18. Oktober 1952

Rede auf dem 3. Bundesparteitag der CDU in Berlin

Deutschlands Lage - ich bitte namentlich diejenigen Mitglieder der Opposition, die am Rundfunk jetzt zuhören oder die später davon lesen, was ausgeführt worden ist, um Aufmerksamkeit. Deutschlands geographische Lage ist denkbar ungünstig. Es liegt mitten in Europa mit ungeschützten Grenzen. Es hat keine Möglichkeit, sich gegen irgendeinen Angriff zu verteidigen, da es vollständig entwaffnet ist. Und es hat weder die industriellen Anlagen noch die notwendige wirtschaftliche Kraft, auch selbst wenn es ihm von den Siegermächten gestattet würde, eine nationale Wehrmacht zu errichten, die ihm eine Verteidigung gegen einen Angreifer ermöglichen würde. Im Osten der Bundesrepublik liegt Sowjetrussland mit seinen Satellitenstaaten. Im Westen, auf deutschem Boden und westlich der Bundesrepublik, stehen die Westmächte. Zwischen beiden Mächtegruppen bestehen große Spannungen. In dieser Lage der Welt ist die Existenz Deutschlands zurzeit völlig ungesichert.

Schon als Deutschland eine der ersten Großmächte der Welt war, zu Zeiten Bismarcks, hat dieser sich bemüht, Freunde für Deutschland zu finden, da nach seiner Meinung schon damals Deutschland eben wegen seiner geographischen Lage dauernde Sicherheit nur im Zusammengehen mit anderen Mächten finden konnte. Heute ist die Lage Deutschlands unendlich viel schlechter, als sie damals war, weil es ja doch völlig hilflos mitten in einem Spannungsfeld liegt.

Deutschland ist um seiner Existenz willen absolut darauf angewiesen, aus seiner Isolierung und Wehrlosigkeit herauszukommen. Dass Deutschland nach unserer Lebensauffassung keinen Anschluss an den Osten suchen kann und darf, ist völlig klar. Wir Deutsche gehören aus weltanschaulichen und kulturellen Gründen, und aus unserer ganzen Lebensauffassung heraus zum Westen, und nur durch den Anschluss an den Westen kann unsere Isolierung und Wehrlosigkeit ein Ende finden.

Nun wird von der sozialdemokratischen Opposition behauptet, das Zustandekommen des Vertragswerkes verhindere die Wiedervereinigung Deutschlands. Meine Freunde! Die Opposition hat niemals und nirgendwo auch nur den Versuch gemacht, diese Behauptung zu beweisen. Sie wiederholt mit dieser Behauptung eine Behauptung, die von Seiten der Machthaber der Sowjetzone in Schriften, die sie in Hunderttausenden von Exemplaren bei uns verbreiten, ebenfalls aufgestellt wird. Ich möchte wirklich einmal gern wissen, wie sich die sozialdemokratische Opposition die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit denkt, wenn Deutschland wie bisher hilflos und wehrlos zwischen den Mächtegruppen liegen bleibt. Die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit hängt ab - das ist richtig, und wir denken immer daran - von den vier Mächten, von Sowjetrussland, den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich. Bitte, denken Sie einen Augenblick daran zurück, dass diese vier Mächte sich zuerst in Potsdam darüber einig waren, dass Deutschland seine Freiheit nicht wieder erhalten sollte, dass ihm ein Diktatfrieden auferlegt werden sollte, und dass es unter dauernder Kontrolle gehalten werden sollte. Durch den Deutschland-Vertrag, meine Freunde, haben sich von den vier Mächten drei verpflichtet, mit uns zusammen für die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit einzutreten.

Ich frage: Ist das mehr ein Erfolg, und ist das nicht etwas Bedeutendes, dass es uns gelungen ist, die drei Westmächte so auf unsere Seite, d. h. auf die Seite der Wiedervereinigung Deutschlands, zu bekommen? Die vierte Macht, die Sowjetunion, muss noch gewonnen werden.

