18. April 1950

Rede des Bundeskanzlers Adenauer im Titania-Palast in Berlin

 

Herr Oberbürgermeister, Herr Stadtverordnetenvorsteher von Berlin, meine verehrten Damen und Herren!

Zum ersten Male weile ich in diesen Tagen unter Ihnen als Bundeskanzler. Aber ich bin zum fünften Male unter Ihnen seit dem Zusammenbruch. Heute und gestern kam mir unwillkürlich stark in die Erinnerung der unvergeßliche Tag, an dem ich in der Winterszeit der Blockade unter Ihnen geweilt habe. Ich schied damals von Berlin in tiefer Besorgnis und erfüllt von tiefem Mitgefühl mit den Leiden der Bewohner dieser Stadt. Ebenso unvergeßlich wird mir aber auch bleiben dieser Besuch, dieser erste Besuch, den ich als Bundeskanzler Ihnen mache. Lassen Sie mich das erste unterstreichen, dieses Wort in der Richtung, daß er nicht der letzte sein wird.

(Beifall.)

Der gestrige Tag in Berlin, meine Damen und Herren - ich übertreibe nicht und ich schmeichle nicht, wenn ich das sage -, ist der schönste Tag gewesen, den ich bisher als Bundeskanzler erlebt habe.

(Langer Beifall.)

Alle die Tausende frohen Gesichter und lachenden Augen, die mich gestern und heute begrüßt haben, haben einen sehr tiefen Eindruck auf mich gemacht. Ich weiß, daß diese Grüße nicht meiner Person gegolten [haben], sondern daß sie Deutschland, unserm Vaterlande, galten. Aber dieser Empfang hier in Berlin, in Berlin, das seit '45 so vieles hat ertragen müssen, hat mich mit Vertrauen und mit Hoffnung erfüllt. Meine lieben Berliner und Berlinerinnen, ich kehre reich beschenkt von Ihnen an meine Arbeit zurück.

Ich bin gestern mit allen Schichten der Bevölkerung hier, mit allen Behörden und Ständen in Berührung gekommen. Die Massenkundgebung gestern mittag in dem Turbinenwerk der AEG war wundervoll. Allen Berlinern danke ich von ganzem Herzen für alles das, was sie mir getan haben. Ich habe auch in diesen Tagen viele Wünsche und manche Klagen gehört, und ich glaube, daß, objektiv gesehen, manche Klagen durchaus berechtigt sind. Ich kann Ihnen zur Erklärung nur sagen: Es ist kein böser Wille gewesen. Die Bundesrepublik Deutschland besteht ja erst wenige Monate, und die größten und schwierigsten Aufgaben harren ihrer Erledigung. Lassen Sie mich nur katalogweise aufzählen: Flüchtlingsfragen, Lastenausgleich, Wohnungsfragen, Arbeitslosigkeit, gerechte Einordnung des Arbeitnehmers in die Wirtschaft. Und bedenken Sie bitte weiter auch noch folgendes: Die Bundesregierung ist noch keine gut eingelaufene Maschine. Alles braucht Zeit, auch die Organisation einer Bundesregierung. Wir haben Ihnen bisher geholfen, und - ich unterstreiche dieses Wort - wir werden Ihnen auch weiter helfen.

(Langer Beifall.)

Wir werden das Letzte daran setzen, um das wirtschaftliche Leben Berlins gesund zu machen. Nur dadurch können wir ja Berlin stärken in seinem politischen Kampf, in dem Kampf um die Freiheit, um wahre Demokratie und um Menschenrechte. Im Namen der Bundesrepublik Deutschland danke ich Ihnen von ganzem Herzen für Ihren Mut, für Ihre Energie, für Ihre Zähigkeit, für Ihre Ausdauer, für Ihre Tapferkeit, für das geschichtliche Verdienst, das Sie sich erworben haben um das gesamte Deutschland und um das Abendland.

(Beifall.)

