18. November 1960

Ansprache auf einer Tagung von Bundestagsfraktion und Bundesausschuß der CDU in Bonn

Bilanz und Ausblick im Vorfeld der vierten Bundestagswahl 

[...] Wir rüsten uns zum 4. Bundestagswahlkampf. Von der Bundestagswahl 1961 trennt uns eine verhältnismäßig kurze Zeit - zehn Monate, die schnell dahingehen werden. In den bisherigen Wahlkämpfen waren die verbündeten Parteien Christlich-Demokratische Union und Christlich-Soziale Union die Sieger. Die von ihnen mit Abgeordneten beschickte Bundestagsfraktion hat seit mehr als elf Jahren die Richtung der Politik der Bundesrepublik Deutschland in immer steigendem Maße bestimmt. Unsere Politik auf innenpolitischem Gebiet und auf dem Gebiet der Außenpolitik war gradlinig und klar vom ersten Tage an.

Es gibt kein demokratisches Land auf der Erde, das in dieser Epoche eine solche Stabilität der Regierung gezeigt hat wie die Bundesrepublik. Vergleichen Sie damit die Zeit von 1918 bis 1933 im Deutschen Reich: in 15 Jahren 19 Kabinette! Und vergleichen Sie auch die Erfolge! Am Ende der Weimarer Periode stand ein wirtschaftlicher Zusammenbruch mit einer ungeheuren Arbeitslosenziffer. Die nationalsozialistische Diktatur fegte die Demokratie hinweg. Die Diktatur führte zu einem wahnsinnigen Krieg, der schließlich fast alle Völker der Welt als unsere Gegner sah und Deutschland politisch, geistig und wirtschaftlich in einen Trümmerhaufen verwandelte. Der Bundesrepublik Deutschland stand, als sie im Jahre 1949 ins Leben trat, die ungeheure Aufgabe bevor, dieses Chaos, dessen Ordnung durch die Kommunen und Länder nur zum kleinsten Teil wieder begonnen hatte, völlig aus der Welt zu schaffen und eine neue politische und wirtschaftliche Ordnung aufzubauen. Es stand ihr als schwerste Aufgabe bevor, das infolge des Nationalsozialismus und des Krieges in der Welt verfemte und verhaßte deutsche Volk wieder als angesehenes und geachtetes Mitglied in den Kreis der Nationen zurückzuführen.

Diese sehr schwere Aufgabe ist zum größten Teil gelöst. Ihre Lösung war nur dadurch möglich, daß es gelang, Vertrauen zur deutschen Politik bei den früheren Feinden Deutschlands zu wecken, und dieses Vertrauen konnte nur gewonnen werden durch eine klare, deutliche, stetige Politik.

Aber unser Weg war nicht leicht! Der Kampf der Opposition gegen uns im Bundestag war hart. Ich halte eine Opposition in einem Parlament für eine absolute Notwendigkeit. Deswegen bin ich auch durchaus dagegen, daß sich etwa die beiden größten Parteien in einem Parlament zusammentun, denn dadurch würde das Parlament nicht mehr zur Bühne der öffentlichen Auseinandersetzungen. Ich bin der Auffassung, daß man auch als Mehrheit die Ausführungen der Opposition beachten und wägen sollte. Ich bin weiter der Auffassung, daß man der Opposition ein gutes Teil von Gegensätzlichkeit zugesteht, aber ich bin nicht der Auffassung, daß eine Opposition sich unterfangen darf, das Parlament zu beherrschen.

Ich habe eben von den Rechten der Opposition gesprochen. Ich wiederhole, man muß ihr viele Rechte zugestehen, aber man muß doch in der Lage, in der sich unser Land zur Zeit befindet, auch von der Opposition verlangen, daß sie nicht systematisch gegen bestimmte Gesetze stimmt, oder man kann daraus den Schluß ziehen, daß sie eben diesen Weg nicht mitzugehen gewillt ist. Dann muß aber auch die Opposition sich selbst treu bleiben und darf nicht plötzlich um 180 Grad kehrtmachen wollen.

