19. April 1950

Pressekonferenz des Bundeskanzlers Adenauer in Berlin (Auszug)

[...] Vertreter der Londoner "Daily Mail": Herr Bundeskanzler, nach dem Absingen der dritten Strophe des Deutschlandliedes ist es in der Öffentlichkeit zu den verschiedensten Reaktionen gekommen. Wäre es Ihnen möglich, Herr Bundeskanzler, zu dieser Frage kurz noch einmal Stellung zu nehmen?

Bundeskanzler: Meine Damen und Herren! Wenn das gewünscht wird, will ich das sehr gerne tun, und [ich] muß Ihnen sagen, daß ich über diese Aktion und Reaktion sehr verblüfft und erstaunt bin. Mir scheint wirklich Berlin eine Insel zu sein. Drüben in Westdeutschland wird die dritte Strophe des Deutschlandliedes sehr oft gesungen, und sehen Sie, meine Damen und Herren, dieses Deutschlandlied ist von Hoffmann von Fallersleben. Die dritte Strophe, um die es sich allein handelt, durfte unter den Nazis nicht gesungen werden, weil dort von Recht und Freiheit die Rede war.

(Zwischenrufe: Richtig!)

Und wenn wir jetzt von Recht und Freiheit wieder reden und im Liede davon singen dürfen, dann betrachte ich das als einen großen Fortschritt im Sinne einer wahren Demokratie, und ich bitte auch daran zu denken, daß kein anderer als der Sozialdemokrat, der Reichspräsident Ebert, derjenige gewesen ist, der dieses Lied zu Ehren erhoben hat. Also, meine Damen und Herren, ich finde, daß gerade diese dritte Strophe des Deutschlandliedes sehr eindrucksvoll ist und daß man schließlich uns Deutschen nun auch ein gemeinsames Lied wohl gönnen darf. Ich habe mir sagen lassen, daß, als hier zweimal große sportliche Veranstaltungen gewesen sind, alle Nationalhymnen der verschiedenen Länder gespielt worden sind und für die Deutschen, ich kenne den Schlager nicht - er wurde mir genannt -, ich glaube: "In München steht ein Hofbräuhaus".

(Zwischenruf: Das war die Nationalhymne beim Sechstagerennen.)

Meine Damen und Herren! Es ist für mich nett, wenn sich die Presse einmal untereinander zankt, dann habe ich Ruhe. Aber ich will Ihnen jetzt etwas erzählen aus Köln, was da gewesen ist, damit Sie die ganze Situation auch daran erkennen. Ich glaube, es war im vorigen Jahr, da war im Kölner Stadion eine sportliche Veranstaltung gegenüber Belgien. Es war auch manches belgische Militär in Uniform da vertreten, und schließlich wurden die Nationalhymnen angestimmt, und die Musikkapelle, die offenbar einen sehr tüchtigen und geistig gegenwärtigen Kapellmeister gehabt hat, hat ohne besonderen Auftrag, als die deutsche Nationalhymne angestimmt werden sollte, das schöne Karnevalslied "Ich bin ein Einwohner von Trizonesien"* angestimmt. Was ich Ihnen jetzt sage, ist vertraulich für Sie, das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Da sind zahlreiche belgische Soldaten aufgestanden und haben salutiert, weil sie glaubten, das wäre die Nationalhymne.

(Große Heiterkeit.)

Das sind ja, wenn auch etwas belustigende, im Grunde aber ungewöhnliche Situationen. Ich habe mir heute sagen lassen, daß die Veranstaltung gestern morgen, die ja geradezu musterhaft vom Magistrat von Berlin und vom Oberbürgermeister vorbereitet war, und insbesondere auch was den Flaggenschmuck des Saales angeht, denn es waren die Länder hinter dem Eisernen Vorhang dort durch ihre Fahnen vertreten - also, ich habe mir sagen lassen, daß im Ostsektor Berlins die gestrige Veranstaltung vom Rundfunk angehört worden ist und daß die Leute dann, als die dritte Strophe des Deutschlandliedes angestimmt worden ist, sich erhoben haben. Ich glaube, meine Damen und Herren, drüben die Leute fühlen sich gestärkt durch etwas Derartiges. Nun ist mir, wenn das Telegramm, das ich gestern abend bekam, richtig ist, von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion der Vorwurf gemacht worden, daß ich eine Nationalhymne eingeführt hätte. Nein, meine Damen und Herren, da denke ich nicht daran, und es hat mir das völlig ferngelegen, aber ich fand es für richtig, daß, nachdem wir Deutsche nun einmal hier in Berlin uns wieder zusammengefunden hatten, wir zum Schlusse einer Rede auch dem gemeinsamen Gefühl der Liebe und der Verehrung für unser deutsches Vaterland in dieser äußerlich angemessenen Form Ausdruck verliehen haben, und ich darf gerade für die Herren Vertreter der ausländischen Presse nochmals den Text zitieren: "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland - Danach laßt uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand - Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand - Blüh' im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland."