Die Bäume wachsen für kein Land in den Himmel, auch nicht für die Sowjetunion. Es ist, ich glaube, das darf man doch ruhig aussprechen, ganz klar, dass die Sowjetunion zurzeit nicht für diese Wiedervereinigung in Freiheit ist. Es ging das für jeden unbefangenen Beurteiler schon unzweideutig aus den sowjetrussischen Noten hervor, weil die ja nur den Zweck hatten, das Zustandekommen des Vertragswerkes und damit die Integration Europas zu verhindern. Die Vorgänge der letzten Wochen, insbesondere die demonstrative Hervorhebung der Sowjetzone gegenüber den anderen Satellitenstaaten, wie sie sich u. a. im Besuch Schwerniks in Berlin zeigt, sind eine eklatante Rechtfertigung der Ansicht, dass Sowjetrussland zurzeit nicht gesonnen ist, eine Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit zuzulassen.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einige Ausführungen machen über die letzte sowjetrussische Note und die Antwortnote der drei Westmächte. Bei diesen Noten hat es sich nicht um eine Frage der Etikette oder um eine Prestigefrage gehandelt, wie manche glauben oder zu glauben vorgeben. Es handelte sich auch in keiner Weise um einen Streit über die formale Frage der Rangierung der Punkte der Tagesordnung. Bei der Tagesordnung eines Parlaments ist es vielfach gleichgültig, in welcher Reihenfolge die einzelnen Gegenstände auf die Tagesordnung kommen. Bei dem Vorschlag Sowjetrusslands in seiner letzten Note war es anders. Hier handelte es sich um einen Vorschlag der Tagesordnung, der in seiner Konsequenz von entscheidender Bedeutung war. Sowjetrussland wollte zuerst, entsprechend dem Potsdamer Abkommen, eine Einigung der vier Mächte auf einen Friedensvertrag mit Deutschland ohne Hinzuziehung Deutschlands. Dann sollte die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung, gebildet von der Bundesrepublik und der Sowjetzonenregierung, ohne vorherige freie Wahlen, kommen. Hierauf sollte der von den vier Mächten bereits beschlossene Friedensvertrag durch eine solchergestalt gebildete Regierung angenommen werden, und dann sollten freie Wahlen, oder was man darunter versteht, kommen. D. h. mit anderen Worten, Sowjetrussland wollte einen Diktatfrieden, und zwar einen Diktatfrieden gestützt auf die Grundsätze des Potsdamer Abkommens. Die drei Westmächte aber wollten einen Verhandlungsfrieden, nicht gestützt auf die Grundsätze des Potsdamer Abkommens, einen Verhandlungsfrieden, über den mit einer aus freien Wahlen hervorgegangenen gesamtdeutschen Regierung frei verhandelt werden sollte, Daher ihr berechtigtes und im Interesse Deutschlands liegendes Verlangen, dass zunächst die Frage der freien Wahlen verhandelt und entschieden werden soll.

Übrigens, in der letzten Antwortnote der drei Westmächte haben sich diese bereiterklärt, noch in diesem Oktober zu einer Viererkonferenz über diesen Punkt zusammenzutreten. Ich verstehe deshalb nicht recht, warum immer wieder von verschiedenen Seiten der Ruf erhoben wird: wir, die Bundesregierung - ich spreche in verschiedenen Eigenschaften, meine Damen und Herren, also jetzt als Bundeskanzler - also wir, die Bundesregierung, sollten die Westalliierten drängen, eine Viererkonferenz abzuhalten. Die Viererkonferenz ist ja doch Sowjetrussland von den Westmächten mit unserer Zustimmung angeboten, und zwar noch für den Oktober. Ein Zusammentreten aber zu einer Viererkonferenz ohne Tagesordnung, ohne vorherige Klärung der in der Tagesordnung verborgen steckenden grundsätzlichen Fragen, ist nach meiner Meinung sinnlos und zwecklos. Sie würde lediglich für Sowjetrussland ein billiges, aber gutes Propagandamittel sein, um Unruhe und Verwirrung in der Welt zu schaffen. Und nun, damit beantworte ich die ganz kleine Heiterkeit, die ausbrach, möchte ich zu der Frage kommen, wann halten Sie den Tag für gekommen, an dem die Sowjetunion zu echten, vernünftigen Verhandlungen bereit sein wird? Meine Freunde, ich war immer der Überzeugung, dass die Sowjetunion dann zu solchen echten und vernünftigen Verhandlungen bereit sein wird, wenn sie einsieht, dass sie im Wege des Kalten Krieges in Europa keine weiteren Erfolge mehr davontragen wird. Und solange sie nicht davon überzeugt ist, wird sie zu solchen Verhandlungen nicht bereit sein.

