25. April 1967

Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Eugen Gerstenmaier, beim feierlichen Staatsakt im Bundeshaus anlässlich der Beisetzung von Dr. Konrad Adenauer

Herr Bundespräsident!
Herr Präsident der Französischen Republik!
Herr Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika!
Liebe Familie Adenauer!
Eminenzen! Exzellenzen!
Meine Damen und Herren!

In Frieden ist er von uns gegangen, in großem Frieden. Als wir von ihm Abschied nahmen, lag er aufgebahrt in seinem Haus. Der blühende, von ihm gehegte und geliebte Garten warf Blütenduft in sein Sterbezimmer. Er war schmal geworden und sehr, sehr alt. Viel älter, als wir ihn je gekannt haben. Aufrecht, seiner Sinne und Gedanken mächtig, eher noch offensiv als defensiv gestimmt, so ist er unter uns gewandelt. Er erinnerte mich immer wieder an einen großen Bericht aus einem Kapitel des Alten Testaments der Bibel, wo es von einem großen Staatsmann und geistig-religiösen Führer der Menschheit heißt: Seine Augen waren nicht trüb, und seine Kraft war nicht verfallen. - So ähnlich ist auch Konrad Adenauer unter uns gewandelt bis zu dem Tag, an dem er sich - kaum bemerkt - auf das Lager legte, von dem er sich nicht mehr erhob.

Sein Arbeitstag war, auch als er aus dem Kanzleramt geschieden war, noch immer so lang, seine rednerische und schriftstellerische Leistung war noch so groß, daß keiner von uns auf den Gedanken kam, er sei ein Greis. Jetzt, im Sarg erst, sah man unverhüllt, wie sehr Konrad Adenauer seine große und kraftvolle Natur bis auf das letzte im Dienste seiner Berufung ausgeschöpft hat. Was seine bewußte Gelassenheit auch dem scharfen Auge meist verbarg, das lag im Angesicht des Toten offen und ungeschützt. Es war die lange getragene verzehrende Last des schwersten Amtes, das Deutschland zu vergeben hat. Schon immer war ein Hauch von Einsamkeit um ihn gewesen. Sie war nicht von der Art, die aus der Verlassenheit stammt, sie war eine Begleiterscheinung seiner Größe und geschichtlichen Berufung. Jetzt aber, auf dem Totenbett, da war er uns ganz entrückt.

Als sich der 88jährige daranmachte, seine Erinnerungen niederzuschreiben, waren die großen Kämpfe seines eigenen Lebens zwar ausgefochten und er war - das unterscheidet ihn von den Kanzlern des Reiches nach Bismarck - dabei im wesentlichen Sieger geblieben. Er brauchte keine Autobiographie zu seiner Rechtfertigung zu schreiben. Aber er lebte die letzten Jahre seines Lebens in dem Bewußtsein, daß es notwendig sei, das Werk zu sichern und der Vollendung näherzubringen. Er wollte seine Historie in den Dienst der Zukunft stellen. Deshalb lag ihm nichts daran, sein Persönliches in den Vordergrund treten zu lassen. In den tieferen Schichten seines Wesens hat er sich ohnehin nur selten erschlossen. Das Wort von der Einfachheit, die an ihm gerühmt oder auch kritisiert wird, das paßt nur auf die Sprache, die er in der Öffentlichkeit führte, aber es stimmt schon nicht mehr, wenn man es auf sein Gefühl und sein Denken anwendet.

Konrad Adenauer war zweifellos ein Mann von großer Nüchternheit. Sie unterstrich die Distanz, die in der Natur seines Amtes lag. Sie verlieh auch der ihm innewohnenden Autorität jene Festigkeit, die nicht nur seine Gegner als Härte empfanden. Oskar Kokoschka, der ihn zuletzt malte, sah ihn zwar anders. Er malte einen gütigen Konrad Adenauer. In Wahrheit besaß er beides: Härte und Güte.

