19. Mai 1951

Aufzeichnung der Besprechung zwischen dem Bundeskanzler Adenauer und dem Außenminister Großbritanniens, Herbert Morrison

Mr. Morrison: Es ist vielleicht am besten, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, alles das vorbringen, was sie zu sagen wünschen. Wenn das eine oder andere noch übrig bleibt, werde ich das im Anschluss daran vorbringen.

Dr. Adenauer: Ich bin sehr dankbar dafür und möchte vorausschicken, dass ich Tagesfragen nur nebenbei erwähnen möchte. Ich möchte vielmehr einmal einen Überblick über die innere Lage in Deutschland, wie ich sie sehe, und über die allgemeine europäische Lage geben, wie sie sich von unserem Standpunkt aus ansieht.

Die nächste Bundestagswahl wird im Spätsommer 1953 sein. Bis dahin wird keine Wahl und keine Veränderung in der gegenwärtigen politischen Konstellation im Bundestag stattfinden. Diese Wahl im Jahre 1953 wird für uns in Deutschland, aber wohl auch für die europäische Gestaltung sehr wichtig sein, und zwar unter folgenden Gesichtspunkten. Für mich ist der Gegensatz und der Kampf CDU - SPD nicht das Entscheidende für diese Wahl. Für mich ist vielmehr außerordentlich wichtig - wichtiger als dieser Kampf - die Frage: Wird die nächste Bundestagswahl noch eine Partei bringen, die radikal ist, nicht kommunistisch, sondern mehr nach rechts? Ich darf ja in vollster Offenheit sprechen.

Die Landtagswahlen, die vor einigen Monaten in Hessen gewesen sind, haben es gestattet, festzustellen, wie groß der Prozentsatz der Wähler beider Geschlechter in den verschiedenen Altersstufen ist. Da hat sich herausgestellt, dass, während der Durchschnittssatz der Wahlbeteiligung im ganzen Lande etwa 65% war, von den Wählern und Wählerinnen unter 35 Jahren nur etwa 10% sich an der Wahl beteiligt haben. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass diese Generation dem heutigen Staat gegenüber eine abwartende, vielleicht auch eine ablehnende, jedenfalls sehr zurückhaltende Stellung einnimmt. Das ist psychologisch durchaus verständlich. Denn diese Leute sind mit dem Nationalsozialismus aufgewachsen und haben damals nichts anderes gesehen und gehört als Nationalsozialismus. Dann kamen der Krieg, der Zusammenbruch und die Folgen. Die Leute haben eben eine sehr große innere Reserve gegenüber allem (...). Dieser Eindruck wird durch die oft stattfindenden (...) Instituten zur Erforschung der öffentlichen Meinung gestärkt, die auch über diese oder jene politische oder wirtschaftliche Lage Leute der verschiedensten Altersklassen befragen. Man kann dann feststellen, dass bei dieser jüngeren Generation - jünger in dem heutigen, etwas ausgedehnten Sinne genommen - eigentlich am wenigsten Interesse für die Beantwortung der Fragen überhaupt besteht. Übrigens darf ich hier einfließen lassen, ich habe über diese Frage vor einigen Wochen mit Minister Schuman gesprochen. Minister Schuman hat mir für Frankreich etwas Ähnliches gesagt.

Nun mache ich einen Sprung zu den Landtagswahlen in Niedersachsen. Aber Mr. Morrison wird mich leicht verstehen, warum ich diesen Sprung mache.

Mr. Morrison: Möchten Sie sagen, Herr Bundeskanzler, dass es eine Reaktion auf die übergroße Macht des Staates unter den Nazis gewesen ist oder ob es eher eigentlich nazifreundliche Tendenzen sind, die die Leute zum Abstandnehmen bringen?

Dr. Adenauer: Nein, weder - noch! Ich darf noch einige Sätze hinzufügen, wie ich die psychologische Lage der Deutschen, aber vielleicht auch der Einwohner anderer Länder beurteile. Die Fortschritte unserer Technik, insbesondere Radio, Kino usw., haben die jungen Leute namentlich von ernsteren Dingen abgelenkt. Sie sind gewissermaßen auf ein rein visuelles Empfinden eingestellt, so dass sie sich mit ernsthaften politischen Fragen oder überhaupt mit ernsthaften Fragen nicht gern abgeben. Daraus folgt eine verhängnisvolle Neigung der jungen Leute, sich gar nicht der Mühe zu unterziehen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie fühlen sich vielmehr gern als Teilchen einer Masse.

Nun darf ich vielleicht wieder zu Niedersachsen zurückkommen und erst einige allgemeine Sätze betreffend meine Auffassungen über die niedersächsischen Wahlen sagen. Dann werde ich wieder auf die Wahl in Hessen zurückkommen. Die niedersächsischen Landtagswahlen (...) aber kein bedrohliches Anzeichen. Ich bin sogar der (...) von der Landesregierung in Niedersachsen sofort mit größerem Nachdruck (...) geschritten worden wäre, die größere Ausdehnung so noch leichter hätte vermeiden lassen. ich habe Reden von Ramer auf Band aufnehmen lassen und habe sie gelesen. Ramer bedient sich der banalsten Redensarten und Phrasen von früher. Ich will nicht gegen einen Mann wie Dr. Schumacher hier etwas sagen. Aber Ramer bringt hier auch immer wieder das, was Herr Dr. Schmucker gegen die Bundesregierung, gegen den Schumanplan und gegen den Europa-Gedanken sagt.

