25. April 1967

Ansprache von Bundeskanzler Dr. h. c. Kurt Georg Kiesinger beim feierlichen Staatsakt im Bundeshaus anlässlich der Beisetzung von Dr. Konrad Adenauer

Herr Bundespräsident!
Herr Präsident der Französischen Republik!
Herr Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika!
Eminenzen! Exzellenzen!
Meine Damen und Herren!

Wer ist groß?

"Große Männer schaffen ihre Zeiten nicht, aber sie werden auch nicht von ihnen geschaffen. Es sind originale Geister, die in den Kampf der Ideen selbständig eingreifen, die mächtigsten derselben, auf denen die Zukunft beruht, zusammenfassen, sie fördern und durch sie gefördert werden." So sagte es Leopold von Ranke.

Konrad Adenauer gehört zu diesen Großen. Er hatte im Jahre 1949 ein Leben bedeutenden öffentlichen Wirkens hinter sich. Es schien dem alten Mann nach Erfolgen und Enttäuschungen noch einige Jahre betrachtender Ruhe am Berghang über dem Strom zu gewähren. Da bot sich dem Vierundsiebzigjährigen, in einem Alter also, in dem Bismarck aus dem Amt gezwungen wurde, der für ihn aufgesparte geschichtliche Auftrag. Eine bis dahin verborgene, große politische Begabung fand ihre Zeit.

Doch was für eine Zeit! Als Konrad Adenauer sein Amt übernahm, trat er das schlimmste Erbe an, das jemals ein deutscher Staatsmann zu verwalten hatte. Als er es nach 14 Jahren verließ, war das freie Deutschland wieder ein geachteter Partner freier Völker, und ihm vor allen verdankt es dies. Welch ein Glücksfall!

Daß nicht jede Zeit ihren großen Mann und nicht jede große Begabung ihre Zeit findet - wer hätte dies mehr zu bedenken als wir Deutsche, die wir die Geschichte unseres Jahrhunderts überblicken! Kein großer Mann ist so gerecht, weise und stark, wie seine Freunde ihn zu verehren lieben; keiner ist auch so listenreich und ränkevoll, wie seine Gegner ihn sehen. Viele, Freunde wie Gegner, haben Konrad Adenauer zu oberflächlich gedeutet. Auch er war ein Mensch mit seinem Widerspruch, mehr als viele ahnten, die ihm seine grandiose Einfachheit bezeugten.

Sein hohes Alter schuf ihm Distanz. Er schien es nicht als eine Last zu empfinden, eher als einen Vorzug, der zur potestas, welche das Grundgesetz ihm gab, sofort auctoritas hinzufügte. Distanz zu den Dingen und Menschen und also Augenmaß; die Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, das sei, so meinte es Max Weber, die entscheidende psychologische Qualität des Politikers: bei aller Leidenschaft eine starke Bändigung der Seele, die ihn von den bloßen steril aufgeregten Dilettanten unterscheidet.

Diese Gabe des Augenmaßes war Konrad Adenauer in hohem Maße eigen, aber auch die leidenschaftliche Hingabe an eine große Sache, die damit verbunden sein muß. In der Verbindung dieser beiden Qualitäten, darin vor allem anderen, bleibt er uns ein großes Beispiel und Vorbild.

Unter seiner Regierung gedieh das freie Deutschland wieder zu Ansehen und Wohlstand. Auch diejenigen, die ihm eine Neigung zum patriarchalischen Regiment und seine einsamen Entschlüsse vorwarfen, bezweifelten doch nie seine unerschütterliche demokratische Gesinnung; und wenn die freiheitliche Demokratie wieder tiefe Wurzeln in diesem Lande geschlagen hat, dann hat auch dazu seine Existenz und sein Vorbild entscheidend beigetragen, vielleicht gerade deshalb, weil er war, wie er war, weil er den Deutschen bewies, daß entschlossene politische Führung und Respekt vor der demokratisch-parlamentarischen Ordnung durchaus vereinbar sind.

Man hat ihn oft einen Pragmatiker genannt und hatte recht, wenn man damit meinte, daß er sich nicht von politischen Dogmen und Ideologien leiten ließ. Darum behielt er auch bis in sein hohes Alter eine beträchtliche Fähigkeit der Wandlung, der Anpassung an die veränderten Umstände, aber niemals unter Preisgabe jener von ihm begriffenen und ergriffenen Ideen, auf denen die Zukunft beruht.