Ein fester Wille war ihm schon von Jugend an eigen. So schön und heiter diese Landschaft auch ist, in der Konrad Adenauer geboren wurde und in der er sein Leben verbrachte, so karg ist doch der Boden, auf dem er wuchs. Lebensernst, Pflichtbewußtsein und Ehrerbietung, das lernte Konrad Adenauer von früher Jugend auf in seinem Elternhaus. Er lernte damit zugleich, Sein und Schein zu unterscheiden. Es spricht nicht nur für die Zucht seines Gefühls, sondern auch für seine Qualitätsmaßstäbe und für sein eigenes Wahrheitsbewußtsein, daß er auch dem holden Schein zeitlebens mit jener skeptisch-kühlen Distanz gegenüberstand, die mancher seiner Kritiker für einen Mangel an Begeisterungsfähigkeit oder an Gefühl hielt. In Wirklichkeit hat es Konrad Adenauer daran nicht gefehlt. Er war, wenn es zuweilen auch gar nicht so aussah, ein sensibler Mann von einem vielleicht nicht breitgelagerten, aber dafür um so tieferen Gefühl. Er hielt es allerdings so im Zaum, daß es ihn beim Erfassen der Wirklichkeit nicht behinderte. Aber es blieb kräftig genug, um sein politisches Wirken, sein Temperament und seinen Willen immer wieder zu bewegen, ohne seinem Realismus im ganzen Abbruch zu tun.

Dieser Realismus war etwas anderes als das meist trostlose Verlorensein an den Vordergrund der Welt oder bloße taktische Meisterschaft. Sein Realismus war das zusammengefaßte Ergebnis seiner Herkunft, seines Werdens, seiner Welterfahrung und seines Glaubens. Seine Abneigung gegen den Überschwang von Gefühlen, gegen die Macht fragwürdiger Träume und die Herrschaft bloßer Doktrinen hat Adenauers Stil bestimmt. Sie war aber weit darüber hinaus von wesentlicher Bedeutung für seine Politik und Lebensführung überhaupt.

Es gab Zeiten in Deutschland, in denen der Umgang mit der Macht den Gebildeten verdächtig machte. Konrad Adenauer hat sich über Vorurteile und Stimmungen dieser Art souverän hinweggesetzt. Das hat dazu beigetragen, daß ihn mancher auch als Denker in Frage stellte. Man hielt sein Denken für einfach, weil seine Sprache einfach, oft karg war. Man hielt ihn für einen Pragmatiker, weil er aus einer langen Erfahrung Nutzen zog und weil er niemals in Gefahr war, sich in Abstraktionen zu verlaufen. Konrad Adenauer war indessen ein unentwegter Denker. Er war im wahrsten Sinn des Wortes nach-denklich. Die Erfahrungen, die er machte, hat er immer wieder überdacht und Erkenntnisse aus ihnen zu gewinnen versucht, die er bei der Bewältigung des Heute und Morgen anzuwenden willens war. Daß er sich dabei nicht nur auf die eigene, selbsterlebte Geschichte beschränkte, das zeigt z. B. sein Verhältnis zu dem klassischen, humanistischen Gymnasium seiner Jugend. Er hat ihm Dankbarkeit bewahrt, weil es ihm, wie er selber einmal sagte, "geistige Sinnbilder für Freiheit und Ordnung" vermittelt habe. Sie hätten in ihm - so sagte er - "die angstvolle Scheu vor dem Chaos" bestärkt und ihn ermutigt, das Notwendige zur rechten Zeit zu tun.

Konrad Adenauer war das Gegenteil eines leichtgläubigen Mannes. Er war eher auf Skepsis als auf rasche Gutgläubigkeit gestimmt. Aber er war über alle Skepsis hinaus doch ein Mann, der fähig war, zu glauben und zu vertrauen. Ich möchte dafür in dieser Stunde nur drei Beispiele nennen, die zeigen, wie sehr in die Tiefe greifendes Vertrauen ein bewegendes Element seiner politischen Leistung wurde. Da ist die Freundschaft, die ihn mit John Foster Dulles bis an das Ende verband, und da ist die Freundschaft und Verehrung, die er dem französischen Staatspräsidenten, der in dieser Stunde unter uns ist, bis in das Sterben hinein bewahrt hat. Das dritte Beispiel hat er uns mit zwei Worten geliefert. Über seine beiden Erinnerungsbände schrieb er: "Meinem Vaterland".