Ich war und bin auch immer der Auffassung gewesen, dass die Sowjetunion zum heißen Krieg nicht schreiten wird, wegen der damit schon jetzt für sie verbundenen großen Gefahr. Ich glaube, dass die Ausführungen Stalins im „Bolschewik" und die Verhandlungen auf dem sowjetrussischen Parteitag die Richtigkeit dieser Anschauung bestätigen. Es wird jetzt von sowjetrussischer Seite erklärt, die kapitalistischen Staaten würden untereinander zum Kriege kommen, und damit sucht man die zweifellos auch in der Bevölkerung Sowjetrusslands vorhandene Unruhe und die Zweifel zu beschwichtigen. Und von dieser These ausgehend, versucht Sowjetrussland jetzt, auf jede mögliche Weise den vorhandenen Zusammenhalt der Westmächte zu lockern und das Zustandekommen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und deren Verbindung mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten zu verhindern. Wir in der Bundesrepublik - ich sagte das eben schon - werden in einer geradezu unerhörten Weise mit sowjetrussischen Propagandaschriften überschwemmt. Ich als Parteivorsitzender der CDU beneide manchmal die Leute, die das machen, um die ungeheuren Geldmittel, die ihnen offenbar zur Verfügung stehen. Und zwar geht Sowjetrussland in dieser Taktik ganz systematisch vor. Es verlangt die Abberufung des amerikanischen Botschafters aus Moskau. Dagegen schickt man nach London Gromyko, und ich glaube, man hat auf dem ganzen russischen Parteikongress kein tadelndes Wort gegenüber Großbritannien und auch gegenüber Frankreich gefunden. Man behandelt den französischen Botschafter in Moskau mit der ausgesuchtesten Höflichkeit. Das Spiel Moskaus ist völlig klar. Die Vereinigten Staaten sollen von England und Frankreich getrennt, die europäische Integration soll gehindert werden. Churchill hat in seiner treffenden Art dieses Spiel Moskaus gekennzeichnet, als er erklärte: „England wird nicht in diese Falle gehen." Ich weiß, dass die französische Regierung ebenso denkt. Ich betone, ich weiß das. Jetzt ist es an uns und vornehmlich an Deutschland, die europäische Integration weiterzutreiben. Dann wird auch diese neueste sowjetrussische Hoffnung auf einen Zerfall der westlichen Front, der ja weitere Erfolge im Kalten Krieg ermöglichen würde, sich als eine falsche und trügerische Hoffnung erweisen. Und dann, meine Damen und Herren, dann ist der Tag für aussichtsreiche Verhandlungen mit Sowjetrussland in Sicht. Denn, meine Damen und Herren, ich sagte es eben schon, auch in Sowjetrussland wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Sowjetrussland hat drückende innere Sorgen. Ich denke dabei an die Sorgen, die Sowjetrussland wegen des niedrigen Lebensstandards seiner Bevölkerung hat.

Sowjetrussland hat, da weite Gebiete dieses ungeheuren Landes Steppe und Urwald sind, nicht genügend Ackerland, um seine Bewohner zu ernähren. Es muss in großem Umfang neues Ackerland schaffen. Sie haben neulich von dem Wolga-Don-Kanal gelesen. Dieser Wolga-Don-Kanal soll das Rückgrat einer weitverzweigten Bewässerungsanlage werden, die im Laufe der nächsten 10 bis 15 Jahre ein Gebiet von mindestens 3 Millionen Hektar am Unterlauf des Dons und der Wolga in fruchtbares Getreideland umwandeln soll. Es schweben noch größere derartige Projekte in Sowjetrussland. Weil eben dort eine schleichende Hungersnot besteht, gibt es diese Projekte, die sich überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in dem erforderlichen Tempo durchführen lassen, wenn Sowjetrussland wie bisher seine Produktionskapazität für Aufrüstungszwecke verwendet. Es ist bekannt, dass die Wirtschaft der Sowjetunion seit Jahren eine völlige Kriegswirtschaft ist, dass daher die Konsumgüterproduktion immer weiter zurückgeht, und dass infolgedessen der Lebensstandard der breiten Massen in Sowjetrussland ständig sinkt. Auch für einen diktatorisch regierten Staat ist das kein erfreulicher, ja auf die Dauer auch für ihn ein gefährlicher Zustand.

