16. September 1961

Wir sind der Damm in Mitteleuropa

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Am 17. September wird der vierte Bundestag gewählt. Es geht dabei um die Erhaltung unserer Freiheit, um die Erhaltung des Friedens und um die Erhaltung unserer gesunden Wirtschaft. Wir sind in der glücklichen Lage, diese drei Güter zu haben. Der Besitz dieser Güter ist nicht selbstverständlich. Es gibt viele Völker in der Welt, denen eines oder zwei oder gar alle Güter vorenthalten sind. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass wir sie immer besitzen.

Es wird von Ihrer Wahl am 17. September abhängen, ob wir sie uns erhalten.

Denken Sie an 1945 zurück. Wir waren ein besiegtes und besetztes Land. Wir waren arm. Millionen, die ihre Heimat im Osten unseres Vaterlandes verloren hatten, strömten in unsere zerstörten Städte und Dörfer. Außenpolitisch waren wir ein Nichts.

Heute ist, Gott sei Dank, alles anders. Aber stellen Sie sich nur einmal vor, die Mehrheit unseres Volkes hätte bei der ersten Wahl zum Bundestag ihre Stimme der SPD gegeben. Mit der sozialisierten und staatlich gelenkten Wirtschaft, für die sich diese Partei einsetzte, wären wir nicht viel weiter gekommen als unsere unglücklichen Brüder in der Zone. Außenpolitisch wären wir der Wiedervereinigung nicht nähergekommen, es sei denn unter dem System Ulbrichts. Wir hätten die Freiheit längst verloren und wahrscheinlich auch den Frieden. Sie erinnern sich, dass die Opposition damals für die Bündnislosigkeit und gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik eintrat, für ein Treiben zwischen den beiden großen Blöcken. Sie lehnte den Anschluss an Europa, an die freie Welt und den Beitritt zur NATO ab. Sie stimmte gegen den deutschen Wehrbeitrag, obwohl er die Voraussetzung dafür war, dass der Westen für unsere Freiheit kämpfen wird. Noch 1959 entwickelte sie den unseligen Deutschlandplan, der die Bundesrepublik des Schutzes ihrer Verbündeten beraubt und den Machthabern in der Zone, die alle Menschenrechte mit Füßen treten, ein bedenkliches Mitspracherecht auch bei uns gegeben hätte. Noch 1960 bekannte sich Herr Ollenhauer zu diesem Plan. Heute tun viele SPD-Führer so, als wenn das alles nicht gewesen wäre.

Ich bin skeptisch gegenüber der Behauptung einer hundertprozentigen Umkehr einer Partei in einer solch entscheidenden Frage. Man weiß nie, ob nicht eines Tages eine neue Umkehr, diesmal zu der früheren Anschauung hin, kommt. Sie scheint schon gekommen zu sein. Herr Heinemann hat sich noch in diesem Jahr zum Deutschlandplan bekannt. Im offiziellen Pressedienst der SPD schrieb er noch am [...] August dieses Jahres, dass die NATO nur eine Durchgangsstation sei und dass Deutschland in Europa eines Tages "anders angeordnet werden müsse". Die Fraktion der SPD hat noch im Sommer dieses Jahres in namentlicher Abstimmung den Verteidigungshaushalt abgelehnt und hat auf der letzten Sitzung des Bundestages am 22. August gegen das Bundesleistungsgesetz gestimmt, das der Regierung in schweren Zeiten wenigstens einige Ordnungsmöglichkeiten geben soll.

Ich glaube, dass, wenn die SPD ihr Ziel, die Macht, erreicht hat, sie zu ihren alten eingewurzelten Vorstellungen von einer gelenkten Wirtschaft und einem Pendeln zwischen den Machtblöcken zurückkehren wird. Davon abgesehen: Was ist von Leuten zu halten, die elf Jahre lang einen falschen Kurs steuern wollten und nun behaupten, den richtigen Kurs noch besser zu kennen als jene, die ihn gegen die Opposition elf Jahre lang zum Wohle unseres Vaterlandes einhielten? Selbst wenn sie den besten Willen hätten, was ist von den Fähigkeiten dieser Leute zu halten, von ihrer Klugheit, von ihrem Weitblick und von ihrer Beständigkeit? Kann man ihnen das Steuer in schwierigster Zeit anvertrauen?

