In tiefer Trauer stehen wir alle am Sarge von Konrad Adenauer, dessen außergewöhnliches Lebenswerk nach schwerer Krankheit vollendet wurde. In dieser Stunde tritt uns die geschichtliche Bedeutung seines Wirkens erst ganz ins Bewußtsein.
Sein Leben und Werk waren aufgebaut auf Grundsätzen, die tief in seiner Überzeugung und Verantwortungsbereitschaft verankert waren. Einmal als richtig erkannte Ziele verfolgte er mit Beharrlichkeit und nüchternem Sinn für das Mögliche, mit jenem Weitblick und Gespür für eine sich anbahnende Entwicklung, die den wahrhaft großen Staatsmann auszeichnen. Er verfügte über entwaffnenden Humor, Schlagfertigkeit und Gelassenheit, Eigenschaften, die ihm halfen, die schwierigsten Situationen zu meistern.
Für ihn gab es keine Alternative zur freiheitlichen, sozialen und rechtsstaatlichen Lebensordnung, keinen Kompromiß gegenüber jedweder Ideologie der Gewalt, des Unrechts und des Hasses. Dieser Haltung wegen wurde er durch das nationalsozialistische Regime aus dem Amt entfernt, in dem er als Oberbürgermeister für seine geliebte Heimatstadt Köln so vorausschauend und fruchtbar gewirkt hatte. Auch in den schwersten und einsamsten Zeiten, in denen er verfolgt und der Freiheit beraubt wurde, blieb er sich und seinen Grundsätzen treu.
In der gleichen Gesinnung führte Bundeskanzler Dr. Adenauer einen zähen Kampf um die Neuordnung unserer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, um die Wiederaufnahme Deutschlands in die Völkergemeinschaft und die Lösung der deutschen Frage. Er hat seinem Vaterland gedient mit der Hingabe seiner ganzen Person und aus der Kraft seines unerschütterlichen, christlichen Glaubens. Wer das Geheimnis seiner Erfolge und seines weltweiten Ansehens ergründen will, muß hier ansetzen.
Als Konrad Adenauer nach 1945 die Christlich-Demokratische Union im Rheinland mitbegründete und später Präsident des Parlamentarischen Rates wurde, konnte er aus dem reichen Schatz der kommunal- und parteipolitischen Erfahrungen schöpfen, die er in der Zeit der Weimarer Republik erworben hatte. Zwölf Jahre lang war er Mitglied und Präsident des Preußischen Staatsrates und wurde 1926 für das Amt des Reichskanzlers vorgeschlagen. Er war also vorbereitet, als er im September 1949 als 73jähriger vom Ersten Bundestag zum ersten Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde.
Bundeskanzler Dr. Adenauer verkörperte in seiner Person die politische Kontinuität unserer Nation. Mit aller Kraft verfolgte er in der Innen- und Außenpolitik das Ziel, unserem Volk sein Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Die Selbstachtung und das Staatsbewußtsein der Deutschen sollten gefestigt werden in dem Erbe überlieferter, durch die Gewaltherrschaft Hitlers nur zeitweilig unterdrückter deutscher Auffassung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Zu seiner Friedensliebe hat sich Dr. Adenauer in zahlreichen Versammlungen und Gesprächen bekannt. Am entschiedensten aber hat er sie in den internationalen Verhandlungen bekräftigt, in denen er auf Anwendung von Krieg und Gewalt für die Lösung politischer Fragen und auf die nationale Produktion von Atomwaffen freiwillig verzichtet hat. Es waren Zusagen von großer politischer Bedeutung, die das Vertrauen der ganzen Welt hätten gewinnen können.
Um so schwerer hat er daran getragen, daß es ihm als Bundeskanzler nicht vergönnt war, die Einheit unseres Volkes in Frieden und Freiheit wiederherzustellen. Das hat ihn aber nicht dazu verführt, in Resignation zu verfallen und alle die großen Aufgaben zu vernachlässigen, die uns im freien Teil Deutschlands gestellt waren.
Konrad Adenauer hat es mit überzeugender Kraft verstanden, unser Verhältnis zu den Kriegsgegnern Schritt für Schritt zu normalisieren. Es gelang ihm, die ehemaligen westlichen Feinde allmählich als Freunde zu gewinnen. Ein gleicher Erfolg gegenüber den Ländern des Ostblocks blieb ihm jedoch versagt. Mit unserem Eintritt in die verschiedenen Gemeinschaften der freien Welt und besonders der nach Einigung strebenden Völker Europas hat die Bundesrepublik Deutschland ihre Souveränität erlangt und ist zum gleichberechtigten Mitglied im Kreis der Nationen geworden. Um unserer Glaubwürdigkeit willen ebenso wie aus dem Gefühl der Mitverantwortung hat er sich zu einem deutschen Beitrag in einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft bekannt. Mit der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO und der Aufstellung der Bundeswehr begann eine neue Phase der Nachkriegsgeschichte.
Eines der großen Anliegen Konrad Adenauers war die Verständigung und die Aussöhnung mit unserem Nachbarn Frankreich. Der Verwirklichung dieses Zieles hat er mit der ganzen Leidenschaft und Entschiedenheit gedient, deren er fähig war. Diese Annäherung konnte sich nur stufenweise vollziehen. Es hat auf beiden Seiten vieler Anstrengungen bedurft, um die zahlreichen Hindernisse zu überwinden. Für Konrad Adenauer war der Abschluß des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages eine Krönung seiner Bemühungen.
Wir nehmen Abschied von einem Patrioten, der mehr als zwei Generationen lang seinen Mitbürgern und seinem Volk gedient hat.
Wir nehmen Abschied von einem großen deutschen Staatsmann, der unser Volk aus Not und Hoffnungslosigkeit aufgerichtet und ihm zu Selbstvertrauen, Lebensmut und Leistungswillen verholfen hat.
Wir nehmen Abschied von einem bedeutenden Europäer, der zusammen mit den Staatsmännern der freien Welt Grundlagen für größere, supranationale Einheiten und ein allmähliches Zusammenwachsen geschaffen hat.
Unsere Dankbarkeit können wir ihm gegenüber nicht besser bezeugen als mit dem Bekenntnis der Verantwortung gegenüber Volk und Staat, die er so beharrlich und so vorbildlich vorgelebt hat.
Quelle: Konrad Adenauer - Würdigung und Abschied. + 19. April 1967. Stuttgart 1967, S. 11-13.