Meine Damen und Herren, ich meine, man sollte doch alle parteipolitischen Geschichten beiseite lassen, und man sollte sich, wenn man nicht gerade zur SED gehört, zusammenfinden in einem solchen Wunsch, wie er in diesem Liede ausgedrückt wird.

Marquardt: Herr Bundeskanzler, wenn ein solcher Besuch, wie der gestrige und vorgestrige Tag gezeigt hat, vorher in Einzelheiten festgelegt ist, dann werden viele Dinge programmgemäß festgelegt. Ich habe mich gefragt, war das Lied in dieser Form vorgesehen?

Bundeskanzler: Ich hatte, als ich hier ankam, oder schon in Bonn, das weiß ich nicht genau, darüber gesprochen, ob wir das nicht zum Schlusse singen sollten. Dann wurde mir einmal erwidert, darüber fänden noch Verhandlungen zwischen den Fraktionen statt. Ich nahm aber dann, wirklich meiner inneren Überzeugung nach, an, daß alle damit einverstanden wären. Wenn ich gewußt hätte, daß da ein erheblicher Widerstand, aber wirklicher Widerstand - ich habe, meine Damen und Herren, heute morgen, als ich durch Berlin fuhr, aus der Begrüßung der Bevölkerung nicht empfunden, daß sie dachte, ich wäre einen Tag zu lange hiergeblieben - meine Damen und Herren, wenn ich gewußt hätte, daß dieses Lied Anstoß hätte erregen können -, ich bin sehr erstaunt darüber, das sage ich ganz offen. Meine Damen und Herren, ich verstehe nicht, wie man das Singen eines solchen Liedes bei einem solchen Anlaß zum Gegenstand polemischer Auseinandersetzungen machen kann. Aber wenn ich es gewußt hätte, hätte ich es unterlassen, aber so habe ich es nicht gewußt. Ich habe angenommen, es wäre alles in Ordnung.

Löwenthal: Herr Bundeskanzler, trifft es nicht zu, daß das Lied auch in Westdeutschland umstritten gewesen ist und daß man aus diesem Grunde bei der Abschlußsitzung des Parlamentarischen Rates [darauf] verzichtet hat?

Bundeskanzler: Ja, Herr Löwenthal, das ist richtig, aber die Abschlußsitzung des Parlamentarischen Rates liegt jetzt ungefähr ein Jahr zurück, und ich glaube, seit der Zeit sind wir auch in unserem deutschen Selbstbewußtsein und in der deutschen Einigkeit hoffentlich einen Schritt weitergekommen. [...]

Brammer: Darf ich, Herr Bundeskanzler, einige Fragen kurz vortragen, die der Kollege von der "New York Herald Tribune" vorgebracht hat: Welches ist die wesentlichste Frage, von der Sie, Herr Bundeskanzler, gestern sagten, sie müsse geklärt werden, bevor Deutschland der Europa-Union beitreten kann? Haben Sie einen bestimmten Termin ins Auge gefaßt, an dem die Revision des Besatzungsstatutes erfolgen soll? Glauben Sie, Herr Bundeskanzler, daß in nächster Zeit die Möglichkeit besteht, daß die Truppen aller vier Besatzungsmächte aus Deutschland zurückgezogen werden und dadurch Ost- und Westdeutschland sich wiedervereinigen können? Welche besonderen Maßnahmen werden von der Bundesregierung getroffen, um den Vorschlag freier Wahlen in ganz Deutschland voranzutreiben? Ist Ihnen bekannt, Herr Kanzler, ob von seiten der Westmächte geplant ist ...

(Zwischenruf: Das ist ja ein Interview und keine Frage!)

... Ich bitte, wir sind gleich zu Ende -, zunächst in allen vier Sektoren, später in allen vier Zonen Deutschlands freie Wahlen vorzunehmen?