Nun hat sich gezeigt - und deswegen ist das im Zusammenhang mit der Landtagswahl in Hessen interessant -, dass die Versammlungen der SHP-Leute fast ausschließlich, fast restlos nur von Leuten bis zu 40 Jahren besucht waren. Unsere große Aufgabe muss es nach meiner Meinung sein, in den nächsten Jahren dafür zu sorgen, dass wir die Altersklassen bis zu 35, 40 Jahren für den Gedanken des Staates, für den Gedanken des deutschen Staates und für den Gedanken des demokratischen Parlamentarismus gewinnen. Das ist deswegen nötig, damit nicht plötzlich bei der nächsten Bundestagswahl aus dieser Generation, die ja von unten durch junge Leute immer Zuwachs bekommt, plötzlich eine größere oder große Partei unter Einfluss einer nationalistischen Propaganda dasteht, die für die deutsche Zukunft, aber auch für die europäische Zukunft sehr gefährlich werden könnte. Eine solche Partei könnte demnächst, also in zwei Jahren, einen starken Zuzug aus den Massen der Vertriebenen bekommen, wenn es bis dahin nicht gelungen ist, wenigstens das Gros der Vertriebenen irgendwie wieder einzugliedern.

Hinsichtlich der Vertriebenen kann man folgende zwei Entwicklungen verfolgen. Sie haben sich zunächst politisch in die bestehenden Parteien eingeordnet. Sie haben dort ihre zum Teil berechtigten, zum Teil verständlichen, aber übertriebenen Wünsche bisher nicht erfüllt gefunden und haben nun eine eigene Partei gegründet. Sie werden zweifellos auch dort keine Erfüllung ihrer Wünsche finden, wenigstens nicht in den nächsten ein bis zwei Jahren. Die Enttäuschung wird noch größer werden. Dann besteht eben die Gefahr, dass sie sich in viel stärkerem Maße, als es bisher der Fall ist, einer solchen neuen rechtsradikalen Partei zuwenden.

Diese ganze Entwicklung ist auch deswegen für Europa gefährlich, weil Zusammenhänge zwischen Remer und Karlhorst, den Russen, absolut feststehen. Ich glaube - ich möchte hier sehr offen sprechen - mit aller Sicherheit sagen zu können, dass Remer von den Russen Geld bekommen hat. Aber ich bin nicht in der Lage, das in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die SHP mitzuteilen, weil sonst eine Quelle verstopft würde, die weiter fließen muss. Nun muss man nicht glauben, dass die Leute, die jetzt zu Remer gegangen sind und die eventuell später mit Remer oder mit einem anderen gehen werden, Kommunisten sind. Das sind sie keineswegs. Aber sie haben die törichte Hoffnung, mit Hilfe Sowjetrusslands ihre Träume erfüllt zu sehen.

Ich darf hier einige Worte über die Frage einflechten: Ist Russland für Westeuropa, insbesondere für Deutschland wirklich gefährlich oder nicht? ich schicke immer voraus, dass unsere Nachrichtenmittel beschränkt sind. Aber in manchen Beziehungen sind sie vielleicht doch zuverlässiger als die anderer Länder. Vor allem verfügen wir über Männer, die Russland schon seit vielen Jahren kennen und die auf dem Gebiete der deutsch-russischen Beziehungen sowohl aus eigener Erfahrung als auch geschichtlich vieles wissen. Auf die Gefahr hin, etwas zu theoretisch, zu professoral zu werden und Mr. Morrison Dinge zu sagen, die er lange kennt, möchte ich dazu doch einige Ausführungen machen. Die Beziehungen zwischen dem Zarentum und dem preußischen Königshof waren ja seit 100 Jahren oder länger recht intim. Nach 1918 sind die Beziehungen zwischen der Roten Armee und der Reichswehr vielleicht intimer gewesen, als allgemein bekannt ist. Zu der Zeit, als hier im Westen die Besatzung war, wurde regelmäßig der Jahrestag der Roten Revolution in Berlin im russischen Botschafterpalais zwischen den Spitzen der Roten Armee , die zu diesem Zweck herüberkamen, und den Spitzen der deutschen Armee in sehr intimem Kreise gefeiert (...) sind vielleicht unter dem Gesichtspunkt von Bedeutung, dass Russland seit sehr langer Zeit das Bestreben gehabt hat, Deutschland, und zwar sowohl die deutsche Industrie als auch den deutschen Menschen, (...) Bindung zu bringen. So verfolgt meiner Auffassung Sowjetrussland hinsichtlich der Bundesrepublik Deutschland ein (...) Ziel, zunächst ein Nahziel. Dieses Nahziel geht dahin: Russland will unter allen Umständen verhindern, dass das Kriegspotential der Bundesrepublik Deutschland in einem Krieg gegen Sowjetrussland verwendet werden kann. Das kann es auf dreierlei Weise verhindern, einmal durch einen plötzlichen Überfall und Zerstörung. Ich glaube, dass Sowjetrussland sich dazu nur im äußersten Falle entschließen würde, weil die Russen doch mit dem Begriff der Zeit anders umgehen als wir und weil eine solche fundamentale Zerstörung den letzten Zielen in der russischen Politik mit Bezug auf Deutschland widersprechen würde. Der zweite und dritte Weg gehen ein großes Stück zusammen. Russland will seinen Einfluss auf die Bundesrepublik verstärken und schließlich die Bundesrepublik Deutschland sich auf die Dauer nutzbar machen. Ich drücke mich einmal sehr vorsichtig aus, indem ich sage: nutzbar machen. Wenn das nicht im Wege der Schaffung eines Satellitenstaates wie bei anderen Ländern zu erreichen ist, wird Russland eben versuchen, einen anderen Weg zu gehen. Ein solcher Weg wäre z.B. die Neutralisierung Deutschlands gewesen, die zweifellos von Sowjetrussland sehr ernst ins Auge gefasst war. Zu meiner großen Genugtuung hat mir Herr Schuman erklärt, dass Frankreich sich unter keinen Umständen darauf einlassen würde. Die englische Haltung zu der Frage ist mir ja bekannt.