Ich denke natürlich jetzt auch an die Rede von Herrn Wehner im Bundestag, und ich muß Ihnen sagen, ich hatte mir die biblische Erzählung von der Wandlung des Saulus in den Paulus anders vorgestellt. Ich hatte sie mir nicht so überlegt vorgestellt, sondern (ich meine die Wandlung von Saulus zum Paulus, nicht die von Wehner) ich hatte sie mir vorgestellt wie eine innere Erleuchtung und einen inneren Durchbruch.

Die Sozialdemokratische Partei hat fast gegen alle europäischen Gesetze, sicher gegen alle entscheidenden Gesetze gestimmt. Sie hat nicht nur gegen die EVG gestimmt, sondern sie hat auch mit Vehemenz gegen den Eintritt in die NATO gestimmt. Das Verhalten der SPD bei allen in Frage kommenden Gesetzen beruht auf ihrer antiwestlichen Konzeption.

Der Weg zum Westen schien der SPD eine harte Sache zu sein, mit der sie sich nicht abfinden wollte. Nun hat es in der SPD immer - es gibt sie auch heute noch - eine Reihe von beachtenswerten Stimmen gegeben, die der Auffassung waren, daß eine Neutralisierung Deutschlands in irgendeiner Form zur Wiedervereinigung führen könne und führen werde. Durch den Anschluß an den Westen sei aber dieser Neutralisierungsgedanke unmöglich, und infolgedessen werde die Wiedervereinigung nicht kommen. Gerade in der Außenpolitik, aber auch in der gesamten Politik, ist realistisches Denken wirklich die Hauptsache von allem. Wenn Sie nur einen Blick auf die Karte werfen und auf der einen Seite den ungeheuer großen kommunistischen Koloß sehen und dann dieses kleine Land, wenn man sich weiter vor Augen hält, daß der Kommunismus in anderen Ländern eine große Rolle spielt, dann muß es doch jedem klar werden, daß Deutschland als neutralisiertes Land sich in dem vom Kommunismus bedrohten Europa unmöglich halten kann.

Diese Politik aber spielt noch eine Rolle bei der Sozialdemokratie, und zwar trotz aller Bekehrungsgeschichten, die wir erlebt haben, und trotz des Godesberger Programms. Wo zeigt sie sich jetzt? Jetzt zeigt sie sich in der nuklearen Bewaffnung der Truppen der Bundesrepublik. Die deutschen Truppen in der NATO unterstehen - das möchte ich hier betonen - nicht deutschem Oberbefehl, sie unterstehen dem NATO-Oberbefehl; sie sind eingegliedert in den Schutzschild, den die NATO-Armee gegenüber dem Kommunismus in Westeuropa aufgerichtet hat und halten muß.

Uns gegenüber als präsumptiver Kriegsgegner stehen Sowjetrußland mit seinen Satellitenstaaten; alle nuklear hoch aufgerüstet. Ein wesentlicher Bestandteil des Schutzschildes sind die Truppen der anderen NATO-Länder, die ebenfalls nukleare Waffen von Amerika haben oder bekommen. Und nun will die Sozialdemokratie durch ihre führenden Leute den deutschen Truppen nukleare Waffen verweigern. Was bedeutet das? Ich habe neulich in der Fraktion darüber gesprochen. Gestatten Sie mir, hier noch einmal folgendes auszuführen: Wenn die ganzen NATO-Truppen mit nuklearen Waffen versehen sind, aber nicht die deutschen Truppen, dann sind die deutschen Truppen nichts anderes als Futter für den Gegner.

Ich sage Ihnen, ich würde es niemals mit meinem Gewissen vereinbaren können, deutsche Soldaten ungenügend bewaffnet gegenüber einem hochbewaffneten Feind aufmarschieren zu lassen. Ich sage ausdrücklich, ich würde es niemals mit meinem Gewissen vereinbaren können, weil ich diese Hunderttausende von jungen Leuten einfach dem Tod in den Rachen jagte.