Man muß das Glück gehabt haben, mit Konrad Adenauer lange zu leben, zu arbeiten und auch zu ringen, um einen unmittelbaren Eindruck davon zu gewinnen, daß es sich mit seinem Glauben ähnlich verhielt wie mit seinem Denken. Beide waren in Tat und Wahrheit eben nicht schlicht und einfach, sondern sensibel und subtil. Konrad Adenauer war kein unangefochtener Erbe und Verwalter weder des nationalen noch des christlichen Traditionsgutes. Er hat der politischen Tradition, in der er groß geworden ist, mit seiner Politik den Abschied gegeben. Er hat dem souveränen Nationalstaat mit seinen Rangordnungen und politischen Systemen so entschieden abgesagt, daß die Rückkehr zu ihnen in Deutschland nur noch als Folge einer völligen Verzweiflung an der Verwirklichung der europäischen Gemeinsamkeit und der Schutzgemeinschaft der freien Welt denkbar ist. Er blieb darüber der Patriot, der seinem Land wieder Achtung in der Welt erwarb und unserer Selbstachtung eine kräftige Stütze bot.

Im Blick auf die politischen Motive Konrad Adenauers wurde gelegentlich gesagt, daß er eben auch nur aus der Not eine Tugend gemacht habe, als er das geschlagene und geteilte Deutschland in ein vereintes Europa zu führen unternahm. Nun, es gibt in der Tat verschiedenartige politische Argumente schon in den frühen Reden Adenauers für die Einigung Europas. Sein Grundmotiv legte er jedoch an einem Sonntagmorgen im März 1946 in der Aula der Kölner Universität seinen Kölnern dar, als er offen und persönlich sagte:

"Ich bin Deutscher und ich bleibe Deutscher. Aber ich war auch immer Europäer und habe mich als solcher gefühlt. Deshalb bin ich von jeher für eine Verständigung mit Frankreich eingetreten. Ich habe ihr in den zwanziger Jahren bei den schwersten Krisen gegenüber der Reichsregierung das Wort geredet. Ich bin nie eingetreten für eine Abtrennung deutschen Gebietes, sondern immer nur für eine vernünftige, beiden Interessen gerecht werdende Verständigung."

Dabei ist Konrad Adenauer geblieben. Von jenen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bis zu dem ganz unvergeßlichen Bild in der Kathedrale von Reims Seite an Seite mit dem französischen Staatspräsidenten war es für Konrad Adenauer ein gerader Weg. Er war zwar voller Mühsal, er führte durch grauenhafte Katastrophen, und er ist auch jetzt noch nicht am Ziel. Aber er hat doch das Schönste von dem gebracht, was einer Generation überhaupt zuteil werden kann, nämlich die Erfahrung von der Macht der Versöhnung.

Zuweilen tut sie sich in Symbolen kund, denen eine geheimnisvolle Kraft innewohnt. So war es in Reims. Und etwas davon wird uns auch in dieser Stunde zuteil. Konrad Adenauer war trotz seiner Nüchternheit kein phantasieloser Mann. Immerhin gibt es in diesem Hause manchen, der ihn darin um ein Beträchtliches übertrifft. Dennoch glaube ich kaum, daß sich einer von uns - Konrad Adenauer mit eingeschlossen - jemals vorgestellt hat, daß neben seinem Abgeordnetensitz einmal das Staatsoberhaupt Frankreichs und das Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten von Amerika sitzen würden. Um so dankbarer empfinden wir dadurch in dieser Stunde von neuem, daß auch in der Mühsal des politischen Alltags und im Wandel der Zeit und Welt wahr ist und wahr bleibt, daß der Fluch einmal ein Ende hat, und daß aus Gegnern über viele Gräber hinweg Versöhnte, Verbündete und erprobte Freunde werden und bleiben können. Daran hat Konrad Adenauer geglaubt. Darauf hat er gehofft. Dafür hat er gearbeitet und gekämpft! Ich weiß, daß er ergriffen und bewegt wäre von der Trauer und der Dankbarkeit, die ihn in diesen Tagen umströmen. Aber ich bin auch sicher, daß er mit uns bis in das Herz gerührt, ja überwältigt wäre von dem Bild, das sich uns in dieser Stunde bietet. Es bestätigt mehr, als es Worte zu tun vermögen, daß der Staatsmann Konrad Adenauer nicht verwegenen Träumen, sondern einer realisierbaren, Europa, Deutschland und der Welt heilbringenden Idee gefolgt ist.