Ich darf in diesem Zusammenhang noch einige Sätze über die Frage der Neutralisierung und über ihre Folgen sagen. Die Neutralisierung Deutschlands würde den russischen Einfluss in Deutschland in kürzester Zeit zum dominierenden machen. Die Kommunistischen Parteien in Frankreich und Italien würden dadurch einen großen Auftrieb bekommen, und der Gedanke eines Zusammenschlusses Westeuropas wäre erledigt.

Nun komme ich zu dem dritten Weg, das ist der Weg des kalten Krieges oder, mit Bezug auf Deutschland konkreter ausgedrückt, der fünften Kolonne, Ich glaube, dass sich ein Ausländer von dem Umfang der Tätigkeit der fünften Kolonne in Deutschland nicht gut ein Bild machen kann. Tatsächlich ist es so, dass nach meiner Überzeugung in vielen Behörden Leute sitzen, die aus Angst und Furcht vor den kommenden Dingen sich der Macht Sowjetrussland willfährig zeigen, oder jedenfalls den Bestrebungen der fünften Kolonne keinen Widerstand entgegensetzen.

Ich möchte nun zu der Frage zurückkehren, wie es möglich ist, die jüngere Generation für den Gedanken der Demokratie, für den Gedanken eines demokratischen Staates und für die Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen. Dabei möchte ich (...) an die Spitze stellen. Dar Bund, die Bundesregierung ist ohne Macht und ohne Glanz, nicht nur, weil wir eine Besatzung haben, sondern auch, weil das Grundgesetz den föderativen Gedanken in einer wirklich maßlosen Weise überspitzt und übertrieben hat. Dieser Staat, diese Bundesregierung kann auf junge Leute in keiner Weise attraktiv wirken. Wir haben kein Zeichen einer wirksamen Staatsautorität. Die jungen Leute und namentlich die Deutschen brauchen solche Zeichen, wenn sie sich irgendeiner Sache zuwenden sollen. Unser Einfluss auf die Länder, auf die Organe der Länder, auf ihre Tätigkeit , auf ihre Polizei, auf die Staatsanwaltschaft, d.h. auf die Verfolgung von Vergehen gegen den Staat, ist verschwindend gering. Ich gehöre zu den Leuten, die das Grundgesetz mit gemacht haben, Wir waren uns schon damals darüber klar, dass die Forderungen im Hinblick auf die föderative Gestaltung der Bundesrepublik und auf die Schwächung der Bundesgewalt, wie sie namentlich von französischer Seite erhoben wurden, übertrieben sind. Aber es blieb uns ja nichts anderes übrig, als Ja und Amen zu sagen. Man hat mit einem halben Stück Brot zufrieden zu sein, wenn man kein ganzes Stück Brot haben kann. Der Botschafter François-Poncet hat unlängst in Stuttgart in einer öffentlichen Rede anerkannt, dass dieser Föderalismus übertrieben sei. Im Wesentlichen hat man dem Bund die ungeheuren sozialen Lasten in Deutschland überantwortet. Man hat seine finanziellen Möglichkeiten beschränkt und hat ihm weder Arm noch Bein gegeben. Die Erkenntnis, dass das Grundgesetz in seiner Übersetzung des föderalistischen Gedankens falsch ist, ist jetzt wohl auch in Deutschland ziemlich allgemein. Ich habe gerade heute morgen in einem CDU-Blatt, in der Kölnischen Rundschau, einen Artikel gelesen, nachdem Nordrhein-Westfalen davon spricht, dass es Souveränitätsrechte aufgebe, wenn dem Schumanplan zugestimmt würde; Mr. Morrison möge verzeihen, wenn ich hier und da einmal etwas temperamentvoll werde. Aber der Größenwahn der Länder ist so horrend. Das Komische ist, dass - wie bei Neureichen - bei den jungen Ländern der Größenwahn viel größer ist als bei den alten Ländern.

Mr. Morrison: Was sind die jungen Länder?

Sir Ivone Kirkpatrick: Diejenigen, die nach der Besetzung gegründet wurden.

