Der Besuch, von dem ich hier erzähle, fand am 18. und 19. April 1966 statt. Jemand, der mir wohl will, hat ihn großmütig als einen Besuch bezeichnet, den der Geist bei der Politik machte. Nun, „der Geist“ empfand sich als solcher nicht, er war eher unsicher und aufgeregt bei der Sache. Trotz der Kritik, die ich gelegentlich vernehmen ließ, hatte ich Adenauer aus der Ferne längst bewundert, wie man bewundert, was man selber so gar nicht ist, so gar nicht kann. Auch fühlte ich mich mit meinen siebenundfünfzig Jahren jung ihm gegenüber, er hätte - sapienti sat - mein Vater sein können; noch gehörte ich zu jener versinkenden Generation von Deutschen, die Respekt für das Alter haben. Ob nun aber jene Gespräche von gleich zu gleich stattfanden oder anders, sie bleiben ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte.
Telegraphisch avisiert, kam ich um halb vier in Lugano an; das versprochene Auto war aber nicht da, und nach längerem Warten mußte ich mich zu einem Taxi entschließen. Fahrt nach Cadenabbia eine knappe Stunde, verlängert durch einen Unfall, dessen Folgen die Straße versperrten. Am Tor der Villa stand ein Herr, der wohl mehr ein Leibwächter als ein Sekretär war, wartend. Die Villa La Collina liegt hoch über der Einfahrt. Adenauer saß wartend in einer kleinen Loggia neben der Haustür. Im ersten Moment wirkte er, wie man ihn vom Fernsehen her kennt; die Begrüßung war höflich-freundlich, aber formell. Er war in Dunkelblau, sehr unländlich gekleidet, abends wie auch am nächsten Morgen. Mein Telegramm war wegen Post-Streiks nicht angekommen, wie sich herausstellte; es kam am nächsten Tag. Dem Taxi-Chauffeur sagte ich, er möchte etwa anderthalb Stunden warten; Adenauers Assistentin meinte aber, es wäre besser, ihn wegzuschicken, so wäre man freier, welchem Adenauer beipflichtete. Wir blieben dann fast drei Stunden allein in einem Raum im Parterre, der als Eßzimmer und in einem anderen Teil als Wohnzimmer diente. Es gab Tee. Er dankte mir zuerst für das Interesse, mit welchem ich mich in sein Buch vertieft habe, meine Besprechung in der "Zeit" lag auf dem Tisch, er hatte sie offenbar kurz vorher noch einmal gelesen. Um gleich in medias res zu gehen, sagte er dann, wäre es das beste, wenn ich Fragen an ihn richtete. Auf Fragen im Interview-Stil war ich nun gar nicht vorbereitet und mußte wohl oder übel improvisieren: Vielleicht dürfte ich mit dem Allgemeinen anfangen und von da zu Speziellerem kommen. Was seien wohl die Talente, Gaben, Fähigkeiten, die ein Staatsmann vor allem haben müsse, wie erkläre er sich die große Autorität über die Nation, die er sich erworben und so lange bewahrt habe? - Er: Das sei nun allerdings gleich die schwierigste Frage. - Er ging nicht eigentlich auf sie ein, sondern fing an, von seinen politischen Aufgaben und Zielsetzungen seit 1949 zu sprechen. Von da ab war Assoziieren, gelegentlich durch Fragen von mir ermuntert. Wo ich seine Beurteilung von Vergangenem und Gegenwärtigem nicht teilte, sagte ich es meistens gar nicht oder deutete es vorsichtig an; darauf ließ er sich aber eigentlich nie ein. Für Fragen war er zugänglich. Da er meistens selber sprach, so konnte ich ihn genau beobachten. Die Farbe des Gesichts wächsern, der Mund eingefallen. Die Augen über und hinter schwer hängenden Säcken; eher klein, blaß und in die Ferne blickend. Eine ganz leichte Ähnlichkeit mit der letzten Photographie Metternichs; das Porzellanen-Zarte des höchsten Alters, der ferne Blick. Das Lachen oder Lächeln sehr liebenswürdig, verschmitzt, das Gesicht in wohlige Falten zerknitternd, besonders wenn, später beim Abendessen, seine angenehme und intelligente Assistentin, Fräulein P., dazu anregte.
