19. April 1967

Nachruf von Dr. Eugen Gerstenmaier, Präsident des Deutschen Bundestages, auf Konrad Adenauer

Konrad Adenauer ist tot. Wir müssen Abschied nehmen von dem Mann, der einer Epoche der deutschen Geschichte den Namen gab. Er wurde geliebt und er wurde gehaßt. Lange schieden sich an ihm die Geister - so wie es eben das Schicksal derer ist, die zur Führung und Entscheidung berufen sind.

In den letzten Jahren seiner Regierung und seines Lebens ebbten die Stürme ab. Ungebeugt und von der Welt bewundert hat er ihnen standgehalten.

Auch jetzt im Abschied von ihm werden sich herzliche Zuneigungen und kritische politische Vorbehalte widerspiegeln. Aber der große Respekt, der dem Lebenden gezollt wurde, bleibt dem Toten sicher. Denn was man auch über den Staatsmann Adenauer und seine Epoche sagen mag:

Sie war alles in allem eine Epoche des Friedens und des Aufstiegs. Länger als irgendein anderer seit Bismarck hat Konrad Adenauer Deutschland regiert, soweit es frei ist. Über seinen Vorgängern in diesem Jahrhundert liegen die Schatten der Tragik und des Mißlingens. Der vor ihm brachte Deutschland um Glück und Ehre. Mit dieser Hinterlassenschaft begann der 73jährige sein Werk.

Alles, was zuvor sein Leben erfüllte an politischem Wirken und persönlichem Erleiden, erscheint nur wie eine lange Vorbereitung auf seine wahre Berufung und sein eigentliches Werk. Es war seine Berufung, Deutschland in die Gemeinschaft der freien Welt zu führen.

Man kann nicht sagen, daß sich erst unter Konrad Adenauer die Deutschen zur Sache der Freiheit in der Welt entschlossen hätten. Ihr blieben ungezählte Deutsche zugetan, auch wenn es anders aussah und wenn wir Unglück hatten. Konrad Adenauer war der Mann, daraus nüchterne praktische Konsequenzen zu ziehen. Sie brachten uns bis jetzt nicht alles, was wir erhofften. Die Wiederherstellung unserer nationalen Einheit blieb uns bis heute schmerzlich versagt. Anderes wurde uns jedoch reicher zuteil, als wir es hoffen durften. Dazu gehört die Versöhnung mit Frankreich und anderen Völkern. Ihr hat der Bundeskanzler Konrad Adenauer mit ganzem Herzen gedient. Über seine Bahre hinweg blicken wir heute auf den zwar unvollendeten, aber doch Wirklichkeit gewordenen Umriß eines neuen Europas.

Als der nahezu 88jährige Bundeskanzler von seinem Amte Abschied nahm, sagte er vor dem Bundestag, daß er auf das deutsche Volk stolz sei. Wer ihn kennt, weiß, daß ein solches Wort bei ihm selten war. Die glatten Lobsprüche waren seinem nüchternen Denken und seinem Gefühl zuwider. Ich schätze, daß es in diesen Tagen jedoch nicht an ausländischen Stimmen fehlen wird, die sagen, daß wir Deutschen Anlaß haben, auf Konrad Adenauer stolz zu sein. Das ist wahr. Aber ich glaube, daß ein anderer Ton tiefer das trifft, was uns bewegt. Die Trauer darüber, daß er nie mehr gelassen aufrecht unter uns tritt, ist bei vielen groß und tief. Sein karges, aber oft so treffendes Wort ist verstummt. Vielen werden sein Witz und seine Heiterkeit, anderen wird der standhafte Kämpfer fehlen, und mancher wird mit mir den väterlichen weisen Freund, das Vorbild an Mut und Einsatzbereitschaft für das Vaterland betrauern.

Aber irre ich mich, wenn ich sage, daß diese Trauer überglänzt wird von der Dankbarkeit eines Volkes, das viel erstritten und noch mehr erlitten hat? Es ist die Dankbarkeit dafür, daß uns Deutschen nach langer Nacht mit dem Bundeskanzler Konrad Adenauer ein neuer Tag aufgegangen ist. Dieser Tag hat uns eine neue Grundlage unserer wirtschaftlichen Existenz und sozialen Verfassung gegeben. Aber er gab uns noch mehr.

Unvergeßlich ist mir, wie ein kritischer Kenner Deutschlands und der Welt, der ehemalige französische Botschafter François-Poncet, bei seinem Abschied vor Jahren schon seine Bewunderung für den Staatsmann Adenauer in dem Wort zusammenfaßte: "Sie, Herr Bundeskanzler, haben Deutschland die Achtung der Welt wieder erworben." Nun, auch die Epoche Adenauer war ein mühsamer, ein oft bitterer Abschnitt der deutschen Geschichte. Er war auch nicht ohne die Kümmernisse und Schatten des Menschlichen, Allzumenschlichen. Aber er war dennoch ein großer und fruchtbarer, ein bewegender Abschnitt unserer Geschichte.

Darum dürfen wir Deutschen über Teilung und Parteiung hinweg dankbar sein für das, was Gott uns mit dem verewigten großen Staatsmann Konrad Adenauer gegeben hat.

Quelle: Konrad Adenauer - Würdigung und Abschied. + 19. April 1967. Stuttgart 1967, S. 14-16.