Lassen Sie mich in dieser Stunde, wo ich zu Ihnen spreche, auch der stillen Dulder in der Sowjetzone gedenken, der 18 Millionen deutscher Brüder und deutscher Schwestern, die so leidgeprüft dort aushalten. Sie tun dem Deutschtum und dem Westen damit einen nicht hoch genug einzuschätzenden Dienst. Wir werden es ihnen niemals vergessen,

(Starker Beifall.)

und ich hoffe, daß wir dereinst doch wieder alle vereint ein Volk, ein Staat, ein freies Volk, ein freier Staat sein werden.

(Langer Beifall.)

Meine Damen und meine Herren, das Schicksal Berlins, das Schicksal der Sowjetzone und das Geschick der Bundesrepublik Deutschland stehen in engem Zusammenhang mit außenpolitischen Entwicklungen, mit der Gestaltung Europas, an der mitzuwirken wir zur Zeit nur in bescheidenem Maße berufen sind. Es finden - und darum darf ich gerade dieses Gebiet der Außenpolitik hier in Berlin ausführlicher behandeln, denn es ist Ihr Geschick und unseres, das da entschieden wird -, auf außenpolitischem Gebiet finden offenbar intensive Beratungen und Besprechungen unter den Westalliierten statt. Beratungen, die, ich unterstreiche das nochmals, mit Europa, aber sich auch mit der Zukunft Gesamtdeutschlands beschäftigen. Die Bundesrepublik Deutschland hat keine diplomatischen Vertretungen. Sie ist über das, was verhandelt wird, nicht besser unterrichtet als irgendeiner von Ihnen. Sie ist angewiesen auf die Veröffentlichungen in der Inlands- und Auslandspresse und auf das, was der Rundfunk zu uns aus dem Auslande herüberträgt. Ein vollständiges und genaues Bild läßt sich naturgemäß daraus nicht herleiten.

Aber immerhin liegt gerade in diesen Tagen, da ich zu Ihnen spreche, eine Reihe von für die Außenpolitik und für unsere Zukunft wichtigen Tatsachen und Veröffentlichungen vor. Ich nenne hier an erster Stelle die Einladung an die Bundesrepublik Deutschland, dem Europarat als assoziiertes Mitglied beizutreten. Ich nenne die Rede, die der amerikanische Hohe Kommissar, Mr. McCloy, am 4. April in London gehalten hat, die Rede des französischen Ministerpräsidenten Bidault in Lyon bei der Eröffnung der internationalen Messe am 16. April, weiter eine Note der britischen Regierung an die Regierungen von USA, von Frankreich und die Benelux-Staaten, anscheinend datiert vom 16. April, über die Aufhebung des Kriegszustandes mit Deutschland gleichzeitig mit der für September vorgesehenen Revision des Besatzungsstatuts. Ich nenne weiter die Mitte Mai stattfindende Konferenz der drei westalliierten Außenminister in London und endlich einen aus London datierten Bericht der deutschen Zeitung "Die Welt" von gestern.

Wenn ich diesen Artikel, der überschrieben ist: "Deutschlands Aussichten für London - Bonns Westorientierung Voraussetzung für Konzessionen" - beachten Sie wohl diese Überschrift, meine Damen und Herren -, wenn ich diesen Artikel der "Welt" in einem Atem nenne, in einer Folge mit dem, was ich vorher gesagt habe, so tue ich das deshalb, weil "Die Welt" einen britischen Controller hat, der im Impressum selbst aufgeführt ist, und weil man deswegen wohl annehmen kann, daß ein so außerordentlich wichtiger Artikel wie dieser, der die Ansichten der britischen Regierung wiedergeben will und der aus London datiert ist, wohl als eine offiziöse Verlautbarung maßgebender britischer Stellen angesehen werden darf.

Aus dieser Aufzählung, meine Damen und Herren, werden Sie ersehen haben, daß die politische Aktivität der westalliierten Regierungen zur Zeit außerordentlich stark ist. Sie werden auch - ich darf mir das offene Wort hier gestatten - mit mir darin übereinstimmen, daß es für Deutschland und für die deutsche Bundesregierung nicht gerade ein besonders begrüßenswerter Zustand ist, wenn sie von allen diesen für sie und für das deutsche Volk so entscheidenden Vorgängen lediglich aus der Presse erfährt.

(Starker Beifall.)

Die Verantwortung für viele Millionen deutscher Menschen tragen zwar auch die Westalliierten, trägt aber auch die Bundesregierung und trägt jeder Deutsche.