Um etwa halb sieben sah ich auf die Uhr und bemerkte, ich müsse nun bald wieder weg, mein Zug nach Lugano gehe um acht, auch möchte ich ihn nicht zu lange aufhalten und ermüden. Er: Ich sollte doch noch bleiben, ich könnte auch zum Abendessen bleiben. Die Assistentin kam herein, und allmählich entstand die Verabredung, ich sollte zum Abendessen bleiben, dann in Cadenabbia übernachten, dann, warum nicht, in der Villa übernachten, es sei ja ein Gastzimmer zur Verfügung. Die Angebote kamen allmählich, nicht alle auf einmal. Kurz nach sieben führte er mich auf mein Zimmer, wobei er sich als überaus höflicher, rücksichtsvoller Wirt erwies, mir einen Rasierapparat anbot, mir das Badezimmer zeigte und so weiter. Etwas später trafen wir uns wieder im Garten oder kleinen Park, in dem er mich herumführte. Die Villa, ziemlich hoch über dem See, gegenüber der Halbinsel, die hier den See in zwei Arme teilt, und gegenüber einem pittoresken Städtchen auf der Halbinsel, könnte schöner nicht liegen. Der Park ist steil, mit Bäumen und blühenden Büschen dicht bewachsen. Daß er diese sehr liebte, wurde deutlich. Wieder und wieder zeigte er auf ein paar hohe Zypressen: „Welche Kraft in diesen Bäumen, wenn man bedenkt, wie der Saft von tief in der Erde in diese Höhen schießt.“ Besonders eine Gruppe von vier Zypressen liebte er, aber auch Ölbäume und anderes, und genoß den Duft der blühenden Büsche. Als die Rede auf die Gärtnerei kam: „Gärtner, das ist ein schöner Beruf. Die Bäume und Blumen danken es einem doch wenigstens, was man für sie tut.“ Worin wohl lag, daß gewisse andere Lebewesen weniger dankbar seien. - Die Villa gehöre einem französischen Grafen, der in Paris Margarine produziere oder vertrete, seine Mutter habe sie gebaut. Vorher, aber in einem alten abgerissenen Haus, das am selben Platz stand, habe Stendhal lange dort gewohnt. Was mir gewisse Landschaftsbeschreibungen in der „Chartreuse“ erklärte. In Como habe Galilei gewohnt, auch Volta. An der Geschichte von „Und sie bewegt sich doch“ sei übrigens kein wahres Wort. Er lese da eben ein amüsantes Buch „Lügen der Weltgeschichte“. Zum Beispiel sei auch keineswegs wahr, daß Tiberius ein solches Ungeheuer gewesen sei; was ich ihm bestätigen konnte. Auf den teilweise schwierigen und steilen Wegen des Parkes schritt er eilig, rüstig, in tadellos aufrechter Haltung.
Wir gingen zum Abendessen im selben Zimmer, wo für Fünf gedeckt war. Drei Damen waren bei Tisch, die Assistentin und zwei Untersekretärinnen, welch letztere nicht ein einziges Wort redeten. Fräulein P. nahm die Gelegenheit meiner Präsenz wahr, um ihren Sorgen betreffend den zweiten Band der „Erinnerungen“ Luft zu machen und mir allerlei zu sagen, was natürlich für ihn bestimmt war: Man müsse doch auch auf die Leser Rücksicht nehmen, nicht zuviel langweilige Dokumente bringen etc. Ich versuchte den goldenen Mittelweg zu gehen, wie gewöhnlich: „Ein Werk wie dieses muß werden, was es werden will, und muß dem Charakter des Autors entsprechen. Aber freilich, hin und wieder ein Portrait, eine Anekdote, ein wenig Spott und dergleichen könnte wohl nicht schaden. Jedoch Memoiren im Stil des Reichskanzlers Bülow kann der Herr Bundeskanzler nun einmal nicht schreiben und soll es auch nicht. Bülows Memoiren sind das Extrem; auf dem anderen gibt es Erinnerungen wie die des Prinzen Max von Baden, sehr asketische, überaus sachliche, ernste, die dafür aber von einer ganzen Epoche ein umfassendes Bild geben.“ Er: „Hört, hört!“ Er schien sich über die freimütige Kritik der Assistentin zu amüsieren und lachte, das stille, runzelige Lachen, das ich schon beschrieben habe.
