Dr. Adenauer will „nicht nur eine große, sondern wieder die absolute Mehrheit"
„Der Alte bleibt ..." spielte die Altendorfer Blaskapelle gestern um 19.58 Uhr in der mit 8.000 Menschen vollbesetzten Grugahalle, als die Stimme im Lautsprecher gemeldet hatte: „Der Herr Bundeskanzler fährt soeben vor der Halle vor!" Das Karnevalslied wurde jedoch durch heftiges Winken aus der verglasten Regiekabine gestoppt, und noch in die letzten Takte hinein erklang es in wohlbekanntem rheinischen Tonfall, dass „die Situation ernst, wir aber mit Zuversicht in die Zukunft blicken" sollten. Dr. Adenauer hatte sein Publikum zuerst einmal im dicht besetzten Foyer begrüßt.
Die Kanzler-Limousine muss mit enormem Tempo über Autobahn und Bundesstraßen von Bonn nach Essen gerast sein. Um 19.05 Uhr, als er eigentlich schon zu seinen „lieben Parteifreunden" in Essen sprechen wollte, war Adenauer erst an der Autobahnabfahrt Köln-Aachen. Seine Zuhörer nahmen ihm die einstündige Verspätung nicht übel, für die er sich zudem über Funktelefon hatte entschuldigen lassen: „Dringende Staatsgeschäfte."
Ohne Umschweife sprang er gleich in „die Sache" hinein: die Berlin-Krise. Freimütig gab er zu, dass viele Deutsche enttäuscht und der Meinung seien, die Westmächte hätten mehr tun müssen, als papierene Erklärungen abzugeben.
Als an dieser Stelle Beifall erklang, wehrte er ihn aber sofort ab: „Langsam, langsam, warten Sie doch erst einmal ab ..." Und betonte: die Alliierten, vor allem die USA, durften nicht anders handeln, als sie taten.
Alle ohne Rat
Auch „der Herr Regierende Bürgermeister Brandt" - so und nicht anders sprach er von seinem innenpolitischen Konkurrenten Nummer eins - und überhaupt niemand hätte sagen können, was gegen die Abriegelung Berlins durch Ulbricht hätte getan werden können. Er „legte Gewicht auf die Feststellung": Chruschtschow würde einen ungeahnten Erfolg erzielen, wenn er Zweifel und Enttäuschung zwischen den Westmächten und der Bundesrepublik erreichen könnte.
Sorgfältig überlegen
Angesichts der tödlichen Bedrohung durch Kernwaffen müsse jeder Schritt sehr sorgsam überlegt werden. Der Kanzler tadelte die „Leute mit den Transparenten und jene, die sich mit dem Präsidenten Kennedy den Witz mit dem Regenschirm geleistet" hätten. Er erklärte: „Wir wollen mit der Sowjetunion verhandeln. Jeder Verhandlungsbeginn ist durch Noten gekennzeichnet. Die letzten Noten der Westmächte an Moskau waren ungewöhnlich scharf. Jetzt müssen wir abwarten und auf militärischem Gebiet stark sein. Die Sowjetunion verhandelt nicht mit einem schwachen Gegner."
Wirtschaftliche Maßnahmen seien erst dann zu erwägen, wenn keine Verhandlungen zustande kommen oder wenn sie von den Sowjets so geführt werden sollten, dass sie sinnlos seien. So sei es mit US-Außenminister Rusk in Cadenabbia und auf der Pariser Außenministerkonferenz abgesprochen worden. Bei der „turmhohen wirtschaftlichen Überlegenheit" des Westens würde der Ostblock dann empfindlich getroffen und der Aufbau der Sowjetwirtschaft stark gedämpft werden.
Mit Beifall nahm die Versammlung die Mitteilung Adenauers auf, dass er am Samstag um 10 Uhr in Bonn mit seinem „alten Freund", dem amerikanischen Vizepräsidenten Johnson, und mit General Clay, dem Befehlshaber der US-Truppen in Deutschland während der Berlin-Blockade 1948/49, die Gesamtsituation besprechen werde.
Er betonte nochmals: die Bundesregierung sei fest entschlossen, jeden Ansatz zu Ost-West-Verhandlungen herbeizuführen. In diesem Zusammenhang verteidigte er auch seine trotz der Berlin-Krise sofort gezeigte Bereitschaft, mit Sowjetbotschafter Smirnow zu sprechen: „Ich habe natürlich Berlin zur Sprache gebracht, er hat über die allgemeine Weltlage gesprochen."
Selbstbestimmungsrecht
Ulbrichts Aktion, so meinte der Kanzler, habe wenigstens das eine Gute gezeigt: Die Welt sehe nun, dass „nicht wir, sondern die Zonenmachthaber die Militaristen und Aggressoren sind". Und: „Nicht Betonpfeiler und Stacheldraht machen Weltgeschichte - das Selbstbestimmungsrecht hat seinen Siegeszug in der ganzen Welt angetreten. Was den Völkern Afrikas zugestanden wurde, kann dem Volk im Herzen Europas auf die Dauer nicht verwehrt werden."
Dann kam Dr. Adenauer zum „eigentlichen Thema" der Veranstaltung: dem Wahlkampf. Er machte es kurz und verfuhr mit seinen Gegnern - als solche gelten ihm und der CDU nur SPD und FDP - verhältnismäßig glimpflich. Mit der SPD hatte sich bereits Landtagspräsident Wilhelm Jonen auseinandergesetzt. Adenauer brachte also schlicht und unumwunden seinen Wunsch zum Ausdruck: „Ich will im neuen Bundestag nicht nur eine große, sondern wieder die absolute Mehrheit!"
Dank an den Kanzler
Der FDP kreidete er erneut den von ihr erhobenen Vorwurf an, die CDU betreibe konfessionelle Hetze. Mit erhobenem Zeigefinger tadelte er: „Die meisten Klagen sind mir aus Bayern und Nordrhein-Westfalen gekommen." Angebliche Koalitionsabsprachen der FDP „hinter dem Rücken des Herrn Mende" rügte er ohne sonderliche Schärfe, denn: „Die FDP wird nie Zünglein an der Waage werden!"
In einem Schlusswort dankte Bundestagsabgeordneter Dr. Hans Toussaint dem Kanzler, dem er bescheinigte, dass er während der Krisentage dieser Woche keine Nervosität gezeigt habe und ein Staatsmann mit kühlem, klarem Kopf gewesen sei.
Quelle: „Westdeutsche Allgemeine - Essen" vom 19. August 1961.