(Beifall.)

Ich glaube auch sagen zu dürfen, daß wohl auch für die westalliierten Außenämter die Meinung der Bundesregierung einen gewissen Wert haben dürfte.

Meine Damen und Herren, die Einladung zum Beitritt in den Europarat als assoziiertes Mitglied wird dem Bundestag zur Entscheidung vorgelegt werden. Es muß aber zunächst noch die Klärung einer wesentlichen Frage erfolgen. Es sind Schritte geschehen, diese Klärung herbeizuführen. Ich bitte Sie und die deutsche Öffentlichkeit, Verständnis dafür zu haben, daß ich, ehe die Klärung dieser wesentlichen Frage erfolgt ist, auf die Einladung zunächst nicht weiter eingehe.

Was die Rede Herrn Bidaults in Lyon angeht, so liegen bisher nur Auszüge in der Presse vor. Man wird den vollen Wortlaut dieser Rede abwarten müssen. Sie findet nach Zeitungsnachrichten in Washington und in London ihrer Tendenz nach Zustimmung. Auch mir scheint, daß die Rede des französischen Ministerpräsidenten in der gleichen Richtung geht, die von Deutschland und von der Bundesregierung von jeher erstrebt worden ist, in der Richtung eines stärkeren Zusammenschlusses Europas.

(Beifall.)

Die Londoner Konferenz der drei Außenminister, die Mitte Mai stattfindet, wird zur Zeit vorbereitet. Genaueres über die Tagesordnung ist bisher nicht bekanntgeworden. Es gehen einander widersprechende Nachrichten durch die Presse: Bald wird gesagt, daß diese Konferenz sich mit der Deutschlandfrage nicht ausführlich beschäftigen würde, daß wohl in den Verhältnissen Deutschlands zu den Westalliierten eine besondere Änderung nicht eintreten werde vor der Revision des Besatzungsstatuts im Herbste dieses Jahres. Dann wird wieder gesagt, es werde auch die Meinung vertreten, man könne mit der Regelung der deutschen Frage nicht bis zum Herbst dieses Jahres warten. Wir Deutsche und insbesondere die Bundesregierung haben den dringenden Wunsch, daß sich die Außenministerkonferenz mit der deutschen Frage intensiv beschäftigen möchte.

(Starker Beifall.)

Mr. McCloy hat am 4. April in London meines Erachtens zutreffend ausgeführt, daß die Europafrage und die Deutschlandfrage untrennbar miteinander verbunden sei. Wenn man die Europafrage weiterbringen will - und es scheint mir höchste Zeit dafür zu sein -,

(Beifall.)

dann wird man gleichzeitig auch an die Deutschlandfrage herantreten müssen, so prekär sie vielleicht in manchen Augen erscheint. Aber sie muß doch einmal weitergebracht werden. Man hat zwar bei Erlaß des Besatzungsstatuts im vorigen Herbst gesagt, daß eine Revision des Besatzungsstatuts erst im Herbst 1950 erfolgen solle, aber es scheint mir nicht wichtig, an einem Termin, weil man ihn nun einmal ausgesprochen hat, unter allen Umständen festzuhalten. Die Verhältnisse in Europa und in der Welt haben seit dem Herbst 1949 eine immer schnellere Entwicklung genommen, und es sieht nicht so aus, als ob diese Entwicklung sich jetzt verlangsamen oder gar zum Stillstand kommen würde. Im Gegenteil; ich bin daher der Auffassung, und ich würde es für sehr wünschenswert im deutschen und im europäischen Interesse halten, wenn auf dieser Londoner Konferenz, auf der die Europafrage auf alle Fälle ein wesentlicher Punkt auf der Tagesordnung sein wird, auch die Deutschlandfrage in gleicher Weise behandelt wird.

Die deutsche Öffentlichkeit, meine Damen und Herren, kann sich meines Erachtens nicht genug beschäftigen mit der Rede des amerikanischen Hohen Kommissars vom 4. April in London. Wir Deutsche können seinen Ausführungen in weitestem Maße zustimmen. Zwei wesentliche Gedanken aus seiner Rede möchte ich hier näher behandeln:

Mr. McCloy sagt:

"Die Tatsache kann nicht geleugnet werden, daß Deutschland noch Beweise für die Notwendigkeit von Einschränkungen und von Kontrollen liefert. Bei kluger Anwendung in einfacher und klarer Form können die verschiedenen Arten der Kontrolle als wichtiger Schutz für den Frieden gelten."