Dr. Adenauer: Mit den Bayern lässt sich z.B. besser sprechen als mit Ländern wie Nordrhein-Westfalen. Nun ist die Frage, wie sich das ändern läset. Eine Änderung des Grundgesetzes, die absolut notwendigste, verlangt nicht nur eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, sondern auch die Zustimmung des Bundesrats. Es ist nicht daran zu denken, dass das erreicht wird. Eine solche übertrieben föderative Verfassung macht man in ruhigen Zeiten, wo alles seinen normalen Gang geht. Da mag man sie ertragen können. Aber in den Zeiten, in denen wir, Europa und die ganze Welt voraussichtlich noch einige Jahre hindurch leben müssen, (...) sie nicht. Ich muss offen gestehen, dass ich nicht ohne innere Besorgnis bin, wie die Verhältnisse sich bei dieser mangelnden Kraft des Bundes entwickeln, wenn das Besatzungsstatut zum großen Teil abgebaut ist.

Nun gibt es mit Ausnahme der Änderung des Grundgesetzes eine zweite Möglichkeit, nämlich die folgende. Ich habe diesen Gedanken noch nirgendwo, noch keinem Menschen gegenüber ausgesprochen. Es ist für mich etwas gefährlich, ihn auszusprechen. Aber die Situation verlangt es. Nur möchte ich bitten, ihn doch wirklich absolut diskret, wenigstens zunächst, zu halten. Ich denke nicht etwa daran - wie vielleicht gedacht werden könnte -, zu sagen, dass die Besatzung kraft ihres Rechts der Okkupation Änderungen des Grundgesetzes vornehmen sollte. Das würde für uns unerträglich und für die Hohe Kommission auch unmöglich sein. Aber es wäre vielleicht der Gedanke zu erwägen, ob die Hohe Kommission nicht der Bundesregierung gewisse ihr jetzt zustehende Vollmachten übertragen könnte, sagen wir einmal auf drei oder fünf Jahre, unter Vorbehalt des Widerrufs. Ich spreche von drei oder fünf Jahren, weil man doch annehmen kann, dass spätestens nach fünf Jahren eine allgemeine Beruhigung in Europa und in der Welt so oder so eingetreten ist und dann wieder Verhältnisse vorliegen, die eine neue Regelung notwendig machen. Wenn das möglich wäre und wenn es in einer geschickten Form gemacht würde, dann würde auch der Bund die äußere Kraft gewinnen, dass er attraktiv wirkt, dass er den Deutschen als wirklicher Staat erscheint und nicht als irgendein amorphes Gebilde, das unter fremder Herrschaft steht.

Der zweite Punkt, bei dem uns eine Hilfe der Hohen Kommission bzw. der westalliierten Regierungen sehr wesentlich sein wird, ist die Hilfe bei der Erfüllung unserer Sozialen Aufgaben. Sozial schwach sind bei uns nicht die Leute, die Arbeit haben, nicht die Leute, die im Gewerbe tätig sind, auch nicht der größte Teil der Landwirte. Die Arbeiter verdienen bei uns recht gut und führen im allgemeinen ein Leben, das sie früher nicht gekannt haben. Ein Teil der Gewerbetreibenden lebt zu gut. Wir versuchen in irgendeiner steuerlichen Form, ob durch Luxussteuer oder durch Sonderumsatzsteuer, dafür zu sorgen, dass der übertriebene Konsum aufhört. Wirklich notleidend ist bei uns ein Teil der Vertriebenen, nicht alle Vertriebenen. Ein Teil hat gute Arbeit gefunden. Notleidend ist ein Teil der Vertriebenen, nämlich die Frauen, die Kinder und die Alten. Vielfach sind ja die kräftigen Männer von den Russen und Polen zurückgehalten worden. Notleidend sind die Rentenempfänger im weitesten Sinne des Wortes und im gewissen Umfang auch die Beamten, die seit dem Jahre 1927 irgendeine Aufbesserung nicht mehr bekommen haben. Wir haben also bei uns in Deutschland zwei große Schichten, eine Schicht, der es sozial ganz gut geht - darunter sind, das möchte ich ausdrücklich betonen, die Arbeiter und der größte Teil der Bauern -, und eine Schicht, der es sehr schlecht geht, nämlich die Kreise, die ich soeben im einzelnen genannt habe.

Eine weitere sehr drückende soziale Verpflichtung für uns, die den Keim größter Unzuträglichkeiten für eine (...) Zukunft in sich schließt, ist die Wohnungsfrage. Ich habe mich in meiner langen Amtszeit als Oberbürgermeister von Köln mit der Wohnungsfrage besonders beschäftigt. Auf diesem Gebiet glaube ich auch jetzt noch eine gewisse Sachkunde für mich in Anspruch nehmen zu können. Wenn ich schon früher die Lösung der Wohnungsfrage als die Kardinalfrage der Lösung der sozialen Verhältnisse angesehen habe, so gilt das jetzt für Deutschland bei der Fülle der zertrümmerten und zerstörten Wohnungen noch in viel stärkerem Maße als vorher. Der Bund gibt sich auf diesem Gebiet wirklich große Mühe. Wir haben im vergangenen Jahre 350 000 Wohnungen geschaffen. Wenn man im Durchschnitt auf die Wohnung vier Menschen rechnen kann, so haben wird doch 1,4 Millionen Menschen wieder menschenwürdige Unterkünfte geschaffen. Wir werden in diesem Jahr auf dieselbe Anzahl kommen. Aber für das nächste Jahr sehe ich in dieser Hinsicht sehr ernst, weil es an Kapital fehlt.