Wer wirklich den deutschen Truppen, die einen wesentlichen Bestandteil des Schutzschildes der NATO bilden, keine gleichwertige Bewaffnung mit dem präsumtiven Gegner geben will, der zerstört die NATO; denn dann ist diese ganze Truppenmacht der NATO überhaupt nicht mehr manövrierfähig.

Wie kann ich nun auf der einen Seite durch den mächtigsten Mann der Partei - ich meine nicht Herrn Brandt, sondern Herrn Wehner - ein solches Bekenntnis zur NATO ablegen lassen und dann hinterher durch Ollenhauer, Erler, Menzel und einer Reihe anderer Herren erklären: Nukleare Waffen bekommen sie nicht. - Das ist eine Politik, die nach meiner Meinung nicht aufrichtig und nicht ehrlich ist. Ich glaube, daß man das dem deutschen Volk in aller Aufrichtigkeit sagen muß; denn es handelt sich dabei um Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes in Freiheit. Sicher wird das von der anderen Seite nicht gern gehört werden, aber das ist ja nun für uns kein Hinderungsgrund, eine Antwort auf unsere Frage zu fordern. Ich würde es zum Beispiel sehr begrüßen, wenn der sozialdemokratische Parteitag in Hannover ein offenes und freimütiges Bekenntnis zur nuklearen Bewaffnung der deutschen Truppen in der NATO ablegen würde.

Lassen Sie mich jetzt einige Gedanken zur heutigen Situation bei uns und in der Welt aussprechen. Unsere wirtschaftliche Lage ist gut. Wir werden darauf achten müssen, daß infolge des Arbeitermangels keine Verminderung der Produktion und damit keine Verminderung des Exports, den wir dringendst nötig haben, eintritt. Die soziale Lage in der Bundesrepublik ist gut. Löhne und Gehälter sind erheblich gestiegen. Die Freizeit ist größer geworden. Der Lastenausgleich funktioniert. Sicher sind durch ihn nicht alle, auch nicht alle berechtigten Wünsche erfüllt. Aber es handelt sich doch um die Überführung gewaltiger Werte aus dem Besitz der Nichtvertriebenen in den Besitz der Vertriebenen und Kriegsgeschädigten. Bis jetzt sind rd. 36,3 Milliarden DM überführt worden. Bis zum Ende des Lastenausgleiches am 31.3.1979 werden nach augenblicklichen Schätzungen noch 51,7 Milliarden DM aufzuwenden sein, das sind zusammen 88 Milliarden DM. Die Rentenversicherung sichert dem weitaus größten Teil der unter sie Fallenden ein auskömmliches oder jedenfalls ein bescheidenes Einkommen.

Von sozialdemokratischer Seite wird behauptet, wir hätten bei der wirtschaftlichen Entwicklung zugelassen, daß große Vermögen entstanden seien, während kleine Leute sich hätten kein Vermögen erwerben können. Man wirft uns weiter vor, daß eine zu große Konzentration zugelassen worden sei.

Was die großen Vermögen angeht, so möchte ich eins an die Spitze stellen: In anderen Ländern gibt es viel größere Vermögen als bei uns. Ich meine jetzt nicht die Vereinigten Staaten, ich meine europäische Länder. Nur haben die anderen Länder nicht so sehr wie der Deutsche eine Freude daran, nun zu zeigen, wie reich sie sind. Sie sind eigentlich viel zurückhaltender mit dieser Plakatierung ihres Reichtums. Ich hoffe, daß diejenigen, die bei uns reich sind oder reich geworden sind, wieder die Tradition aufnehmen, die die vermögenden Leute vor Jahr und Tag auch in Deutschland als ihre Verpflichtung ansahen.