Und an einer anderen Stelle sagt er:

"Um es genauer auszudrücken: Nach zwei Weltkriegen fürchten Deutschlands Nachbarn die Wiederaufrichtung einer starken deutschen Wirtschaft, wenn sie nicht durch eine allgemeine Rechtsordnung vor rücksichtslosen Angriffen geschützt wird."

Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob eine starke deutsche Wirtschaft Aggressionsmittel ist. Ich möchte es bezweifeln. Aber Mr. McCloy hat hier in diesen Sätzen die psychologische Einstellung der Nachbarn Deutschlands, der Westalliierten, wiedergegeben. Und nach allem, was vorgegangen ist - wir müssen das offen sagen -, ist die psychologische Einstellung der Nachbarn Deutschlands zu verstehen, wenigstens in gewissem Grade zu verstehen. Ich lasse jetzt dahingestellt, ob man in dem Mißtrauen gegenüber der deutschen Entwicklung nicht zu weit geht. Ich nehme an - und ich glaube, man kann diese Annahme wohl mit Recht hegen -, daß auch hier die Zeit mildernd einwirkt. Ich wiederhole, nach dem, was sich in der Welt ereignet hat, müssen wir Deutsche uns auch innerlich mit der Tatsache von Kontrollen abfinden. Aber ich glaube, diese Kontrollen - und da wiederhole ich die Worte McCloys - sollten vernünftig, klar und einfach sein. Sie dürfen vor allem nicht den Eindruck bei uns Deutschen erwecken, daß sie ein Niederhalten der deutschen Konkurrenz bezwecken,

(Starker Beifall.)

weil dadurch ein der europäischen Entwicklung schädliches Mißtrauen in Deutschland gegenüber den Westalliierten hervorgerufen würde. Sie dürfen auch nicht zu sehr, meine Damen und Herren, ins einzelne gehen und über den notwendigen Zweck hinausgehen. Wenn Sie z.B. wissen würden, daß an Stahlwerke Fragebogen verschickt werden, die so dick sind, dann, meine Damen und Herren, steigt einem manchmal doch die Frage auf, welches Land bei einem Wettbewerb um die größte Bürokratie den ersten Preis gewinnen würde.

(Langanhaltender Beifall.)

Meine Damen und Herren, Mr. McCloy hat in seinen Ausführungen auch Positives und sehr gutes Positives gesagt. Er sagte, man rechne [damit], daß Einschränkungen und Kontrollen allein nicht ausreichen, daß die Westalliierten größere Hoffnungen in konstruktive Bemühungen zur Stärkung der fortschrittlichen Kräfte in Deutschland setzen. Und er sagt ebenfalls an einer anderen Stelle, daß das deutsche Programm der Westalliierten eine notwendige, und zwar eine absolut notwendige Ergänzung durch den Aufbau eines vereinigten Europas finden müsse, von dem Deutschland ein Teil werden müsse.

Meine Damen und Herren, das sind außerordentlich kluge Worte und weitherzige Worte. Es ist richtig, wenn er sagt:

"Die Tatsache bleibt bestehen, daß wir das deutsche Problem nicht lösen können, ohne dieses deutsche Problem in den größeren Rahmen eines vereinigten Europas einzuordnen."

Es ist weiter richtig, wenn er sagt, daß nur in diesem Rahmen er die Möglichkeit sehe, die wirtschaftlichen, politischen und geistigen Kräfte Deutschlands auf gesunde und friedliche Basis zu lenken. Diese Ausführungen McCloys ehren wir alle von ganzem Herzen, und auch wir sind der Auffassung, daß das allein der Weg ist, die deutsche Frage wirklich und endgültig zu lösen.

(Beifall.)