Bundeskanzler: Also, ich werde kurz der Reihe nach antworten. Erstens: Welches ist die wesentlichste Frage ... Sehen Sie, daran habe ich gedacht, daß das kommen würde, und deshalb habe ich gesagt, ich werde nicht auf jede Frage antworten können. Sie werden das aber verstehen, meine Damen und Herren. So lange man auf eine Frage keine Antwort hat, ist es nicht richtig, meiner Meinung nach, wenn man mit dieser Frage an die Öffentlichkeit geht. Die zweite Frage: Haben Sie einen Termin ins Auge gefaßt, an dem die Revision des Besatzungsstatutes erfolgen sollte? Ja, das kommt ja nun darauf an, ob die anderen einen Termin ins Auge gefaßt haben. Aber ich habe gestern abend oder vormittag gesagt: Als das Besatzungsstatut erlassen worden ist, hat man gesagt, frühestens nach einem Jahr oder eineinhalb Jahren oder im Herbst dieses Jahres sollte es einer Revision unterzogen werden. Ich glaube, meine Damen und Herren, die Ereignisse entwickeln sich in Europa und in der Welt sehr viel schneller, als man das bei dem Erlaß des Besatzungsstatutes hatte annehmen können, und deswegen sollte man, weil man nun einmal einen Termin genannt hat, nicht sklavisch an diesem Termin festhalten, sondern man sollte den Termin wählen je nach der Entwicklung der Dinge. Daß das Besatzungsstatut schon heute oder morgen oder übermorgen völlig aufgehoben werden sollte, weiß ich nicht, das müssen wir abwarten. Meine Damen und Herren, wir von der Bundesrepublik Deutschland wissen ja im allgemeinen weniger als dieser Herr hier von der "New York Herald Tribune", der wahrscheinlich über die Dinge besser unterrichtet ist, als ich es bin. Und daher möchte ich einige Fragen gern von ihm beantwortet haben,

(Heiterkeit.)

zum Beispiel die Frage über den Rückzug aller Besatzungstruppen. - Welche besonderen Maßnahmen werden von der Bundesregierung getroffen, um den Vorschlag freier Wahlen in ganz Deutschland voranzutreiben? Ja, meine Damen und Herren, wir können nur immer wieder darauf [hoffen und] drängen, daß diese freien Wahlen kommen, und wir können nur vorstellig werden bei den Alliierten. Wir selbst können ja nichts weiter machen. Aber ein Wort möchte ich noch hinzufügen: Wenn die freien Wahlen kommen - hoffentlich kommen sie -, dann muß auch dafür gesorgt werden, daß nicht nur die Wahlen frei sind, sondern daß auch den Wählern nach der Wahl nichts passiert.

Ist Ihnen bekannt, heißt es dann hier, ob von seiten der Westmächte geplant ist, den Russen feste Vorschläge zu machen für freie Wahlen, zunächst in allen vier Sektoren Berlins und später in allen vier Zonen Deutschlands? Ich glaube, der Herr Frager weiß auf dem Gebiete mehr als ich, und daher glaube ich, wollen wir mal die nächsten Tage abwarten, ob die eine Antwort bringen.

Glauben Sie, das ist die letzte Frage, daß in Anbetracht der Berichte aus Ostdeutschland über die Aufstellung einer Militärmacht dort die Zeit jetzt gekommen ist, um die Ratsamkeit der Aufstellung von westdeutschen Streitkräften zu erwägen, die ein Gleichgewicht gegen die ostdeutschen militärischen Verbände bilden könnten. Das ist eine außerordentlich kitzlige Frage, meine Damen und Herren. Lassen Sie mich darauf folgendes sagen: Wir sind völlig entwaffnet. Unsere Polizei in der britischen und amerikanischen Zone ist derartig örtlich aufgeteilt, daß auch sie kein Instrument der Ordnung im gesamten Lande bildet. Die Bundesregierung selbst, meine Damen und Herren, hat keinen einzigen Polizeibeamten zur Verfügung, und wie die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland sind - Ihre Polizei übrigens macht einen guten Eindruck hier -, das können Sie aus folgendem sehen: Es war vor einiger Zeit eine Sternfahrt der Autofahrer nach Bonn geplant, um zu demonstrieren gegen eine Erhöhung der Benzinpreise. Die Bundesregierung in Bonn hat nun mit dem örtlichen Polizeichef in Bonn Fühlung genommen und mit ihm besprochen, überlegt, wie die nun herankommenden Züge möglichst abgelenkt und um das Parlamentsgebäude herumgelenkt werden könnten. Darauf hat der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen - wie heißt denn der ...

(Zwischenruf: Menzel.)

... einen Brief an die Bundesregierung gerichtet, in dem er gefragt hat, aufgrund welcher Rechte die Bundesregierung überhaupt dazu käme, mit der Polizei eine solche Frage zu besprechen. Daß das alles in allem, meine Damen und Herren, etwas unhaltbare Zustände sind, ich glaube, darüber braucht man nichts weiteres zu sagen. Aber um auf die Frage selbst zurückzukommen: Die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte, das, meine Damen und Herren, wünschen wir nicht. Wir haben genug vom Kriege. Wir wünschen in erster Linie, daß die Großen sich vertragen und daß wieder wirklicher Friede kommt, damit auch das deutsche Volk sich erholen kann von den Jahrzehnten, die es hinter sich hat.