Bei der Lösung aller dieser Fragen spielt die Höhe des Verteidigungsbeitrages, den wir zu leisten haben, eine große Rolle. Ich will nun selbstverständlich Mr. Morrison mit diesen Details nicht irgendwie belästigen, sondern möchte nur bitten, dass bei der Prüfung dieser Angelegenheit - und wir wünschen eine sehr ernste Prüfung unserer steuerlichen Möglichkeiten, unserer sozialen Lasten und unserer Verteidigungsverpflichtungen - doch der Ernst der sozialen Verpflichtungen und die Fülle der sozialen Verpflichtungen, die in Deutschland wirklich größer ist als in irgendeinem anderen europäischen Lande, berücksichtigt werden. Die Frage der Vertriebenen spielt in dem ganzen Komplex eine außerordentlich große und bedeutungsvolle Rolle. Sie kann nicht aus unserer Kraft gelöst werden. Sie kann nur gelöst werden, wenn Amerika hilft.

Und Amerika wird nur dann helfen, wenn diese Frage als eine europäische Frage betrachtet wird. Deshalb möchte ich Lord Henderson nochmals besonders dafür danken, dass er sich in Straßburg bei der Beratung dieser Frage so gentlemanlike gezeigt hat.

Mr. Morrison: Dass er sich ergeben musste!

Dr. Adenauer: Nein, nein! Das hat Lord Henderson mit einer sehr schönen Geste gemacht, so dass er die allgemeine Anerkennung gefunden hat. In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht, obgleich man ja über Anwesende nicht sprechen soll, sagen, dass ganz allgemein die englische Hohe Kommission, an der Spitze Sir Ivone, für unsere ganzen Fragen eine große Aufgeschlossenheit und auch innere Teilnahme zeigt.

Ich darf dann wieder an das anknüpfen, wo ich soeben die Abschweifung gemacht habe. Wir Deutsche müssen unsere sozialen Verpflichtungen so weit wie möglich aus eigener Kraft erfüllen. Es muss darauf bei der Bemessung des Verteidigungsbeitrages Rücksicht genommen werden. Es muss aber ferner dieser Staat, der Bund und die Bundesregierung einen gewissen Glanz und eine gewisse Attraktivität bekommen. Dazu müsste noch ein Drittes hinzutreten, das ist die Wegnahme des Gefühls der Machtlosigkeit und der Unsicherheit gegenüber dem Druck aus dem Osten.

Mr. Morrison: Können Sie genau sagen, was Sie haben möchten, welche Hilfe die Amerikaner und die Westalliierten in Bezug auf das Flüchtlingsproblem leisten sollen?

Dr. Adenauer: Die Westmächte müssen uns gegenüber Amerika helfen, indem sie sagen: Es ist eine europäische Frage. Die Vereinigten Staaten können uns dann durch Gewährung einer entsprechenden, allerdings ziemlich großen Anleihe für die Vertriebenen helfen, damit wir den Vertriebenen Häuser bauen können, damit wir ihre Jugend anlernen können, damit wir Höfe für die vertriebenen Bauern aufteilen können, kurz und gut, damit wir denjenigen Vertriebenen, die sich bisher noch nicht aus eigener Kraft eine wirtschaftliche Basis haben schaffen können, eine wirtschaftliche Basis geben können.

Mr. Morrison: Denken Sie an Auswanderung?

Dr. Adenauer: Die Auswanderung wird aus folgendem Grunde nur sehr wenig helfen. Die tüchtigen Leute, die dafür in Frage kämen, sind mehr oder weniger schon untergekommen. Die Jugend kann nicht auswandern, sie muss erst etwas lernen. Die Frauen können es ebenfalls nicht. Die Frauen müssen wir auch irgendwie wieder in geordnete soziale Verhältnisse hineinbringen, damit sie ihre Kinder erziehen können und selber wieder das Gefühl haben, hier heimisch zu sein. Da hilft keine Auswanderung. Die meisten Vertriebenen sind körperlich und psychologisch für die Auswanderung nicht geeignet.

Nun darf ich vielleicht fortfahren. Zur Sicherung des Staates ist es außerordentlich wichtig, dass die Menschen hier, insbesondere die Jugend, das Gefühl der Sicherheit gegenüber dem Osten bekommen. Da bin ich sehr dankbar - und freue mich, Ihnen diesen Dank zum Ausdruck bringen zu können -, dass Großbritannien diese Aufgabe in so wirklich ausgezeichneter Weise auch als eine europäische Aufgabe erkennt, dass es nicht nur die Dienstzeit von zwei Jahren eingeführt hat, sondern auch seine Divisionen hier nach Deutschland schickt. Wir erkennen das außerordentlich dankbar an. Natürlich bringt jede Verstärkung der militärischen Kräfte in einem fremden Lande gewisse Lasten für die Bevölkerung mit sich. Aber ich freue mich auch hier sagen zu können, dass die Ansprüche der britischen Besatzung die relativ geringsten sind. Soviel mir berichtet worden ist, scheint die Arbeit des Generals Kirkman (?), den Sie sich haben kommen lassen, sehr segensreich gewesen zu sein.

Ich habe noch zwei Punkte: Der eine betrifft die Erziehung, die Ausbildung unserer Jugend für einen Beruf. Dabei denke ich namentlich an die Jugend der Vertriebenen. Das zweite ist, dass wir möglichst in all dem unterstützt werden, was auch die deutsche Jugend am meisten fesselt, Sport, Wandern, und Austausch mit der Jugend der anderen Länder. Ich lege namentlich auf den Austausch der Jugend aller Schichten mit der Jugend anderer Länder einen großen Wert. Ich könnte mir denken, dass vielleicht entsprechend dem englischen Charakter der Kontinentale, wenn er in größeren Mengen kommt, in England nicht so willkommen sein wird. Aber ich glaube, man sollte gerade dieser Frage auch auf Seiten Großbritanniens eine große Aufmerksamkeit beilegen.