Denn, meine Damen und Herren, das Mißtrauen gegen uns Deutsche ist groß in der Welt und das Mißtrauen gegen die deutsche Bundesrepublik als Exponent der Deutschen ist besonders groß. Aber wenn ein so fortschrittlich gesinntes Blatt wie "Le Monde" sagt - ich habe das heute gelesen -, ich, der Bundeskanzler, handle opportunistisch, wenn ich jetzt für ein vereinigtes Europa eintrete, so ist das, meine Damen und Herren, nicht richtig. Für den europäischen Gedanken bin ich schon in den zwanziger Jahren mit ganzer Kraft eingetreten, als Graf Coudenhove-Kalergi die Paneuropa-Bewegung leitete. Und im März 1946 habe ich in einer großen Versammlung in Köln unter deren brausendem Beifall gesagt, daß nur im Rahmen eines vereinigten Europas eine Lösung der deutschen und der europäischen Frage möglich sei.

Mr. McCloy sagt an einer anderen Stelle seiner Rede, daß viele Faktoren zum sofortigen Handeln drängten. Er und die führenden Staatsmänner der Westalliierten überschauen naturgemäß die internationale Lage viel besser als wir. Aber wenn man wie wir Deutsche so im Kraftfeld der Spannungen zwischen Ost und West lebt, bekommt man ein intuitives Gefühl für kommende Entwicklungen und ein intuitives Gefühl für das, was notwendig ist.

Ich glaube nicht, meine Damen und Herren, daß man den Termin des Herbstes herankommen lassen darf, ohne mit Entschlossenheit und mit Entschiedenheit an die Regelung der deutschen Frage innerhalb der europäischen Frage heranzugehen.

(Starker Beifall.)

Ich habe eben [zu] Ihnen gesprochen von dem Artikel in der deutschen Zeitung "Die Welt", und dieser Artikel, die Ausführungen, die dort gemacht worden sind, haben mich - das muß ich ehrlich gestehen - aufs äußerste überrascht und geschmerzt. Und ich möchte nur zu gerne annehmen, daß diese Ausführungen nicht die Meinung maßgebender englischer Staatsmänner sind. Es war in dem Artikel ausgeführt, daß unter den Westalliierten zwei Richtungen beständen, zwei Meinungen. Die eine Meinung gehe dahin, daß man Deutschland einordnen solle in die Rechte und Pflichten eines europäischen Staates in einer europäischen Föderation, jetzt. Und die andere Meinung gehe dahin, daß erst die Bundesrepublik Deutschland Beweise dafür erbringen müsse, daß sie der Neigung zu Sowjetrußland entsagt hat.

(Entrüstung.)

Es war weiter dann gesagt, daß die amerikanische Meinung, die zuerst mit der ersten identisch gewesen sei, sich seit der Rückkehr McCloys aus Washington der britischen und französischen Meinung - das ist der zweiten, die ich wiedergegeben habe - zu nähern scheint.

Nun, meine Damen und Herren, ich frage mich allen Ernstes: Was soll denn Deutschland noch tun, um die Westalliierten von seiner inneren Einstellung zu überzeugen?

(Anhaltender Beifall.)

Hat nicht Westdeutschland schon diese Entscheidung getroffen mit der Schaffung des Bonner Grundgesetzes? Ist es in den westalliierten Ländern unbekannt, daß es in der Präambel des Grundgesetzes heißt, daß Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen wolle? Und weiß man in diesen Nachbarländern denn nicht, daß der Artikel 24 des Grundgesetzes folgendermaßen lautet:

Der Bund kann durch Gesetz - durch einfaches Gesetz, meine Damen und Herren - Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.

Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.

Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, daß irgendein Land in der Welt eine so fortschrittliche Bestimmung in seiner Verfassung hat wie wir.

(Beifall.)

Und, meine Damen und Herren, ist es denn unbekannt, daß von 402 Bundestagsabgeordneten nur 15 der kommunistischen Partei angehören? Kennt man draußen nicht die immer wiederholten Erklärungen der Parteien - mit Ausnahme der Kommunisten natürlich -, Erklärungen des Bundestages und der Bundesregierung über die Einordnung in ein föderatives Europa? Hat man schon vergessen, daß einer der ersten Schritte der Bundesregierung das Petersberger Abkommen gewesen ist, das Petersberger Abkommen, das eine sehr klare Entscheidung für die Einordnung in den Westen bedeutet? Und, meine Freunde, denkt man denn nicht daran, daß dieser ständige Kampf, den die Berliner nun seit Jahr und Tag mit beispielloser Hingabe, Zähigkeit und Aufopferung führen, nichts anderes ist als eine Absage gegen sowjetrussischen Despotismus und eine Erklärung für Westeuropa?