(Beifall.)

[...]

Krüger: Ich habe eine Frage zu der staatsrechtlichen Lage Berlins. Die Absicht, Berlin als 12. Land in die Bundesrepublik einzugliedern, ist bekanntlich an alliierten Widerständen gescheitert. Wie stehen Sie, Herr Bundeskanzler, oder das Kabinett zu einer möglichen Konstruktion, Berlin als Bundesdistrikt zu erklären? Ich denke an das Beispiel in den USA mit Washington, was gerade für die Berliner Situation als Plattform des ersten Schrittes zu einer Einigung Deutschlands, nämlich vorherige Einigung ganz Berlins, führen könnte.

(Zwischenruf: Die Washingtoner haben kein Wahlrecht!)

Bundeskanzler: Meine Damen und Herren! Ich werde dieser Anregung gern nachgehen. Mit Bezug auf Berlin kann man ja von hergebrachten Begriffen des Staatsrechtes überhaupt nichts mehr sagen. Es hat mich sehr eigenartig und schmerzlich berührt, daß der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der berufen ist, nach dem Grundgesetz für alle Deutschen zu sprechen, sich hier als Gast hat fühlen müssen. Auch wenn ich noch so freundlich und so gastlich aufgenommen worden bin, ein etwas schmerzliches Gefühl ist doch aufgetreten. Man wird, glaube ich, bei der Frage Berlin im Augenblick berücksichtigen müssen, daß alles, was Berlin betrifft, eine Frage der internationalen Politik ist, und daß deswegen, da die Alliierten wünschen - mit Recht wünschen -, daß mit besonderer Vorsicht all diese Fragen behandelt werden. [...]

Herr Ros (Tag): Herr Bundeskanzler, darf ich die Frage stellen, ob die Bundesregierung die Sowjetisierung der Ostzone als eine bewußte Aggression gegen den Frieden ansieht? Darf ich fragen, ob Sie diese Sowjetisierung als eine imperialistisch vollendete Annexion ansehen? Darf ich fragen, ob die Bundesregierung der Meinung ist, daß die Westmächte mit genügender Energie dagegen protestiert haben, und darf ich fragen, ob die Bundesregierung in bezug auf die Ostzone die volle Anwendung der Atlantik-Charta für uns beansprucht?

Bundeskanzler: Meine Damen und Herren, das wären vier Fragen, die ich versuchen will, kurz zu beantworten: Eine vollendete Einverleibung kennen wir nicht, sondern wir werden immer unseren Anspruch auf den deutschen Osten aufrechterhalten. Wir werden dieser Einverleibung nicht zustimmen, niemals. Was da nun gesagt worden ist im Hinblick auf die Alliierten, meine Damen und Herren, das bringt mich in der Beantwortung in eine Verlegenheit. Ich möchte ganz allgemein Ihnen folgendes sagen: Es scheint in allen Auswärtigen Ämtern der Welt so zu sein, daß sie sehr vorsichtig, langsam und behutsam sind, daß sie nicht gern voranschreiten und daß sie weder sich selbst noch einem anderen gern auf die Füße treten, und daher glaube ich, daß die Auswärtigen Ämter manchmal etwas zu vorsichtig sind. Aber wir können ja nicht viel daran ändern, wie überhaupt - das möchte ich doch mal in diesem Kreise sagen - bei den Alliierten unser Einfluß außerordentlich gering ist. Man, meine Damen und Herren, behandelt - im allgemeinen wenigstens - die deutschen Belange unter dem Gesichtspunkt der Eigeninteressen und nicht etwa unter dem Gesichtspunkt der deutschen Interessen oder der Menschenrechte oder der Atlantik-Charta oder sonst einer Charta, und daraus ergibt es sich ohne weiteres, daß wir nur sehr langsam weiterkommen werden, daß wir erst dann mit unseren deutschen Interessen weiterkommen werden, wenn die Alliierten, die Westalliierten, eingesehen haben, daß die Förderung der deutschen Wünsche ihren eigenen Interessen entspricht. Ich bitte Sie wirklich, meine Damen und Herren - Sie selbst werden diese Illusionen ja nicht haben -, aber auch Ihre Leser von den Illusionen freizuhalten, als wenn man uns zuliebe viel täte. Davon kann gar keine Rede sein. [...]

* gemeint ist das Karnevalslied "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien" von Karl Berbuer (1900-1977)

 

Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Pressearchiv F 1/30.