Mr. Morrison: Die Leute sollten hinüberfahren und sich das Festival of Britain ansehen.

Dr. Adenauer: Das nicht allein! Mir kommt es vielmehr sehr darauf an, dass sie den Volkscharakter kennenlernen, dass sie die Menschen sehen. Ich meine gar keine Feste. Ich meine nur, dass sie die Menschen und das Land kennenlernen und sehen, dass es überall gute und weniger gute Menschen gibt und dass wir doch sehr viel Gemeinsames im Empfinden und in der ganzen Auffassung haben.

Wir haben von unserer Seite, von Seiten der Bundesregierung, einmal die Ausgabe eines sogenannten Jugendpasses für alle Leute unter 25 Jahren vorgeschlagen. Der Jugendpass sollte sie berechtigen, ohne weitere Schwierigkeiten von einem Land ins andere Land zu gehen. Ich gebe zu, das ist vielleicht etwas weitgehend. Sonst werden auch zuviel FDJ-Leute hinkommen. Aber die französische Regierung hat jetzt, als ich zu den Schumanplan-Verhandlungen in Paris war, beschlossen, dass Visen nach Frankreich für junge Deutsche unter 25 Jahren unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit kostenlos ausgestellt werden.

Ich möchte hier kurz die Frage der Leistung des deutschen Beitrages zur Lösung der Sicherheitsfrage einschieben. Diese Frage hat ja unter dem Schatten der Vorkonferenz gestanden und steht jetzt unter dem Schatten der französischen Wahlen. Aber sobald diese Wahlen vorbei sind - hoffentlich gehen sie gut aus; am 17. Juni sind sie ja vorbei -, wird diese Frage, glaube ich, sehr ernsthaft in Angriff genommen werden müssen. Denn sie duldet keinen weiteren Aufschub; soweit ich unterrichtet bin, auch nach der Ansicht von den Herren Montgomery und Eisenhower.

Mr. Morrison: Hat nicht General Eisenhower gesagt, dass er keine Eile hätte? Er hat auch gesagt, der Beitrag dürfte der deutschen öffentlichen Meinung nicht zu rasch und zu sehr aufgezwungen werden.

Dr. Adenauer: Ja, aber die deutsche Öffentlichkeit muss ja doch aufgeklärt werden; und sie ist nach meiner festen Überzeugung aufzuklären. Wenn man mit den Leuten ruhig spricht, verstehen sie die ganze Situation. Nach meiner Überzeugung, die sich natürlich auf allgemeine Betrachtungen gründet, aber auch nach der Meinung unserer früheren Generale, die Russland sehr genau kennen, würden wir niemals mit einem Angriff von Sowjetrussland zu rechnen haben, wenn wir - es brauchen gar nicht zuviel Divisionen zu sein - eine entsprechende Anzahl von englischen, amerikanischen, deutschen, belgischen usw. Divisionen hier aufstellen würden.

Mr. Morrison: Was halten Sie von dem Argument - ich will das Argument nicht selber vertreten, ich will nur zur Klärung beitragen -, dass die Aufrüstung in Deutschland die Russen provozieren könnte?

Dr. Adenauer: Das ist nach meiner Meinung lächerlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Russen wegen höchstens 250 000 deutschen Soldaten einen Krieg entfesseln würden. Das ist doch nur ein Vorwand; das ist Verrücktheit. Aber die Russen wollen die endgültige Integration Deutschlands in Westeuropa verhindern, weil das ihrem Fernziel, von dem ich eben einmal sprach, widerspricht. Ihr Fernziel ist, Deutschland in irgendeiner Form in die russische Einflusssphäre zu ziehen. Ich wiederhole, die Integration Deutschlands in Westeuropa würde durch eine Beteiligung an der Verteidigung sehr gefördert werden. Damit bin ich bei einem Thema angelangt, für das ich vielleicht bei Mr. Morrison nicht sehr offene Ohren finden werde. Es ist das Thema Europa. Mr. Morrison, verzeihen Sie bitte, es ist vielleicht etwas unhöflich. Aber es ist eine ernste Sorge, die mich veranlasst, es zu sagen. Als sie unlängst davon sprachen, dass Sie "gute Nachbarn Europas" seien, war das Wort "Nachbarn" ein bisschen bitter für uns. Ich habe da eine andere Auffassung und darf mir vielleicht mit Ihrer Zustimmung erlauben, diese Auffassung ganz offen zu sagen, obgleich ich mir damit ein Urteil über englische Verhältnisse anmaße, das mir nur dann erlaubt sein darf, wenn ich eben über europäische Dinge spreche.

Mr. Morrison: Sprechen Sie bitte so offen wie möglich! Sagen Sie, was Sie wollen! Ich bin lange genug im Außenministerium gewesen, um ein dickes Fell zu bekommen.

(Heiterkeit.)

Dr. Adenauer: Ich glaube in etwa den Charakter des englischen Volkes zu kennen und weiß - gestern sprach Sir Ivone mit mir darüber -, dass der englische Volkscharakter eine starke Note der Beharrlichkeit hat, eine an sich sympathische Note, die aber natürlich unter Umständen auch schädlich wirken kann.