Wenn der Sowjetunion durch die Erkenntnis, dass sie im Wege des kalten Krieges - und zum kalten Krieg gehört auch die Aufrechterhaltung einer großen und starken Wehrmacht, auch wenn man sie nicht einsetzt -, wenn die Sowjetunion einsieht, dass sie nichts mehr erreicht, dann wird ihr auch die Einsicht dafür kommen, dass diese stärkste Bevorzugung der Kriegswirtschaft in der Produktion vor der Produktion der Konsumgüter nicht mehr lohnend ist. Dann wird sie aus eigenem Interesse zu einer Umstellung ihrer Politik bereit sein.

Wir, das ist die westliche Welt, einschließlich der Bundesrepublik, müssen unsere Politik darauf richten, dies Ziel zu erreichen, Sowjetrussland zu dieser Einsicht zu bringen. Dann kommen vernünftige und aussichtsvolle Verhandlungen, und dann wird auch die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und in Freiheit kommen. Ich sehe, trotz aller Mühe, die ich mir damit gebe, keinen anderen Weg als den von mir gekennzeichneten.

Die Herren Ollenhauer und der Regierende Bürgermeister Reuter - ich führe hier diesen Titel an, damit er nicht verwechselt wird mit einem anwesenden anderen Herrn Reuter -haben zwar auf dem SPD-Parteitag in Dortmund meine Außenpolitik sehr scharf kritisiert. Herr Reuter hat erklärt, meine Ansichten seien unrichtig und illusionistisch, aber er hat sich dabei einer, na, vorsichtig ausgedrückt, sehr starken Entstellung meiner These schuldig gemacht. Er hat behauptet, meine These sei, dass die Sowjetunion nach der Aufrüstung des Westens unter dem Eindruck seiner Stärke die Ostzone preisgeben werde. Ich erkläre Ihnen sehr nachdrücklich, dass ich das niemals gesagt, auch überhaupt nicht einmal gedacht habe. Ich wiederhole, was ich Ihnen vorher gesagt habe, und was ich immer gesagt habe: die Sowjetunion wird dann zu vernünftigen Verhandlungen bereit sein, wenn sie einsieht, dass weder im heißen noch im kalten Krieg Erfolge für sie weiter zu erreichen sind. Es sind aber dann keine Erfolge mehr für die Sowjetunion zu erreichen, wenn der Westen stark und geschlossen ist. Meine Freunde, ein totalitärer Staat - wir wissen es doch aus unserer Geschichte - hält es nicht für der Mühe wert, mit irgendeinem kümmerlichen Land überhaupt zu sprechen, aber er spricht auch vernünftig mit einem starken Land, und deswegen muss der Westen stark sein. Nicht, um mit seiner Stärke der Sowjetunion zu imponieren, das soll er nicht, er hat keinen Zwang auszuüben, sondern um die Sowjetunion an den Verhandlungstisch zu bekommen. Die Herren Ollenhauer und Reuter haben zwar auf diesem Parteitag meine Außenpolitik ungewöhnlich scharf kritisiert. Aber, meine Herren, ich glaube nicht - aber vor allem möchte ich dabei eins sagen: sie haben gesagt, oder Herr Ollenhauer hat das gesagt, „wenn wir an die Macht kommen" - das wollen wir übrigens verhüten, meine Damen und Herren - Herr Ollenhauer hat auf diesem Parteitag gesagt, „wenn wir an die Macht kommen, werden wir eine andere Methode anwenden und einen anderen Weg einschlagen". Nun, ich habe natürlich dasselbe gefragt, was Sie auch fragen: „welchen?", und dann habe ich sehr sorgfältig weitergelesen, ungewöhnlich sorgfältig, weil ich dachte, jetzt würde doch einmal der Schleier des Geheimnisses gelüftet werden. Und ich war bereit, meine Damen und Herren, das muss man immer sein, auch von politischen Gegnern zu lernen, denn jeder von uns hat das Recht, klüger zu werden. Das gilt auch, meine Damen und Herren, für Parteien, und das gilt auch für die Sozialdemokratische Partei.

