen, die in Moskau gewesen sind, manches darüber gehört haben. Ich glaube, daß andererseits auch für die Vertreter der Sowjetunion die Eindrücke wesentlich gewesen sind, die sie von uns, den Vertretern der Bundesrepublik, bekommen haben. Manchmal habe ich darüber staunen müssen, namentlich in persönlichen Gesprächen, welche völlig falschen Anschauungen die obersten Vertreter Sowjetrußlands über die Verhältnisse in der Bundesrepublik gehabt haben, so daß ich glaube, die vielen Stunden, die wir dort miteinander verbracht haben, haben auch den Sowjets einen anderen Eindruck von der Politik, von den Absichten, von den Verhältnissen hier in der Bundesrepublik vermittelt, als sie ihn bisher hatten. Wir haben keinen Zweifel daran gelassen - ich betone das sehr nachdrücklich -, daß unsere Beziehungen zum Westen von der Herstellung der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland völlig unberührt bleiben würden.

Nun ergaben sich noch schwierige völkerrechtliche Fragen, die davon ausgingen: Kann die Wiederherstellung diplomatischer Beziehungen zu Sowjetrußland später nicht einmal dahin ausgelegt werden, daß wir damit auf das von uns bisher immer wieder betonte Recht verzichtet hätten, daß wir allein berechtigt seien, in internationalen Angelegenheiten auch die Interessen der Deutschen wahrzunehmen, die nicht der territorialen Gewalt der Bundesrepublik unterliegen? Verzeihen Sie diesen vielleicht etwas schwer verständlichen Satz; er ist zwar etwas schwer verständlich, aber dafür ist er völkerrechtlich genau. Auch dem später vielleicht einmal zu erhebenden Einwand, wir hätten mit der Herstellung der diplomatischen Beziehungen die territorialen Grenzen, die neu geschaffen worden sind, anerkannt, durfte nicht Nahrung gegeben werden. Wir haben mit den Vertretern Sowjetrußlands in den offiziellen Verhandlungen sehr offen darüber gesprochen. Sie haben erklärt, sie hätten andere Ansichten, aber wenn wir es für nötig hielten, um eben völkerrechtlichen Konsequenzen vorzubeugen, hätten sie nichts dagegen, wenn wir diese Vorbehalte machen würden, und zwar in einer Weise, die wir wollten, sei es in Form eines Briefes, sei es in einer Erklärung an die Presse. Daher habe ich am Tage meiner Abreise einen Brief an Ministerpräsident Bulganin gerichtet, den Sie kennen, in dem diese Vorbehalte ausgesprochen sind. TASS hat gestern darauf erwidert und den Standpunkt der Sowjetregierung klargelegt. Er ist der gleiche, den die sowjetrussischen Vertreter auch bei den Verhandlungen dargelegt haben. Daß sie gegenüber dem Brief des deutschen Vertreters ihren Standpunkt ebenfalls noch einmal klarlegen, wurde von uns erwartet und ist keine Überraschung irgendwelcher Art.

Eines möchte ich noch betonen. Die Vertreter Sowjetrußlands sind besorgt, ob sie ihren inneren Aufgaben wirklich gerecht werden können, während sie gleichzeitig so ungeheure Ausgaben für die Aufrüstung haben. Das ist der Grund, warum sie eine Periode haben wollen, in der sie eben nicht so viel für die Aufrüstung auszugeben brauchen. Selbstverständlich ist nicht daran zu denken, daß dieser Wunsch der sowjetischen Vertreter darauf basiert, daß sie von ihren kommunistischen Anschauungen abgegangen seien. Sie sind nach wie vor - wir haben auch darüber sehr offen gesprochen - fest davon überzeugt, daß ihre Anschauungen richtig sind. Wir sind davon nicht überzeugt. Wir können sie nicht überzeugen, sie können uns nicht überzeugen. Aber wenn auch diese Besorgnis der Sowjets, daß sie diese ganzen Aufgaben nicht gleichzeitig erfüllen können, nicht auf einer Änderung ihres inneren Standpunktes beruht, so, glaube ich, sollten die freien Mächte doch mit aller gebotenen Vorsicht - diese Worte möchte ich unterstreichen - von diesem Wunsche Kenntnis nehmen und mit aller gebotenen Vorsicht versuchen, daraus eine Periode der friedlichen Entwicklung entstehen zu lassen.

Wohin dann diese friedliche Entwicklung führen wird, das wissen wir jetzt nicht. Sie kann zwei Wege gehen: Sie kann dahin führen, daß die Menschheit und auch die Sowjetregierung sich daran gewöhnen, es doch besser zu finden, wenn man die Welt sich friedlich entwickeln läßt; sie kann auch dazu führen, daß man zu früheren oder jetzigen Methoden zurückkehrt. Daher muß die freie Welt achtsam sein. Sie muß sehr vorsichtig sein. Das werden wir auch sein. Aber man muß doch auch diesen Wunsch der Sowjets, den ich eben skizziert habe, als eine Realität in der Außenpolitik nehmen und aus dieser Realität die nötigen Konsequenzen mit aller Vorsicht und ohne übertriebenes Vertrauen auf eine gute Zukunft zu ziehen versuchen.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 176, 20. September 1955, S.1472-1474. Auszug abgedruckt in: Konrad Adenauer: „Die Demokratie ist für uns eine Weltanschauung.“ Reden und Gespräche 1946-1967. Hg. von Felix Becker. Köln-Weimar-Wien 1998, S. 100-107.