19. Januar 1952

Zurück zum Nationalismus?

Von Bundeskanzler Dr. Adenauer

 

In dem Maße, in dem die Entscheidungen reifen und das europäische Einigungswerk Gestalt gewinnt, treten auch die nationalistischen Kräfte in allen europäischen Ländern wieder stärker in Erscheinung. Sie versuchen noch einmal, den Prozess der Integration zu verlangsamen oder unmöglich zu machen.

Der Nationalismus war eine äußerst mächtige und dauerhafte politische Kraft. Trotz aller Wechselfälle in der Geschichte der Nationalstaaten, trotz aller Zweifel an dem Gegenwartssinn des Nationalismus, hat sich der Gedanke von der Nation als der einzigen Form, in der das Sein und Leben eines Volkes Gestalt gewinnen kann, immer wieder behauptet.

Wir erleben am Beispiel der noch in jüngster Zeit spürbar gewordenen Widerstände gegen die Bildung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft in den meisten europäischen Ländern, dass weite Kreise das Projekt für undurchführbar halten, weil sie die Armee geradezu als eine Verkörperung der Nation, des Vaterlandes ansehen und deshalb annehmen, dass es einer europäischen Armee an Weihe und innerer Festigkeit fehlen wird.

Es wäre gewiss falsch, diese Vorgänge zu überschätzen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass diejenigen recht behalten, die unerschütterlich an die Verwirklichung der europäischen Einheit geglaubt und entsprechend gehandelt haben.

Es könnte aber verhängnisvoll sein, wenn die sich quer durch alle europäischen Völker entwickelnde Debatte dazu führen würde, dass in der Öffentlichkeit die irrige Vorstellung Fuß fasst, die Vertretung nationaler Interessen müsste zwangsläufig im Gegensatz zur Politik der europäischen Integration stehen. Ein derartiges Missverständnis würde die Entwicklung und Verwirklichung einer von allen beteiligten Ländern verfochtenen europäischen Politik auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet völlig unnötigerweise schwer belasten.

Deshalb scheint es mir unerlässlich zu sein, dass alle, denen eine glückliche Zukunft ihres nationalen Landes und ganz Europas am Herzen liegen, nichts unterlassen, um mit der ganzen Fülle der sich bietenden Argumente den im vornehmsten Sinne des Wortes national und patriotisch gesinnten Menschen deutlich zu machen, dass auch sie die Erfüllung ihrer Wünsche und Hoffnungen für ihr eigenes Vaterland in einem geeinten Europa finden werden.

So wie ein demokratisch geordneter Staat dem Individuum die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und außerdem soziale Sicherheit gewährleistet, so kann die Gemeinschaft der freien Völker in den internationalen und übernationalen Körperschaften, die sie sich zur Verfolgung ihrer Ziele geschaffen hat, den Nationen die Entfaltung und Ausstrahlung ihrer vorzüglichsten Eigenschaften, zugleich aber auch die Sicherheit und Wohlfahrt garantieren, die sie auf sich allein gestellt nicht mehr zu finden vermögen.

Dieses Bewusststein muss in immer stärkerem Maße die europäische Meinung durchdringen. Dann wird die jetzt oft mit Sorge gestellte Frage, ob Europa auf dem Wege ist, zum Nationalismus zurückzukehren, getrost mit Nein beantwortet werden können.

 

Quelle: Deutsche Tagespost, Regensburg vom 19. Januar 1952. Zugleich in: Diplomatischer Kurier Nr. 1, 1951.