Die Zukunft seines Volkes beruhte ihm in einer engen Verbindung Deutschlands mit der freien, westlichen Welt, in dauernder Versöhnung mit Frankreich und in der Einigung Europas.

Ich werde nie mein letztes Gespräch mit ihm vergessen, auf dem der schwer Erkrankte bestanden hatte, als er mir, schon vom Tode gezeichnet, noch einmal sein großes Erbe ans Herz legte. Fast übermächtig, so mußte ich es empfinden, bewegte ihn in dieser letzten Frist die Sorge um die Zukunft, die Einigung Europas. Er, der so geduldig auszuharren verstand, wo menschliches Vermögen einen raschen Erfolg nicht erzwingen konnte, jetzt erschien er als ein Mahnender und Drängender, als wollte er, wie Moses, das gelobte Land noch mit eigenen Augen erblicken.

Er wußte, daß sich vieles in der Welt geändert hatte, und daß die deutsche Politik diesen Änderungen Rechnung tragen mußte. Aber von der Richtigkeit seiner großen Ziele blieb er bis zum letzten Augenblick fest überzeugt.

Er wollte auch ein geordnetes Verhältnis mit Deutschlands östlichen Nachbarn, vor allem mit der Sowjetunion. Das ist ja, er wußte es gut, die Voraussetzung der Überwindung der Spaltung unseres Volkes. Er war gewillt, das Seine dazu beizutragen. Aber er war nicht bereit, gewaltsame Lösungen hinzunehmen und die Pflicht zu verraten, an Stelle unserer Landsleute im anderen Teil Deutschlands zu sprechen und zu handeln, solange ihnen dort verwehrt wird, die eigene Zukunft selbst zu bestimmen.

Konrad Adenauer lebte, handelte und starb als gläubiger Christ. "Pius" - in der alten, strengen, männlichen Bedeutung - würden ihn wohl die Römer genannt haben. Er wollte auch in der Politik, deren Versuchungen er sehr gut kannte, christliches Ethos am Werk wissen.

Nun werden wir ihn nicht mehr sehen, aufrecht, gemessenen Schritts durch die Korridore des Bundeshauses schreitend. Wir werden die vertraute Stimme nicht mehr hören, mit der er zu plaudern und zu kämpfen verstand. Nun blickt er nicht mehr von seinem Garten auf deutsches Land, auf Deutschland, das er in frühen Jahren "unser geliebtes deutsches Vaterland" zu nennen gewohnt war. Als Kanzler hat er es karger angesprochen, ihm aber um so hingebender gedient, diesem Deutschland, dessen Existenz er nicht mehr in nationalstaatlicher Absonderung oder gar Anmaßung, sondern im engen Verbande freier Völker in einem geeinten Europa geborgen sah.

Was wird vom Erbe dieses Mannes bleiben, der vielen nur als ein Bewahrer erschien, und der doch kühner zu denken und zu stiften wagte als die steril Aufgeregten, die ihn altmodisch fanden?

Er hat fast ein Jahrhundert deutscher Geschichte durchlebt: Elend und Glanz des Kaiserreiches, die Weimarer Republik, nach 1933 verfolgt und verfemt, und endlich, nach dem Zweiten Weltkrieg, an sein großes Werk gerufen. Wie sollte er, der so vieles auf seinem Lebensweg zerbrechen sah, den Mut haben vorauszusagen, was dauern wird? Aber der Auftrag der Edlen ist es nicht, die Zukunft ängstlich zu befragen, sondern im Reich der Freiheit und Notwendigkeit, in dem wir uns alle bewegen, zu tun, was Einsicht und Pflicht ihnen gebieten, so wie er es selbst ausgesprochen hat:

"Ich habe den Wunsch, daß später einmal, wenn die Menschen über den Nebel und Staub dieser Zeit hinwegsehen, von mir gesagt werden kann, daß ich meine Pflicht getan habe."

Konrad Adenauer hat das gelobte Land nicht mehr erreicht: weder die Wiedervereinigung der Deutschen, noch die Einigung Europas. Er hat sie uns als ein großes Vermächtnis hinterlassen. Mögen wir seiner würdig sein!

Quelle: Konrad Adenauer - Würdigung und Abschied. + 19. April 1967. Stuttgart 1967, S. 30-33.