(Starker, langanhaltender Beifall.)

Die Hilfe, die die Bundesregierung bisher Berlin gewährt hat und die sie in verstärktem Maße in Zukunft Berlin gewähren wird,

(Beifall.)

gern und freudig gewähren wird, trotz drängendster Aufgaben, die zu Hause auf uns warten, und trotzdem wir wahrhaftig nicht im Überfluß leben, diese Erkenntnis unserer Pflicht gegenüber Berlin, die ruht sehr sicher auf dem Gemeinschaftsgefühl mit den Berlinern, aber sie stammt auch aus der klaren politischen Erkenntnis heraus, daß Berlin hier die Aufgabe des Westens in der vordersten Front erfüllt.

(Starker Beifall.)

Sehen Sie, meine Damen und Herren, ich wollte, diejenigen Stellen der westalliierten auswärtigen Ämter, von denen die Welt spricht, und die nun von der Bundesregierung, von den Deutschen einen Beweis dafür verlangen, daß wir uns stark genug mit dem Westen verbunden fühlen, ich wünschte, diese Herren hätten gestern den Empfang gesehen, den die Berliner dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland bereitet haben.

(Beifall.)

Dieser Empfang, diese Versammlung, insbesondere auch bei der AEG, war doch nur deswegen so schön und so prachtvoll, weil alle diese Menschen in der Bundesrepublik Deutschland einen Schutz und einen Hort gegenüber östlicher Bedrohung suchen und sehen.

(Beifall.)

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß es nötig, daß es klug und weise ist, so schnell wie möglich die Bundesrepublik Deutschland einzuordnen als gleichberechtigtes Mitglied in das westeuropäische System. Wenn man trotzdem Kontrollen für nötig hält, so mag man ruhig diese Kontrollen in vernünftiger Weise betreiben.

Genau wiederholt sich nichts in der Geschichte, aber immerhin, es wiederholen sich doch oft in gewissem Sinne Tatbestände und Perioden, die einander gleichen, und die Geschichte ist so leicht eine Lehrmeisterin für verantwortliche Staatsmänner. Ist nicht die heutige Lage in Europa durchaus vergleichbar mit der Lage, wie sie in Europa nach den Napoleonischen Kriegen war? Auch damals hatten jahrzehntelange Kriege ganz Europa verwüstet und durcheinandergeschüttelt. Mit vereinten Kräften war damals Frankreich von den Alliierten besiegt und Napoleon entthront worden. Europa blutete auch damals aus tausend und abertausend Wunden. Und die Parallele geht sogar so weit, meine Damen und Herren: Auch damals stand der Osten mit seiner Macht mitten in Europa. Aber die Staatsmänner, die damals Europa neuordneten - leider sind sie später so verkannt worden -, waren so klug, daß sie, unter Zurückstellung aller Haßgefühle, aller Bitterkeit, das damals besiegte Frankreich, den Urheber des damaligen Leids in Europa, als gleichberechtigten Partner behandelten bei der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongreß.

(Starker Beifall.)

Diese Männer haben das damals sicher nicht getan aus Liebe zu Frankreich, zu dem damaligen Frankreich, aber sie haben es getan, weil sie einsahen, daß sonst eine dauerhafte Lösung des europäischen Problems nicht möglich war. Sie hatten den Mut und die Tatkraft, entsprechend dieser Überzeugung zu handeln. Ich appelliere an die europäischen Staatsmänner von heute, ebenso klug, ebenso weise, ebenso kühn zu sein, wie jene Männer damals gewesen sind.

(Starker Beifall.)