Was nun die starke Vergrößerung der industriellen Werke angeht, so hat man aus den Gewinnen größere Investitionen vorgenommen, aber wo wären wir, wenn diese Investitionen nicht vorgenommen worden wären? Diese Werke konnten nicht die nötigen Summen auf dem Anleihemarkt bekommen. Wenn sie nicht investiert hätten und dadurch nicht zur billigeren Produktion gekommen wären, dann wären wir einfach gegenüber dem internationalen Wettbewerb auf der Strecke geblieben.

Man soll demgegenüber doch auch nicht übersehen, daß die große Mehrheit der Bevölkerung besser wohnt und besser lebt, als je zuvor die Deutschen gelebt haben, daß auch in den wenigen Jahren von 1950 bis Ende 1960 rund 1,3 Millionen Eigenheime erworben sind und daß auf den Sparkassen aller Art insgesamt 50,1 Milliarden DM Einlage sich befinden. Das sind Zeichen dafür, daß auch in den breitesten Schichten der Bevölkerung Vermögen gebildet wird. Wer eine breite Streuung des Eigentums will, soll jede Möglichkeit zur Streuung des Eigentums benutzen, auch die Privatisierung von Bundeseigentum. Wir sind fest dazu entschlossen und werden noch zur Privatisierung weiterer jetzt dem Bunde gehörender Werke schreiten.

Die außenpolitische Lage muß jeden mit großer Sorge erfüllen. Die beiden Blöcke stehen sich nach wie vor gegenüber: Sowjetrußland und seine Satelliten, mit nuklearen Waffen hoch aufgerüstet - die Vereinigten Staaten, nach wie vor die stärkste Macht, ebenfalls nuklear hoch aufgerüstet. Sehr bedauerlich ist, daß bisher alle Bemühungen, zu einer kontrollierten Abrüstung sowohl auf dem Gebiete der nuklearen wie der konventionellen Waffen zu kommen, vergeblich geblieben sind.

Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß diese Abrüstung die wesentlichste Aufgabe unserer Zeit ist und daß, ehe die Abrüstung nicht effektiv begonnen hat, mit einer wirklichen Entspannung in der Welt nicht zu rechnen ist. Ich bin weiter der Auffassung, daß - wenn infolge des effektiven Beginns einer solchen Abrüstung eine Entspannung in der Welt eingetreten ist - die drückenden politischen Probleme auf der Erde sich viel leichter lösen lassen, das gilt insbesondere auch von der Frage Berlin und der Sowjetzone.

Die Wahlen in den Vereinigten Staaten haben eines ganz klar erkennen lassen: In den beiden großen Parteien herrscht die Überzeugung, daß man gegenüber dem andrängenden Kommunismus stark und einig sein muß. Von Isolationismus war keine Rede mehr. Der Wechsel in der Person des Präsidenten und in der Administration steht bevor. Wir wissen nicht, wie die neue Administration aussehen wird. Es wäre verfehlt, sich in Spekulationen zu ergehen. Aber eines möchte ich betonen. Die ersten Jahre der Bundesrepublik verliefen während der Präsidentschaft des Demokraten Truman. Deutschland ist sehr gut dabei gefahren. Dann begann die Präsidentschaft Eisenhowers. Auch unter seiner Präsidentschaft haben wir große Fortschritte gemacht, während seiner Präsidentschaft hat sich die Standfestigkeit der freien Welt erwiesen. Das Andenken seines Staatssekretärs John Foster Dulles wird bei uns in Deutschland immer in besonderen Ehren gehalten werden. Der kommende Präsident Kennedy hat in zahlreichen Aussprüchen ein politisches Bekenntnis abgelegt, das uns mit Vertrauen und Hoffnung in die Zukunft blicken läßt.

In Westeuropa bestehen gewisse Schwierigkeiten, aber diese Schwierigkeiten sind lange nicht so groß, wie sie einmal waren und wie sie manchem zu sein scheinen. Zunächst gab es innerhalb der Sechs gewisse Meinungsverschiedenheiten mit der französischen Regierung, die mir aber sozusagen ausgeglichen zu sein scheinen, jedoch jedenfalls, wenn am 5. Dezember die Regierungschefs der Sechs in Paris zusammenkommen, völlig ausgeglichen werden.