Wie würden Sie im privaten Bereich entscheiden, wenn sie ein Haus bauen wollten und die Wahl hätten zwischen einem Architekten, der immer gut, solide und preiswert gebaut hat, und einem, der bisher nur unbrauchbare Pläne gemacht hat und über keinerlei Erfahrung verfügt und nun plötzlich sich anbietet, er wolle Ihr Haus nach den Methoden des ersten Architekten bauen und würde das noch besser machen als jener? Würden Sie ihm den Auftrag geben?

Um diese Frage geht es bei der Wahl. Und noch eines: Es steht einer Partei, die in der Vergangenheit nur Ratschläge gab, die uns in ein nationales Unglück gestürzt hätten, schlecht an, heute nach "nationalen Aktionen" zu rufen. Es ist verantwortungslos, die nationale Krise seit dem 13. August für Parteizwecke auszunutzen. Es ist verantwortungslos, um der Popularität willen nach irgendwelchen Maßnahmen zu rufen, und es wäre verantwortungslos, um der Popularität willen unbedachte Maßnahmen zu treffen - und dabei möglicherweise in den Krieg hineinzuschlittern. Es war unbedingt notwendig, die Nerven und die Übersicht zu bewahren und sich nicht provozieren zu lassen. Es war nicht leicht, kurz vor den Wahlen unpopulär zu scheinen. Aber es war notwendig zum Wohle unseres Vaterlandes und zur Erhaltung des Friedens. Appelle an das Nationalgefühl wurden bei uns schon einmal missbraucht. Es kostete uns zwölf Jahre härtester Arbeit, einiges von dem wiederaufzubauen, was damals zerschlagen wurde - und vieles konnte nicht mehr zum Leben erweckt werden.

Die Entscheidung, die Sie zu treffen haben, ist besonders bedeutungsvoll, weil sie in eine der schwersten politischen Krisen seit Kriegsende fällt. Erneut versucht Russland, sein altes Ziel zu erreichen, weiter nach Westen vorzudringen. Wir in der Bundesrepublik und in Berlin sind die ersten, die diesen Druck auffangen müssen. Wir sind der Damm in Mitteleuropa. Wenn wir auch schwierigen Zeiten entgegengehen, ich bin nicht pessimistisch; wir haben schon manchen Sturm überstanden. Wir werden auch diesen überstehen. Wir stehen für eine gute Sache. Wir haben gute und mächtige Freunde. Wenn Sie die Regierung morgen erneut denen anvertrauen, die all die Jahre hindurch ihr Können bewiesen haben, werden auch die vor uns liegenden Schwierigkeiten gemeistert werden.

Es geht um eine Entscheidung, die für unser Vaterland von größter Bedeutung ist. Sie ist aber auch wichtig für die ganze Welt. Wir wissen, dass alle Völker auf uns sehen. Während die einen lauernd darauf warten, ob die Mehrheit unseres Volkes verzagen und sich für die Unbeständigen und die politisch Instinktlosen entscheiden wird, hofft die freie Welt, dass wir morgen die Regierung wiederwählen, die in der Vergangenheit Besonnenheit, Weitblick und Mut bewiesen hat.

Unter dem "deutschen Wunder" wird allgemein der unvergleichliche wirtschaftliche Wiederaufstieg nach dem Kriege verstanden. Die Geschichte wird aber einmal feststellen, dass das eigentliche deutsche Wunder darin bestand, dass unser Volk auch unter den widrigsten Umständen die Kraft und den Mut besaß, sich zum Frieden zu bekennen und sich bedingungslos für die Freiheit zu entscheiden. Tun auch Sie das bei der Wahl.

 

Quelle: Süddeutsche Zeitung, München vom 16. September 1961.