Nach dem Essen war man wieder im Garten, dann wieder im Wohnzimmer an einem anderen Tisch. Es wurden mir die Inhaltsverzeichnisse des zweiten Bandes gezeigt, ein knappes und ein sehr ausführliches, welche ich zu begutachten hatte; ich fand aber nichts an ihnen auszusetzen. Er zeigte mir auch eine Stelle, die er sich zu streichen entschlossen hatte, weil sie zu prahlerisch sei. Etwa im Jahre 53 hatte Dulles ihm erzählt, Eisenhower halte ihn für den größten Staatsmann Europas, frage stets, was denkt der Bundeskanzler dazu etc. „Das muß raus. Ich kann doch nicht strunzen.“ Nach einigem Hin und Her gab ich im recht. Im dunklen Garten kam die Rede auf Gedichte. Er hatte sich eine Gedicht-Anthologie mitgebracht, die „Der Wundergarten“ oder so ähnlich hieß, also wohl eine ziemlich altmodische sein mußte: auch Heines „Buch der Lieder“ und anderes. Ich bemerkte, wie sehr wichtig mir in der Schule das Auswendiglernen von Gedichten scheine, eine Sache, die leider heute völlig vernachlässigt werde. Er: „Sie lernen überhaupt nichts mehr auswendig, weil sie nicht können, weil sie dazu die Konzentration nicht mehr haben.“ Er liebte Geibel und fing an, den „Tod des Tiberius“ zu rezitieren. Auf meine Bemerkung, meine Lieblingsballade sei die „Lenore“, gab er auch daraus ein paar Fragmente zum besten. Er: „Wir scheinen beide altmodische Leute zu sein.“
Die Nacht verlief leidlich; das Bett war unbequem, das Zimmer karg und stilecht eingerichtet, mit Kamin und Blick auf den See. Am Morgen ging ich alleine im Garten spazieren, sah durch das Fenster die beiden Untersekretärinnen alleine frühstücken, dann Fräulein P., mit der ich mich etwas unterhielt. Sie teilte mir wieder ihre Sorgen mit: Der Herr Bundeskanzler wolle sein Manuskript überhaupt niemandem zeigen, was doch ganz gegen die Gewohnheit ernster oder gar gelehrter Schriftstellerei sei, er sehe sich nichts wieder an, er wolle es nur fort und aus dem Weg haben. „Wahrhaft erschütternd ist ja auch, daß er offenbar fürchtet, nicht mehr fertig zu werden. Sie wissen, er ist gerade neunzig geworden.“ Früher, mit den Regierungserklärungen, sei es aber ähnlich gegangen. „Abends fing er an, sie mir zu diktieren, dann diktierte er am frühen Morgen weiter, und oft mußten ihm die getippten Blätter der Reihe nach überreicht werden, während er schon im Bundestag sprach.“
Gegen neun, wie verabredet, erschien er zum Frühstück, etwas feierlicher und steifer als am Abend zuvor, da war er gegen Ende gemütlich aufgetaut. Beim Abschied erzählte ich, ich würde an einem der nächsten Tage nach der Tschechoslowakei reisen. Es regnete etwas, und er ließ mir einen Schirm reichen, um die wenigen Schritte zu dem Auto zu machen. Er dankte mir für meinen Besuch; von jetzt ab sei ich ihm jederzeit willkommen. Als ich schon im Auto saß, kam er mir noch einmal nach, gleichfalls einen Schirm tragend, um sich noch einmal zu verabschieden. Der Wagen war der, in dem er in den Zeiten seiner Macht von Rhöndorf nach Bonn zu fahren pflegte, der Chauffeur war auch derselbe, ein Chauffeur von ältestem Schrot und Korn, und seinem Chef offenbar leidenschaftlich ergeben. Auch redete der zu ihm mit einer Herzenshöflichkeit, die noch aus vor-emanzipatorischen Zeiten stammte.
