19. Juli 1954

Erbe und Aufgabe der Christen in Deutschland

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Die altchristliche Erfahrung des Satzes "Sanguis martyrum, semen Christianorum" (Das Blut der Märtyrer, ein Nährboden neuer Christen) hat sich in unseren Tagen in Deutschland wiederum bestätigt. Aus den Jahren der Verfolgung hat nicht nur das religiöse und innerkirchliche Leben starke Antriebskräfte zur Besinnung und zur Vertiefung gewonnen. Auch das Zusammenleben der Christen der beiden großen Konfessionen gewann dadurch einen starken Antrieb. Die Erkenntnis gemeinsamer Aufgaben griff um sich und trägt bereits reiche Früchte. Zu all dem haben die beiden Konfessionen ihren Beitrag geleistet, zu dem Blutzoll in der Verfolgung wie zum gemeinsamen Gespräch und der inneren Erneuerung in den Jahren danach. Es ist das gemeinsame Ziel dieser Begegnung und dieses Näherkommens, die Grundsätze des Christentums zu verwirklichen und zu Bausteinen des äußeren und inneren Wideraufbaues werden zu lassen.

Ich war als katholischer Christ schon in den Jahren der Verfolgung immer wieder davon beeindruckt, mit welcher Sicherheit im Erkennen und welcher Tapferkeit im Bekennen, mit wie viel aufrechtem Mannesmut und vor allem mit welcher unerschrockenen Bereitschaft zum persönlichen Opfer der Kampf der Evangelischen Kirche mit der Übermacht des nationalsozialistischen Regimes durchgefochten wurde. Es war ein bewegtes, folgenschweres Ringen. Seine Etappen, die Machtergreifung der "Deutschen Christen" mit den Staatseingriffen zur Gleichschaltung von Staat und Kirche, die Ära der Kirchenausschüsse und der Kampf des Staates um die Herrschaft über die Evangelische Kirche, vermehrten in ihrer Brutalität wie in der raffinierten Tarnung in jeder neuen Phase die Gefahr. Ihre Auswirkungen brachten für jeden evangelischen Christen, der sich zu seinem Glauben bekannte, und vor allem für die Geistlichen, Haussuchung, Absetzung, Versetzung, Gerichtsverfahren, Gefängnis, Zuchthaus, KZ bis zum Galgen. Auch im innerkirchlichen Leben, in der Seelsorge, im Unterricht, im Personalwesen, durch die Anwendung des Arierparagraphen, durch Eingriffe in die Kirchenwahlen und die Kirchenverfassung wurde die Evangelische Kirche bedroht. Eine furchtbare Verwirrung wurde damals ausgestreut, der Ungehorsam gegen die geistliche Obrigkeit gepredigt, Eltern, Erzieher, Lehrer in größte Gewissensnot gebracht, die Jugend aufgehetzt. Unter dem Schlagwort der Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens wurde die Entchristlichung des Volkes betrieben.

Vielen von uns sind diese Tage noch gegenwärtig. Sie zeigen dem heutigen Menschen, wie die Mittel und Methoden der Gegner des Christentums sich immer wieder gleichen. Allerdings: den Widerstand und Aufstand der Gegenkräfte, weil aus dem lebendigen Glauben genährt, konnten sie nicht niederzwingen - damals wie heute nicht. Was die Wortführer und jedes einzelne Mitglied der "Jungreformatorischen Bewegung" und des "Pfarrer-Notbundes", aus denen die Bekennende Kirche erwuchs, in jenen Jahren auf sich nahmen und leisteten, muss jeden mit Hochachtung erfüllen, in dem das Gefühl für opferbereiten, menschlichen Idealismus, oder - sagen wir es offen in der Sprache des Christen: für ein konsequentes Leben aus dem Glauben in Wort und Tat noch nicht erstorben ist. Unvergessen bleibt aus jenen Tagen die mannhafte Stimme des Landesbischofs Wurm, des Wortführers der Evangelischen Kirche dem Staat gegenüber, und mancher anderer Kirchenmänner, die heute an der Spitze der Evangelischen Kirche den Anspruch auf die Grundrechte des Menschen: Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit erheben, und auch den Machthabern unserer Tage ihr unerschrockenes "Du sollst nicht" entgegenrufen. Der 20. Juli 1944 erinnert uns daran, wie dieser Aufschrei und das christliche Blutzeugnis damals schon aus den Todeszellen der evangelischen und katholischen Glaubensgenossen hervordrangen.