Nach meiner Meinung muß über aller Politik in der freien Welt, und zwar speziell in Europa, ein Satz stehen, nämlich: Nichts tun, was in Chruschtschow und in Sowjetrußland die Hoffnung stärkt, daß der Westen eines Tages auseinanderfallen werde! Das ist ja die Hoffnung, von der er lebt; und wir dürfen diese Hoffnung nicht stärken. Das gilt auch für die EWG und die EFTA. Es muß unbedingt verhütet werden, daß in Europa zwei Wirtschaftsblöcke entstehen, die einander mehr oder weniger kämpferisch gegenübertreten. Das geht nicht, und das darf nicht sein! Ich bin auch der Auffassung, daß bei beiderseitigem guten Willen - und der gute Wille ist auf beiden Seiten vorhanden - sich diese Mißhelligkeiten ganz aus der Welt schaffen lassen werden.

Unser Verhältnis zu Großbritannien ist gut. Ich werde Mitte Dezember den Premierminister Macmillan in London besuchen, entsprechend unserem Abkommen, von Zeit zu Zeit uns über die gesamte politische Lage auszusprechen. […]

Ich bedauere sehr, daß ich mich mit dem französischen Ministerpräsidenten Debré, als er neulich hier war, darüber nicht habe einigen können. Ich glaube aber, auch nach dem Eindruck, den ich aus dem Gespräch mit Herrn Debré habe, daß eine Einigung durchaus möglich ist, und ich hoffe sehr, daß diese Einigung auch erfolgt. Der Gegensatz, der zwischen der französischen Regierung und uns bezüglich des Verhältnisses zur NATO besteht, beeinträchtigt in keiner Weise die Freundschaft zwischen dem deutschen und französischen Volk.

Wir alle miteinander haben uns seit Jahr und Tag die größte Mühe gegeben, daß die Jahrhunderte dauernde Gegnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland endgültig aus der Welt geschafft wird. Und daran halten wir fest! Auch wenn man einmal in einer Sache verschiedener Meinung ist, dann fällt der Himmel der Freundschaft nicht ein, sonst war die Freundschaft sehr dünn. Aber ich habe den Eindruck, die Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland ist auf beiden Seiten so fest und von einem solchen Verständnis und einer solchen Überzeugung getragen, daß sie unbedingt alles überstehen wird.

Frankreich hat schwere Sorgen. Wir müssen das erkennen und sehen. Das Problem in Algerien ist ein furchtbares Problem, das über Frankreich hängt. Wir haben kein Urteil darüber, was richtig ist, aber eins möchte ich doch sagen: Ich kenne den Staatspräsidenten de Gaulle auf Grund verschiedener Aussprachen; ich kenne seine Ansichten, übrigens auch seine Ansicht über die deutsch-französische Freundschaft und Gemeinsamkeit, und wenn ein Mann in Frankreich in der Lage ist, das Algerien-Problem aus der Welt zu schaffen, dann ist es der General de Gaulle.

Außerordentlich viel ist neuerdings gesprochen worden über unser Verhältnis zu Sowjetrußland. Selten sind so viele völlig unbegründete Gerüchte verbreitet worden wie zur Frage unseres Verhältnisses zur Sowjetunion. Das einzige, das sich seit einigen Wochen geändert hat, ist, daß der Ton in Moskau gegen uns nicht mehr so beleidigend ist, wie er all die Jahre war.

Es ist doch ganz klar, daß wir Wert darauf legen müssen, auch bei den größten Gegensätzen, die wir haben - und die Gegensätze sind groß -, in dem in der Welt sonst üblichen ruhigen Ton miteinander zu sprechen. Das ist die Tatsache.

