18. Juni 1946

Schreiben an Frans van Cauwelaert, Antwerpen

Frans van Cauwelaert (1880-1961), belgischer Politiker der Katholischen Partei bis 1945, der Christlich-Sozialen Partei ab 1945, 1939-1954 Präsident der belgischen Abgeordneten­kammer.

 

Sehr geehrter Herr van Cauwelaert!

 

Es ist nicht ganz leicht für mich, Ihnen zu schreiben. Ich weiß, was Deutschland an Ihrem Vaterlande getan hat, und ich weiß auch, was Ihnen persönlich widerfahren ist. Andererseits werden Sie ja auch wissen, dass bei weitem nicht alle Deutschen hiermit einverstanden gewesen sind, dass insbesondere ich zu diesen gehört habe und dass so­wohl ich wie auch meine Frau wegen unseres Wider­standes schwer unter dem Nationalsozialismus haben leiden müssen.

Die Sozialisten der verschiedenen früher feindlichen Län­der haben inzwischen Verbindungen miteinander ange­knüpft, obgleich die deutschen Sozialisten lange nicht so widerstandsfähig gegenüber dem Nationalsozialismus gewesen sind wie die deutschen Katholiken. Diese Tat­sache, dass die Sozialisten sich gefunden haben, gibt mir die Hoffnung, dass wir Katholiken, die wir uns innerlich viel näher stehen und viel tiefer miteinander verbunden sind, uns auch wieder finden werden.

Aus dieser Hoffnung heraus bitte ich Sie doch in naher Zukunft um Ihren Besuch, natürlich inkognito in Köln oder in Rhöndorf-Honnef, meiner neuen Heimat. Ich würde mich nicht nur herzlich freuen, Sie wiederzusehen, ich glaube auch, dass ein gegenseitiger Gedankenaustausch auch außerordentlich fruchtbar für unsere gemeinsamen Ideale sein könnte. Da ich nicht nach Belgien kommen kann, werden Sie verstehen, dass ich Sie bitte, mich zu besuchen.

 

Mit ausgezeichneter Hochachtung und freundlichen Grüßen

 

Ihr ergebener

Adenauer

 

Quelle: Konrad Adenauer: Briefe über Deutschland 1945-1955. Eingeleitet und ausgewählt von Hans Peter Mensing aus der Rhöndorfer Ausgabe der Briefe. München 1999, S. 51f.