Aber, meine Damen und Herren, der Schleier ist nicht gelüftet worden, der über dem Geheimnis schwebt, und nun meine ich, wir sind doch wirklich in Deutschland in einer scheußlichen Situation. Da wäre es doch eigentlich nicht mehr wie recht und billig, wenn nun mir einmal gesagt würde, welchen Weg und welche Methode man da nun anwenden will. Aber, meine Freunde, und jetzt spreche ich sehr ernst, ich glaube nicht, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands mit ihrer absoluten Negation dazu beiträgt, der Sowjetunion eine Einstellung zur politischen Lage zu vermitteln, die diese zu vernünftigen Verhandlungen bereit macht. Die Haltung der Opposition bestärkt im Gegenteil die Sowjetunion in ihrer Meinung, dass der Zusammenschluss des Westens nicht absolut fest und sicher sei, bestärkt sie in ihrer Hoffnung, dass mit der Zeit die westliche Front doch bröckelig werden könnte, und dass daher sich doch noch auf die Dauer die Fortsetzung des Kalten Krieges für die Sowjetunion lohnen werde. Und meine Freunde, ungewollt, ich unterstreiche das „Ungewollt", schiebt deswegen die Opposition mit dieser negativen Kritik den Zeitpunkt der Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit hinaus, Wir bemühen uns mit aller Kraft, diesen Zeitpunkt so schnell wie möglich schneller heranzubringen, den Weg dahin schnellstens zurückzugehen [zurückzulegen?], und dann wirft man uns vor, wirft man insbesondere mir vor, dass ich der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands nicht die Aufmerksamkeit schenke, die ihr geschenkt werden müsste.

Meine Damen und Herren, umgekehrt ist die Sache richtig. Wenn man das Interesse der Partei über das Interesse des ganzen deutschen Volkes stellt, wenn man aus Propagandabedürfnis, aus Agitationsbedürfnis nicht mitarbeitet und nicht mithilft, dann, meine Damen und Herren, dann schiebt man den Tag der Wiedervereinigung ins Ungemessene hinaus. Aber, meine Freunde, es hat mal eine Zeit gegeben, in der diese Haltung einer so großen Partei wie der Sozialdemokratischen Partei zu dieser entscheidenden außenpolitischen Frage im Ausland eine gewisse Besorgnis hervorgerufen hat. Und es würde, meine Freunde, völlig unrichtig sein, anzunehmen, dass diese Stellen der Opposition etwa mir bei den Verhandlungen mit den Westalliierten geholfen haben. Genau das Gegenteil ist der Fall, meine Freunde. Es sind manche Bestimmungen in diesen Vertrag hineingekommen aus Besorgnis wegen der Haltung der Sozialdemokratischen Partei. Ich möchte auch noch Stellung nehmen zu den Erklärungen, die auf dem Parteitag in Dortmund zu der Europäischen Integration gemacht worden sind. Ich halte mich dazu auch verpflichtet wegen der Wirkung solcher Ausführungen im Ausland. Es ist erklärt worden, dass die SPD Kleineuropa ablehne. Man hätte die Zusammenarbeit aller demokratischen Regierungen Europas, einschließlich Englands, Schwedens, Dänemarks und Norwegens herbeiführen müssen. Auch hier habe ich den bescheidenen, aber verständlichen Wunsch, dass die Opposition einmal sagen würde, wie man denn diese genannten Länder zu einer europäischen Föderation schon jetzt hätte bringen können. Großbritannien hat, meine Freunde, und das haben mir Minister der Labour-Regierung gesagt und Minister der konservativen Regierung: Großbritannien hat erklärt, dass es im Hinblick auf sein Commonwealth an einer europäischen Integration, obgleich es ihr sehr wohlwollend gegenüberstehe, nicht teilnehmen können. Und ich sage Ihnen, ich habe diesen Standpunkt Großbritanniens verstanden, wenn ich auch denke, dass im Laufe der Zeit noch manches sich ändern wird. Aber nun möchte ich doch einmal hören, wie die sozialdemokratische Opposition es fertigzubringen gedenkt, die Labour-Partei und die Konservative Partei von diesem Standpunkt abzubringen. Und was die nordischen Länder angeht, ist es doch wohl klar, warum diese zurzeit nicht glauben, in der Lage sein zu können, an der europäischen Integration teilzunehmen. Ich glaube, darüber brauche ich gar kein Wort zu verlieren, Aber alles in allem genommen, meine Freunde, ich für meine Person finde es richtiger, zunächst einmal mit sechs europäischen Staaten anzufangen, als überhaupt nichts zu tun, theoretische Reden zu halten und dabei Europa einfach verkommen zu lassen.