Die Motive, die ihn dazu bewogen, entstammen nicht nur seiner politischen Einsicht, sondern auch seinem christlichen Glauben. Der Beobachter, der es nur von außen sieht, ist leicht geneigt anzunehmen, daß es Konrad Adenauer beschieden war, mehr oder weniger selbstverständlich mit dem Traditionsgut des christlichen Glaubens zu leben. Ich habe ziemlich lange gebraucht, um zu erkennen, daß diese Annahme falsch ist. Zwar hat sich der kritische Kopf dieses Mannes nie erlaubt, kurzerhand über die ererbte Form und Ordnung der christlichen Existenz in dieser Welt hinwegzugehen. Aber die Qual der Skepsis hat ihn lange begleitet. Er hätte das Zeug dazu gehabt, ein Zyniker zu werden, wenn ihn nicht jene Furcht vor dem Chaos, mehr aber noch die Ehrerbietung für den Kern der christlich-abendländischen Tradition davor zurückgehalten hätten. Es bedurfte aber wohl seines langen und oft schmerzlichen Erleidens der Welt, um ihn zu der persönlichen Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes zu führen. Diese Erfahrung wurde die orientierende Mitte seines persönlichen Lebens. Sie reichte in Tiefen, die ihn über den Moralismus hinaustrugen, und die ihn auch Herr werden ließen über seinen eigenen Skeptizismus, ja über gelegentliche Anwandlungen von Verzweiflung.

Die orientierende Kraft, die von Konrad Adenauer ausging, war ein Element seiner staatsmännischen Autorität. Sie ist ohne sein subtiles, niemals problemloses, im Entscheidenden aber doch festes Verhältnis zum christlichen Glauben nicht denkbar. Darin liegt auch der Grund dafür, daß er, der kritisch, ja oft mißtrauisch gestimmte nüchterne Kopf, der Pragmatiker, der die Taktik niemals verschmähte und den Doktrinen mit kühler Distanz begegnete, daß er doch ein erklärter Gegner des Relativismus unserer Zeit war. Für Konrad Adenauer war vieles sehr relativ. Aber es gab einiges, was für ihn feststand und unbedingte Geltung hatte.

Dazu gehörte die Rangordnung sittlicher Werte, denen er seine politische Zielstellung unterwarf. Hinter dem Entschluß, Deutschland in die Gemeinschaft der freien Welt zu führen, stand für ihn mehr als eine zweckmäßige Entscheidung, die der Augenblick nahelegte. Dahinter stand sein Glaube, daß der Mensch zur Freiheit berufen sei, weil er von Oben stammt. Hinter seiner vielgelästerten "Politik der Stärke" lebte diese Überzeugung in ungetrübter Gemeinschaft mit seinem nüchternen, aber wiederum in religiöse Tiefen greifenden Willen zum Frieden. Und seine Vaterlandsliebe wurde, je älter er wurde, desto mehr gespeist von jener anderen Liebe, die ein Werk der Gnade ist. Konrad Adenauer war von der Überzeugung durchdrungen, daß das deutsche Volk in seiner gefährdeten geographischen Lage, mit seinem geschichtlichen Schicksal und mit den Gewalten, die in ihm hausen, einer Ordnung bedürfe, die es bejahen könne, und die es nach langem Unglück auf den Weg des Heils bringe. Deshalb hielt er eine an festen Werten orientierte deutsche Politik für unerläßlich. Diese Überzeugung machte ihn zu einem bahnbrechenden Mitbegründer der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands.

In einem unserer letzten Gespräche, die wir führten, fragte er mich eher nachdenklich als skeptisch, was denn von seinem Wirken nun eigentlich bleibe? Ich denke, daß es erlaubt ist, in dieser Stunde darauf zu antworten, daß aus seiner Epoche des Friedens und des Aufstiegs bleiben wird die wache Entschlossenheit der Deutschen zur Freiheit, ein furchtloses Rechtsbewußtsein und das tätige Verlangen nach einer neuen Friedensordnung Europas und der Welt, einer Ordnung, in der auch wir Deutsche menschlich miteinander - menschlich miteinander - und mit den anderen leben dürfen.

Ehe der Bundeskanzler Konrad Adenauer seinen Platz auf der Regierungsbank für immer verließ und sich auf jenen Abgeordnetensitz setzte, erhob sich der Deutsche Bundestag vor ihm und bekundete: Konrad Adenauer hat sich um das Vaterland verdient gemacht.

Weil das wahr ist, nimmt das deutsche Volk in diesen Stunden Abschied von ihm in großer Dankbarkeit.

Quelle: Konrad Adenauer - Würdigung und Abschied. + 19. April 1967. Stuttgart 1967, S. 23-30.