Die Evangelische Kirche schöpft aus der Zeit der Verfolgung neue Besinnung und neue Kräfte. In den Tagen nach dem Krieg wurden sie vor aller Augen sichtbar. Wir können unserer gemeinsamen christlichen Sache nur wünschen, dass dieser Eifer, dieser Schwung, diese Selbstkritik, dieser Wille zu einem unerbittlichen folgerichtigen Christentum nicht mehr abgeschwächt werde und erlahme. Vor allem muss das erwachende Verantwortungsbewusstsein des Christen für die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens immer wieder gekräftigt werden. Dieser Wunsch gilt für die Christen aller Lager in der Bundesrepublik, die dank der Freiheit und Förderung, welche die Kirchen heute im öffentlichen Leben genießen, in Gefahr sein könnten, die Not und die Verfolgung allzu rasch zu vergessen.

Die Kirchentage in Essen, Berlin, Stuttgart, Hamburg mit ihren Losungen "Rettet den Menschen", "Wir sind doch Brüder", "Wählt das Leben", "Werft euer Vertrauen nicht weg", waren Signale und Richtpunkte für die Gewissen zur christlichen Bewährungsprobe. Sie haben gezeigt, wie die Evangelische Kirche die Hand am Puls der Zeit hatte, wie sie Stätten einer großen Begegnung aus Ost und West, Nord und Süd zu schaffen verstand und in steigendem Maße die Verbundenheit und unauflösliche Gemeinschaft aller Deutschen über die Grenzen der Zonen und den Eisernen Vorhang hinaus sichtbar werden ließ. Ich verstehe sehr wohl, dass gerade diese Sorge eine Existenzfrage für sie ist. Die Arbeitsgruppen der Kirchentage packten, wie die Berichte der Kirchentage zeigen, die Probleme von Kirche, Familie, Politik, Arbeit, Dorf, Siedlung, Großstadt, Vertriebenen, Flüchtlingen - alles ernste Anliegen auch der Politiker - zügig an. Die Besucher erhielten gleichzeitig neue religiöse Impulse, Worte der Ermunterung, des Trostes, der Besinnung und Einkehr. Durch ihr Volksmissionarisches Gepräge stießen diese Veranstaltungen kühn in abseits stehende Kreise hinein und schufen so eine Gemeinde über alle Grenzen. Gerade die Ziele solchen Apostolates: der lebendige Anteil am religiösen Leben, die Schaffung neuer unmittelbarer und lebendiger Beziehungen, die Verwandlung der Besucher des Kirchentages "in eine Gemeinde fragender, anbetender, fürbittender und verantwortungstragender Christen", wie es der Präsident D. Reinhold von Tadden-Trieglaff zum Ausdruck brachte, bedeuteten unschätzbare Beiträge zur Erneuerung unseres Volkes aus christlichem Geist heraus. Das alles sind Zeichen innerer Vertiefung und Kräftigung. Sie können von allen, denen es ernst um das Christentum ist, ohne Unterschied der Konfessionen nur begrüßt werden. Je bewusster die innerkirchlichen Aufgaben angefasst werden, umso fruchtbarer wirkt sich dieses für die Glaubwürdigkeit und die Wirkungskraft der christlichen Sache aus. Je aufrechter, unverwaschener, kompromissloser jeder einzelne Christ sie als Gewissenssache betrachtet, um so näher steht er dem Gleichgesinnten des anderen kirchlichen Lagers.