Hier und da, meine Freunde, hat man doch die Katze aus dem Sack gelassen. Ich glaube, wenn nicht zufällig in Italien Herr de Gasperi an der Spitze wäre, und wenn nicht zufällig Herr Schuman in Frankreich den Quai d'Orsay leitete, und wenn nicht zufällig in der Bundesrepublik dieser dreimal verfluchte Bundeskanzler wäre, dann würde die Sozialdemokratische Partei nicht mehr über Kleineuropa sprechen, sondern sie würde triumphal sagen, seht, wir sind doch die internationalen Leute. Was sie jetzt in keiner Weise sind, meine Damen und Herren. Und diese sechs Staaten, die umfassen 160 Millionen Menschen, und sie haben eine außerordentlich große wirtschaftliche Kapazität, und es ist doch wohl schon der Mühe wert, diese 160 Millionen Europäer zusammenzufassen, auch wenn man von „Kleineuropa" auf einem sozialdemokratischen Parteitag spricht. Die zweite und dritte Lesung des Vertragswerks im Bundestag stehen vor der Tür. Seit der Lesung im Juli, seit der ersten Lesung - ich habe mir erlaubt, eben schon darauf hinzuweisen, und möchte es jetzt aus ganz bestimmten Gründen nochmals tun - seit Juli ist klar geworden, dass Sowjetrussland eine Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit zurzeit nicht will. Es ist ferner, durch die Ausführungen Stalins und die Reden auf dem sowjetrussischen Parteikongress, klar geworden, dass neuerdings Sowjetrussland seine ganze Hoffnung auf eine Spaltung und auf ein Auseinanderfallen des Westens setzt. Ich, meine Freunde, würde es außerordentlich begrüßen, wenn diese beiden neuen Momente seit der ersten Lesung der Sozialdemokratischen Partei und der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion Anlass gäben, ihre bisherige Haltung gegenüber dem Vertragswerk einer Nachprüfung zu unterziehen. Es wird im Bundestag eine Entscheidung von denkbar größter Bedeutung für das deutsche Volk und für Europa fallen. Ich würde es aufs tiefste bedauern, wenn eine Partei wie die Sozialdemokratie, die infolge ihrer Größe, auch wenn sie in der Opposition ist, Mitverantwortung für das Schicksal des deutschen Volkes trägt, bei der bisherigen verneinenden Haltung bleiben würde, obwohl ihr die Entwicklung der russischen Politik seit der ersten Lesung allen Anlass geben muss, ihre bisherige Haltung einer Nachprüfung zu unterziehen. Bei der Beurteilung des Vertragswerkes achtet man, soweit der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft - und das ist bei weitem der wichtigste - infrage kommt, zu ausschließlich auf seine Bedeutung für die Abwehr der augenblicklich von Osten her drohenden Gefahr. Man übersieht zu leicht, dass dieser Vertrag nicht nur dazu bestimmt ist, in der gegenwärtigen gefahrvollen Lage einen Angriff Sowjetrusslands zu verhindern, dass er vielmehr auch den weiteren, noch größeren Zweck hat, auf die Dauer einen Krieg in Europa unmöglich zu machen. Insbesondere einen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft wird, wenn sie geschlossen ist, große Konsequenzen haben für die Wirtschaft und die Politik eines jeden der daran beteiligten Länder. Schon in wenigen Jahren wird sie eine solche Übereinstimmung im Denken und in der Politik der beteiligten Länder hervorrufen, dass kriegerische Auseinandersetzungen zwischen ihnen dann überhaupt nicht mehr denkbar sind. Und sehen Sie, meine Damen und Herren, wenn nur dieses Ziel erreicht würde, d. h. die Verhinderung von Kriegen zwischen Deutschland und Frankreich, so wäre das schon allein für sich betrachtet ein Erfolg, für den sich jeder Deutsche, der wahrhaft den Frieden und den Wohlstand seines Volkes will, mit ganzer Kraft einsetzen muss. Demgegenüber, ich muss das aussprechen, ist das Gerede von Kleineuropa ein leeres und hohles Gerede und nichts weiter. Wir sind mit unserer Politik auf dem einzig möglichen Wege und auf dem erfolgversprechenden Wege: Die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit herbeizuführen, Europa, seine Kultur und seine christlichen Grundlagen für die europäischen Völker und für die Welt, die dieses Europa braucht, zu erhalten. Wir werden diesen Weg klar und folgerichtig weitergehen. Wir werden Berlin von seiner Umklammerung befreien. Wir werden ihm und allen Deutschen hinter dem Eisernen Vorhang Freiheit und Frieden bringen, auf dass in ganz Deutschland dann wieder herrsche Einigkeit und Recht und Freiheit.

 

Quelle: StBKAH I/02.10, maschinenschriftlich (hektographiert), nach einer stenographischen Nachschrift.