Ich kann nicht leugnen, daß ich während der langen Gespräche eine wachsende Sympathie für ihn empfand. Aus vielerlei Gründen; das hohe Alter, die Einsamkeit, die verhaltene Trauer; aber auch die Erfahrung, die schlichte Weisheit, das Fehlen jeder Prätention bei natürlichster Würde; der Ernst und der Humor; der Charme, der von ihm ausgeht. Von ein paar amüsanten Bemerkungen über Persönlichkeiten abgesehen, hatte er wenig eigentlich Originelles gesagt, manches schlecht Unterrichtete, manches Vereinfachende; und doch hatte ich ihm mit dem allergrößten Interesse zugehört, weil der Reiz der Persönlichkeit immer da war.
Im Herbst erschien der zweite Band der „Erinnerungen“, den ich wie den ersten in der „Zeit“ besprach. Darauf kam Anfang Dezember ein Brief Adenauers, drei Seiten in unverändert fester, klarer „gotischer“ Handschrift. Er habe meine Ausführungen mehrfach gelesen, sie riefen in ihm eine Fülle von Gedanken wach, teils zustimmende, teils kritische. Er könne sie aber hier nicht zu Papier bringen, zum Teil seien sie noch nicht ausgereift. „Aber es drängt mich, Ihnen von Herzen zu danken; zu danken für das, was Sie anerkennen, auch für das, was Sie in mir anregen. Aber ich weiß, daß Ihre Ausführungen nicht ohne Einfluß bleiben werden auf den dritten Band meiner Erinnerungen, den ich jetzt schreibe. Vielleicht darf ich Sie, wenn dieser 3. Band in mir Form annimmt, um einen Austausch unserer Ansichten über diesen oder jenen Punkt bitten ...“ Nie hat ein Brief mich so ergriffen wie dieser. Der Einundneunzigjährige wollte noch warten, bis seine Gedanken ausgereift wären. Er wünschte Gedankenaustausch mit einem, der alles doch nur von ungefähr in den Zeitungen verfolgt hatte und nicht mehr, nicht weniger darüber wußte, als jeder halbwegs interessierte Zeitgenosse wissen konnte. Die Dankbarkeit, die ganz echt sein mußte, denn was hatte er von mir zu erwarten: Dankbarkeit für die freundlichen, wie man finden wird, keineswegs nur freundlichen Worte eines Kritikers. Die tiefe Bescheidenheit eines Mannes, der ehedem Erfolge errungen hatte wie kein deutscher Politiker in Jahrhunderten! Was ich antwortete, weiß ich nicht mehr, außer daß ich ihm jederzeit zur Verfügung stünde. Darüber wurde im Januar 1967 korrespondiert und noch wieder im März, diesmal mit Fräulein P.: Mein Besuch könnte jetzt gleich in Rhöndorf stattfinden, oder aber im Mai, in Cadenabbia. Der Comer See im Mai, dachte ich, sei schöner als Rhöndorf oder das Bonner Amtszimmer im März; und so ist es zu einer zweiten Begegnung nicht gekommen.
Quelle: Golo Mann, Zwölf Versuche. 1. Aufl. Frankfurt/Main 1973. - Abgedruckt in: Konrad Adenauer in Cadenabbia. Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung hg. von Günter Buchstab. 2. Aufl. Bad Honnef-Rhöndorf 2001, S. 32-36.