Mr. Morrison: Das ist ein Merkmal, das wir mit den Deutschen gemeinsam haben.

Dr. Adenauer: Aber wir sind so etwas labil dabei. - Ich darf folgendes hinzufügen. Was ich jetzt sage, richtet sich nicht etwa gegen die englische Regierung oder gegen die Labour Party. Ich habe aus Gesprächen - ich möchte keine Namen nennen - mit führenden Konservativen den Eindruck der Übereinstimmung in der ganzen Sinnesart erlangt. Ich habe den Eindruck, als wenn die englische Öffentlichkeit sich noch nicht genügend darüber klar geworden wäre, welche Folgen zunächst die Zerstörung der österreich-ungarischen Monarchie und jetzt der Zusammenbruch und die Teilung des Deutschen Reiches in Europa hervorgebracht hat. Das sind Ereignisse von so großen und in die Zukunft reichenden Folgen, dass sich, glaube ich, die englische Öffentlichkeit klar darüber sein muss, dass dieses Westeuropa, nachdem Österreich-Ungarn, nachdem das Deutsche Reich nicht mehr ist, gegenüber dem Druck aus dem Osten, der sich immer wiederholen wird, auch wenn einmal eine Periode des Stillstandes kommen wird, nicht bestehen kann, wenn England sich nicht als Teil Europas und nicht nur als Nachbar fühlt. Man müsste sich darüber klar sein, dass die Struktur Europas, wie sie in dem vorigen Jahrhundert bestanden hat und wie sie bis in dieses Jahrhundert hinein bestand, durch den Wegfall Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches aus den Fugen geraten ist. Ich bin der Auffassung, dass die Bundesregierung, Frankreich und Italien - von den anderen europäischen Ländern, die ja kleiner sind, ganz zu schweigen - nicht die innere Kraft haben, gegenüber dem Druck von Asien her auf die Dauer einen festen Widerstand zu leisten, wenn nicht die innere Struktur Europas durch den Zutritt Großbritanniens wieder neu gefestigt und gestärkt wird, dass, wenn Sowjetrussland hier in Westeuropas maßgebend sein würde, damit auch die Kraft Englands so geschwächt werden würde, dass es seine Aufgabe in dem Commonwealth, überall in der Welt nicht mehr würde erfüllen können, das steht für mich wenigstens ganz fest. Daher - es ist eigentlich gewagt, dass ich gegenüber dem britischen Außenminister so etwas sage, aber Mr. Morrison hat mich ja dazu ermutigt - glaube ich für meine Person, dass Großbritannien auf zwei Beinen stehen muss, sowohl in Westeuropa als auch in der Welt, und dass es, wenn es nicht in Westeuropa fest auf einem Bein steht, seine Aufgabe in der Welt nicht wird erfüllen können.

Mr. Morrison: Ihre Ausführungen, Herr Bundeskanzler, waren außerordentlich interessant. Sie haben durchaus nicht zu lange gedauert. Ich habe mich sehr gefreut, Ihre Meinung zu hören, und habe mich besonders gefreut, dass Sie so offen gewesen sind. Ich habe auch ein paar Worte zu sagen.

Ich habe mich gefreut zu hören, dass die persönlichen Beziehungen zu den britischen Behörden in Deutschland und vor allen Dingen zu Sir Ivone Kirkpatrick so gut sind. Dabei möchte ich sagen, dass ich mit ihm vollkommen übereinstimme und dass Sir Ivone als britischer Hoher Kommissar in Deutschland mein volles Vertrauen genießt.

Was den "guten Nachbarn" angeht, so wollte ich in meiner damaligen Erklärung gerade die gegenteilige Wirkung erzielen als die, die ich damit ausgelöst habe. Ich habe, nachdem ich die Erklärung abgegeben hatte, in der Times Ihre Reaktion darauf gelesen und habe meinen Sekretär gefragt: Was meint der Bundeskanzler damit eigentlich? Er wusste es auch nicht. Ich sagte: Wahrscheinlich nimmt er an dem Wort "Nachbar" Anstoß. Ich wollte es als eine freundliche Geste und durchaus nicht als ein Distanzieren gemeint haben. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass wir, so wie wir es gern sehen, dass Deutschland ein guter Nachbar von Belgien, von Frankreich usw. ist, auch gute Nachbarn sein wollen. Es war durchaus nicht so gemeint, dass ich in irgendeiner Weise distanzieren wollte. Im allgemeinen bin ich in diesem Punkt Ihrer Ansicht. Aber wenn Sie die Einstellung Großbritanniens zu Europa, so wie sie heute ist, betrachten, es ist doch ein enormer Fortschritt gegenüber der früheren Zeit festzustellen, der vielleicht ebenso groß ist wie derjenige, den die Vereinigten Staaten hinsichtlich der Zusammenarbeit mit dem Rest der Welt gemacht haben. Im 19. Jahrhundert haben wir uns eigentlich nicht als ein Teil Europas gefühlt. Wir haben die Politik des europäischen Gleichgewichts verfolgt. Wir haben uns das Recht vorbehalten, aus dem Kriege draußen zu bleiben oder auf irgendeiner der beiden Seiten in einen in Europa ausbrechenden Krieg einzugreifen, und zwar vom Gesichtspunkt des britischen Interesses und nicht vom Gesichtspunkt des europäischen Wohlergehens im Ganzen. Eine der Folgen dieser Politik war es, dass im Jahre 1914 Kaiser Wilhelm bis zum letzten Augenblick, bis es so weit war, nicht wusste, was Großbritannien in diesem Kriege tun würde. Die Engländer haben es selber auch nicht gewusst.