Aber lassen Sie mich das, was uns bedrückt gegenüber Sowjetrußland, hier auch einmal aussprechen. Uns bedrückt, daß uns die Zone genommen ist und daß 17 Millionen Deutsche in der Sklaverei verharren müssen, daß sie nicht das Selbstbestimmungsrecht haben, das jedem Land in Innerafrika allgemein zugebilligt wird. Uns bedrückt, daß das Schicksal Berlins immer an einem Faden hängt. Das Ganze ist eine offene Wunde. Das möchte ich an die russische Adresse in aller Ruhe sagen. Es wird von russischer Seite gesagt, daß wir den Krieg verloren hätten und daß wir doch einsehen müßten, dafür bezahlen zu müssen. Nun gut, wir wollen auch zahlen, aber wir wollen nicht zahlen mit der Freiheit von 17 Millionen Deutschen!

Ein Wort möchte ich doch zur Politik Sowjetrußlands sagen. Ich glaube, daß Sowjetrußland eine Periode der inneren wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung braucht. Ich weiß, daß in Rußland der Glaube besteht, der Kommunismus werde im Laufe der Entwicklung die ganze Welt, auch die jetzt nicht-kommunistischen Länder, beherrschen, und zwar unter sowjetrussischer Führung. Darauf kann ich nur folgendes sagen: 1. Der Kommunismus wird niemals die Welt beherrschen, schon aus dem einfachen Grunde, weil eine Beherrschung der ganzen Welt durch das gleiche System des Denkens und des Handelns in sich unmöglich ist. Dafür ist denn doch die Verschiedenheit der Menschen und der Länder zu groß. 2. Wenn tatsächlich der Kommunismus die ganze Welt beherrschen würde, dann würde nicht Sowjetrußland die Welt beherrschen, sondern Rotchina, und Rotchina würde gleichzeitig auch Sowjetrußland beherrschen. Eine sowjetrussische Politik, die sich auf die Überzeugung gründet, daß der Kommunismus unter Sowjetrußlands Führung eines Tages die Welt beherrschen würde, ist irreal.

Ich muß noch einmal von den Sozialdemokraten sprechen. Die Sozialdemokratie hat ein neues Programm in Godesberg gemacht mit viel Fleiß und mit viel Kunst. Die SPD hat bisher mehrere Programme im Laufe der Jahrzehnte gehabt, das Eisenacher, das Gothaer, das Erfurter, das Görlitzer, das Heidelberger. Anlaß zu Änderungen waren ernste wirtschaftspolitische oder staatspolitische Entwicklungen. Warum hat die Sozialdemokratie den dringenden Wunsch gehabt, jetzt ein neues Programm zu machen? Der Grund ist sehr klar. Er ist sogar von ihnen ausgesprochen worden: Sie wollen nicht noch einmal die Bundestagswahl verlieren. - Nun, ich verstehe, daß sie das nicht wünschen, aber wie wollen sie die Wahlen gewinnen? Sie sagen, daß ihr Reservoir an geschulten sozialistischen Mitgliedern gefüllt ist und daß da nichts mehr zu holen ist. Deswegen wollen sie sich Wähler aus den Schichten holen, die bisher nicht sozialistisch gewählt haben, also nicht sozialistisch sind.

Man muß denen etwas bieten, aber man darf gleichzeitig nicht die alten, treuen Anhänger der Sozialdemokratie vor den Kopf stoßen. Auf diese Weise ist dann - wie ich eben sagte - mit sehr viel Kunst das neue Programm aufgebaut worden.