Auch für den christlichen Staatsmann und Politiker sind diese religiös-innerkirchlichen Fragen von Wichtigkeit. Aus ihnen heraus wird er immer wieder vor seinem eigenen Gewissen sich besinnen, was er in jeder einzelnen politischen Situation zu tun hat. Der gründliche Gedankenaustausch im evangelischen Lager über diesen Komplex zeigte, dass derartige Erwägungen eine staatsbürgerliche Notwendigkeit ersten Ranges sind. Für die besondere Lage im deutschen Protestantismus kam hinzu, dass das traditionelle Verhältnis zum Staat in den letzten Jahrzehnten einer starken Wandlung unterworfen wurde. Der Obrigkeitsstaat war 1918 verfallen, der Staatsbürger stand vor neuen gesetzgeberischen Aufgaben. In der Weimarer Zeit wurde diese Umstellung versucht. Doch unterbrachen die Jahre 1933-1945 den Prozess der Neubesinnung des evangelischen Kirchentums auf den Staat und auf die Grundlagen eines eigenständigen christlichen Verhaltens im Staat. Nach 1945 setzte von neuem diese Erweckungsbewegung im Staatsdenken ein, in zunehmender Gemeinsamkeit mit dem katholischen Christen. Die Diakonie in der Gestalt des ökumenischen Hilfswerks förderte aus ihren Erfahrungen das Hineinströmen übernationaler, vor allem europäischer Gedankengänge. Man begann sich von neuem auf das christliche Verständnis des Staates zu besinnen und daraus die Pflichten zu erfüllen, die politische Gleichgültigkeit zu überwinden und einen Standpunkt für die Mitarbeit am demokratischen Staat einzunehmen, Erwägungen, die nichts mit "Klerikalisierung" und "Konfessionalisierung" zu tun haben. Daneben erwuchsen als besondere Herzensanliegen des Christentums die vielfachen kulturpolitischen Aufgaben, der Schutz und die Betreuung der Jugend, die Sorge für Schule und Erziehung, die Überwindung der Kriegs- und Nachkriegsnöte bei Kriegsopfern, Witwen, Waisen, Rentnern, Heimkehrern, Verfolgten, Vertriebenen, Flüchtlingen, ganz abgesehen von den Aufgaben für die Deutschen jenseits des Eisernen Vorhanges, ferner die Frage der richtigen Wertschätzung und Entlastung der Familie, der große Nachholbedarf im Wohnungsbau und die familiengerechte Ausstattung der neuen Wohnungen. Zur Lösung dieser Aufgabe müssen Staat und Kirche auch weiterhin engstens zusammenarbeiten. Sie tragen wirklich eine politische Verantwortung. Dabei sind sie sich bewusst, dass sie alles, was in der Bundesrepublik für den Neuaufbau unseres Staates und sozialen Lebens geschieht, in ständigem Bewusstsein der großen Verpflichtung für die Deutschen in der sowjetischen Zone tun. Denn wir erstreben mit allem, was an uns liegt, die Wiedervereinigung aller Deutschen und die Überwindung der Zerrissenheit, die wir als eine immerwährende Gefahr für den Weltfrieden betrachten. Dieser in das Politische hineinströmende Gestaltungswille der Evangelischen Kirche Deutschlands kam in den Worten von Bischof D. Dr. Dibelius zur Eröffnung des zweiten Deutschen Bundestages zum Ausdruck: "Wir möchten unsere Abgeordneten vor allem des einen versichern, dass die Evangelische Kirche nicht als eine Kolonne von ewigen Nörglern abseits steht und denen, die sich hier in täglicher saurer Arbeit abquälen, immer bloß vorrechnet, was sie alles nicht erreicht und was sie falsch gemacht haben, sondern dass wir einander die Hände reichen wollen, um diesen Bundestag mit einer Kette von Fürbitten zu umgeben, dass der lebendige Gott Segen auf das lege, was hier gearbeitet wird."

Es geht aber noch um mehr: Seit 1945 stehen die beiden Bekenntnisse gegen jene Kräfte, die aus ihrem materialistischen Denken heraus den Menschen als ein rein diesseitiges Wesen begreifen und seine Persönlichkeitswerte mit Fanatismus verneinen. Wir können der Sturmflut des Materialismus nur mit einer Gemeinschaft von Menschen erfolgreich entgegentreten, die ebenfalls auf einem gemeinsamen weltanschaulichen Boden steht, dem des Christentums. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass in dieser Situation die Christen, die zusammenarbeiten wollen, zuerst das sehen müssen, was sie eint, und nicht das, was sie trennt. Ich bin als Deutscher und als Christ zutiefst davon überzeugt, dass die Christen beider Konfessionen heute in geschichtlicher Stunde berufen sind, gemeinsam diese ihre Pflicht zu tun. Unser Volk will von einem konfessionellen Zwiespalt nichts wissen und nichts hören. Es gilt deshalb mit einer möglichst großen Einigkeit in der deutschen Politik auch eine möglichst große Einigung im ganzen deutschen Volk zu erzielen. Dabei haben wir die Möglichkeit bekommen, das wieder gutzumachen, was in der Vergangenheit von den Deutschen gefehlt worden ist. Wir würden vor unsern Kindern und Kindeskindern in großer Schuld und mit einem geschichtlichen Versäumnis beladen dastehen, wenn wir aus der Vergangenheit nicht endlich den Schritt in eine Zukunft wagten, in der die Christen aller Bekenntnisse zusammenstehen und ihre große abendländisch-europäische Sendung erfüllen.

 

Quelle: Deutsche Tagespost, Regensburg vom 19. Juli 1954.