Man ist damals nicht so weit gegangen, ein föderatives Europa zu schaffen. Das schien damals nicht nötig. Man konnte sich damals auf Friedensverträge und Abmachungen beschränken. Heute, da der Konflikt die gesamte Welt ergriffen hat und da Verträge leider Gottes nicht mehr so viel gelten wie damals, sind stärkere Maßnahmen nötig. Ich glaube, daß ein föderativ aufgebautes Europa, wie es anscheinend auch Bidault will, einen ganz wesentlichen, vielleicht entscheidenden Friedensfaktor für die gesamte Welt bedeutet.

(Beifall.)

Daß darum, meine Damen und Herren, auch Rußland die Bildung eines solchen föderativen Europas begrüßen müßte, wenn es ihm ernst ist mit seiner Behauptung, daß es den Frieden wolle.

(Beifall.)

Ein föderatives Europa kann schon wegen der in ihm vereinigten verschiedenartigen Kräfte, die ausgeglichen werden müssen, niemals ein Angreifer sein. Ein föderatives Europa wird immer seine Kräfte dafür einsetzen, daß kein Krieg unter den Weltmächten ausbricht. Ich glaube, daß die Menschheit nach diesen furchtbaren Katastrophen Gelegenheit hat, weiteren Katastrophen vorzubeugen und die gesammelten Kräfte aller gutwilligen Völker dem wahren Fortschritt der Menschheit und dem Frieden dienstbar zu machen.

(Starker Beifall.)

Ich habe eingangs davon gesprochen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands ein Zentralproblem der Politik der Bundesrepublik ist. Das gilt insbesondere hinsichtlich Berlins und hinsichtlich des deutschen Ostens. Die Bundesregierung hat sich den Vorschlägen, allgemeine Wahlen in Deutschland abzuhalten zwecks Einberufung einer Nationalversammlung, mit vollem Herzen angeschlossen.

(Starker Beifall.)

Ob wir Erfolg haben werden, steht dahin, aber unseren Brüdern und Schwestern im deutschen Osten möchte ich von hier aus zurufen: Wir werden niemals die Hoffnung und die Zuversicht aufgeben, daß im Osten auch eines Tages eine gerechte Ordnung und eine gerechte Regelung erfolgen wird, die unserem Volke die Einheit in Frieden wiedergibt.

(Sehr starker Beifall.)

Ich glaube nicht, daß Sowjetrußland gut beraten ist, wenn es mit Hilfe der SED versucht, die 18 Millionen Menschen in der Ostzone mit Gewalt zu einem Leben zu zwingen, das ihrer innersten Natur, ihrer Tradition, ihrem Wollen absolut zuwider ist.

(Starker Beifall.)

Wir können unseren Menschen in der Ostzone leider jetzt nicht unmittelbar helfen, aber wir sind mit dem ganzen Herzen bei ihnen. Wir danken ihnen, wir bitten sie, auszuharren, bis diese Periode der Wirren, diese Zeit der Prüfungen vorüber ist, und, meine Damen und Herren, eines Tages wird diese Zeit ihr Ende finden.

(Starker Beifall.)

Die von uns erstrebte Einheit Deutschlands wird der Festigung des Friedens in Europa und in der Welt dienen. Niemand braucht das neue Deutschland, auch wenn es wieder seine Einheit und seine Freiheit besitzt, zu fürchten. Wir haben den Nationalsozialismus, seine Unterdrückung, seine Knechtschaft, seine furchtbaren Folgen, diesen schrecklichen Krieg erlebt. Wir haben so schwer darunter gelitten, und wir leiden darunter noch immer so schwer, daß wir vielleicht mehr als manche andere Völker erkannt haben, welch hohes Gut Recht ist und welch hohes Gut der Frieden ist.

(Starker Beifall.)

Wir haben erkannt, in Leid und in Not haben wir erkannt, daß es nur ein sicheres Fundament gibt für das menschliche Zusammenleben:

Freiheit und Recht. Auf Einigkeit, auf Recht und Freiheit wollen wir das neue Deutschland bauen.

Wenn ich Sie nunmehr, meine Damen und Herren, bitte, die dritte Strophe des Deutschlandliedes zu singen, dann sei uns das ein heiliges Gelöbnis, daß wir ein einiges Volk, ein freies Volk und ein friedliches Volk sein wollen.

(Langanhaltender Beifall.)

 

Quelle: StBKAH 02.06.