In der Frage der Verteidigungspolitik hat das Godesberger Programm der Partei völlig freie Hand gelassen. Herr Ollenhauer sagte auf dem Godesberger Parteitag in diesem Jahre folgendes: „Wir bleiben aber bei unserer Ablehnung der Wehrpflicht aus den jetzt gegebenen politischen und militärtechnischen Gründen." Das war ein klares Wort. Es verträgt sich aber nicht mit dem Bekenntnis zum Eintritt in die NATO; denn ich darf noch einmal darauf hinweisen: Ein Berufsheer in der Größe, wie die NATO von unseren Truppen verlangt, läßt sich überhaupt nicht aufstellen. Also, wer die Wehrpflicht verneint, der verneint damit die NATO. Es ist ein Taschenspielerkunststück zu sagen, wir sind für die NATO, und dann zu erklären, wir verneinen die Wehrpflicht. Das ist genauso wie mit den nuklearen Waffen. Hier sagt man Ja, und da sagt man Nein.

Herr Wehner hat aber folgendes gesagt: „Wir möchten nicht, daß die allgemeine Wehrpflicht zu etwas wird, auf das man uns oder gegen das man uns im Grundsatzprogramm festzulegen hat." Das ist dialektisch gesprochen und verrät eine gute Schulung. Herr Wehner - er ist doch in Wahrheit der maßgebende Mann der Sozialdemokratie - hat ferner einen Ausspruch getan, der wirklich verdient, festgehalten zu werden: „Ich würde mich gegen ein Programm wenden, das es den Sozialdemokraten erschwert oder gar verbietet, das zu tun, was sie als Sozialdemokraten für das Allgemeinwohl und das Wohl des Volkes schlechthin zu tun für notwendig halten, wenn sie die Macht haben." Das heißt mit anderen Worten: Wenn wir an der Macht sind, tun wir, was wir wollen! Das ist nicht Demokratie, das ist auch nicht Sozialdemokratie.

Ich habe während der Weimarer Republik und auch früher fast alle führenden Sozialdemokraten kennengelernt; keiner von ihnen würde jemals seinen Namen unter ein Programm gesetzt haben, wie dieses Godesberger Programm.

Wir haben in den letzten Wochen wieder erfahren müssen, in welchem Ausmaß unser Land vom Osten unterminiert wird, und wir werden dieser ausgedehnten Spionagetätigkeit mit aller Kraft entgegentreten. Ich weiß, daß unser Volk mit allen Schutzmaßnahmen, die wir gegen Spione treffen, einverstanden ist.

Das Verhältnis zu den Bewohnern der Sowjetzone werden wir noch mehr pflegen müssen als bisher. Wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht, um ihnen die sichere Hoffnung zu stärken, daß eines Tages das Selbstbestimmungsrecht auch für sie Anwendung finden wird.

Nachdem wir unser Haus errichtet haben, werden wir in den kommenden Jahren erheblich mehr als bisher für die geistige Fortbildung tun. Wir werden, wie Sie wissen, noch in diesem Monat einen besonderen Kongreß „Erziehung, Bildung, Ausbildung" in Gelsenkirchen abhalten. Ich kann mich daher heute mit dem Hinweis auf die kommende Arbeit auf diesem Gebiet begnügen. Auch über die Schulfrage wird dort gesprochen werden. Heute möchte ich aber schon sagen, daß wir bereit sind, dafür zu sorgen, daß auch vom Bund aus Mittel bereit gestellt werden, damit die noch fehlenden Volksschulen schnellstens errichtet werden, das gleiche gilt auch für die Krankenhäuser.

Wir werden dafür sorgen, daß unsere Landwirtschaft auch unter den veränderten Verhältnissen der kommenden Jahre lebensfähig und gesund bleibt.

Unsere Wirtschaft wissen wir in guter und sicherer Hand.

Noch mehr als bisher wird unsere Sorge dem Mittelstand insgesamt, nicht allein dem gewerblichen Mittelstand, zugewendet sein.

Auf dem Gebiet des Wohnungsbaus werden wir im gleichen Tempo wie bisher weiterarbeiten. Wir wollen noch mehr Wohnungen und Eigenheime für Kinderreiche schaffen, auch Wohnungen für junge Ehepaare. Gerade den jungen Ehepaaren muß bei der Wohnungsbeschaffung mehr geholfen werden als bisher.

Wir hoffen, daß wir den Lastenausgleich verbessern und erweitern können. Unsere großen sozialen Gesetze werden ständiger Überprüfung und eventueller Ausfeilung bedürfen.

Eine große Aufgabe haben wir uns vorgenommen auf steuerlichem Gebiet. Wir wollen nachprüfen, ob die Verteilung der Steuerquellen und der Steuerquoten zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden, so wie sie vor zehn Jahren vorgenommen wurde, noch zeitgemäß ist oder ob auf diesem Gebiet eine Änderung erfolgen muß. Das wird eine Aufgabe von besonderer Bedeutung, insbesondere auch für die Gemeinden, sein, damit die Gemeinden, die den größten Teil der Bundesgesetze durchzuführen haben, ein starkes und kräftiges Gemeindeleben entfalten können.

In der Gemeinde wird die Politik gelernt, die Politik, die zeigt, daß alle Redereien letzten Endes keinen Zweck haben, wenn man nicht die Arbeiten auch wirklich durchführen kann.

Der ständig steigende Verkehr bringt den Gemeinden und ihrer Bevölkerung, den großen und kleinen Gemeinden, ständig steigende Sorgen und Lasten. Wir sind der Auffassung, daß sich der Bund an den Kosten für eine gute, gefahrlose Führung des Durchgangsverkehrs in erheblich stärkerem Maße als bisher beteiligen muß.

Die technische Entwicklung unserer Zeit auf allen Gebieten hat Gefahren für Leben und Gesundheit der Bevölkerung mit sich gebracht, denen stärker als bisher entgegengetreten werden muß. Ich denke hierbei an die Verunreinigung der Luft, an die Verunreinigung des Wassers und den der Gesundheit in besonderer Weise zusetzenden Lärm.

Der Sport ist ein wesentliches Mittel, gerade der Jugend die Kraft zu geben, den ungünstigen Einflüssen unserer Zeit entgegenzuwirken. Der Deutsche Sportbund hat - wie Sie wissen - den Goldenen Plan aufgestellt. Ich habe schon erklärt, daß wir bereit sind, uns an der Durchführung dieses Planes zu beteiligen.

Ich hoffe, daß noch dieser Bundestag die Frage des Kindergeldes für das zweite Kind regelt. Ich bin nicht der Ansicht, daß die Frage des Kindergeldes damit endgültig gelöst sein wird. Wir werden mit demselben Ernst und mit derselben Sorge, mit der man in Frankreich an die Lösung der Kindergeldfrage herangegangen ist, auch an sie herantreten müssen.

Die Bundestagswahl ist der wichtigste, der entscheidendste politische Akt des deutschen Volkes. Gerade auf dem Gebiet der Außenpolitik - das kann man mit großer Wahrscheinlichkeit sagen - werden in den nächsten vier Jahren wichtige Entscheidungen fallen, auch über Berlin und die Zone. Maßgeblich haben bei diesen Entscheidungen die drei Westmächte, USA, England und Frankreich, mitzusprechen. Sie haben unsere absolute Bündnistreue und Zuverlässigkeit in der Erfüllung unserer Bündnispflichten in der NATO kennengelernt, sie können auf uns zählen. Diese jahrelange Verbundenheit ist einer der größten Aktivposten für Deutschland.

Die Wahl im Jahre 1961 muß diesen Aktivposten für das deutsche Volk erhalten, und zwar dadurch, daß sie diejenigen Parteien in der Führung der Bundesrepublik beläßt, die nunmehr seit all den Jahren dort die Regierung führen. 

 

Quelle: Union in Deutschland. Jg. 14. 1960, Nr. 47 vom 24. November 1960. Auszug abgedruckt in: Konrad Adenauer: „Die Demokratie ist für uns eine Weltanschauung.“ Reden und Gespräche 1946-1967. Hg. von Felix Becker. Köln-Weimar-Wien 1998, S. 165-173. Druck: Union in Deutschland. 14. Jg., Nr. 47. Bonn, 24.11.1960.