Heute dagegen sind wir in der westlichen Union drin, wir sind im Atlantikpakt, wir sind in der Europäischen Zahlungsunion, in der OEEC und in einer ganzen Reihe von anderen Organisationen. Wir haben eine enge wirtschaftliche und auch militärische Zusammenarbeit mit den europäischen Ländern. Der Verteidigungsbeitrag, den wir mit einem sehr großen Kostenaufwand und nicht lediglich zu unserem eigenen Wohl oder zur Verteidigung des Commonwealth, sondern auch zur Verteidigung Europas leisten, läßt sich sicherlich mit dem irgendeines anderen westeuropäischen Landes vergleichen. Ich vergleiche ihn nicht mit Deutschland. Denn Deutschland ist nicht sein eigener freier Herr in diesen Dingen. Und wie Lord Henderson soeben gesagt hat, ist es ja auch so, dass wir mitten drinstehen. Wir sind an die Verteidigung Westeuropas gebunden und wir haben auch die volle Absicht, diesen unseren Verpflichtungen nachzukommen. Auf der anderen Seite ist es nun wieder so, dass Großbritannien nun einmal eine Insel ist - das ist nicht unsere Schuld, das hat der liebe Gott so eingerichtet -, und wir müssen das Beste daraus machen, was wir können.

Dr. Adenauer: Das ist seit 10 000 Jahren so.

(Heiterkeit.)

Mr. Morrison: Darüber hinaus haben wir in Großbritannien gewisse verfassungsmäßige Traditionen, die unsere kontinentalen Freunde nicht immer ganz verstehen. Bei uns ist es so, dass das Volk das Parlament wählt. Aus dem Parlament geht die Regierung hervor, und die Regierung ist wieder dem Parlament und letzten Endes dem Volk verantwortlich. Es ist ein sehr schwerer Brocken für uns, dass das Recht des Parlaments, dass über alles übergeordnet ist - darauf kommt es ja in England hinaus -, an eine Art übernationale, supra-nationale Organisation übertragen werden soll. Das ist ein Brocken, der für uns sehr schwer zu schlucken ist. Wir sind immer bereit, unsere Zusammenarbeit ad hoc, in einem gegebenen Fall zur Verfügung zu stellen. Das ist nicht nur eine Möglichkeit, das ist eine Tatsache, das findet statt. Nichts desto weniger muss man sich jedoch in Europa vor Augen halten - das ist kein Argument, das ist eine ganze einfache Tatsache -, dass wir in England nicht bereit sind und nur sehr schwer bereit wären, uns unter irgendeine übernationale Organisation zu fügen, die noch in irgendeiner Weise über unserem Parlament stünde und uns irgendwelche Orders geben könnte. Ich erwähne den Schumanplan, den wir sehr fair und ganz offen ohne Vorurteil studieren werden. Wir werden dann, wenn es nötig oder wenn es gerechtfertigt ist, in irgendeiner Weise gern unsere Hilfe geben. Das werden wir immer tun. Aber es fällt uns sehr schwer, uns in irgendeiner Weise die Suprematie unseres Parlaments wegnehmen zu lassen.

Es ist aber möglich, dass sich das entwickeln wird. Aus all den Organisationen, wie z.B. OEEC und eine Reihe von anderen, die sehr gut arbeiten, kann sich im Laufe der Zeit langsam eine europäische Organisation entwickeln, die auch unseren europäischen Freunden recht und sympathisch ist. Wir glauben, dass das langsam vor sich gehen sollte, durch Versuche, durch eingesehene Fehler und durch Verbesserungen. Das ist nach unserem Dafürhalten bedeutend besser, als sich jetzt sofort einer theoretischen, auf dem Papier ausgearbeiteten Verfassung zu unterwerfen. die dann vielleicht nicht zufriedenstellend funktionieren würde. Das sollte eine langsame Evolution sein. Wir arbeiten im Europarat zusammen. Die Ministerkonferenz, an der ich teilgenommen habe, hat mich sehr beeindruckt. Es hat mir später leid getan, dass mein Freund Lord Henderson meinen Anweisungen zuwiderhandeln musste, weil er umzingelt wurde und sich ergeben musste. Ich habe ihn mit einer Verwarnung davonkommen lassen. Ich bedauere das. Das ist eine interessante Tatsache, die zu etwas führen kann. Ich fürchte, dass die Arbeit im Europarat nicht gerade durch die Stellung gefördert wird, die vor allen Dingen die im Europarat vertretenen Rechtsparteien sämtlicher Länder, stark unterstützt auch durch die britische Konservative Partei, dort einnehmen. Die Stellungnahme, die sie dort einnehmen, scheint es zu sein, als ob die Rechtsparteien sämtlicher Länder sich einen besonderen Spaß daraus machen, dort der britischen Labour Party eins auszuwischen.

Ich habe eben etwas zu lange über diesen Punkt gesprochen. Aber ich glaube, es ist notwendig. Ich habe so das Gefühl, dass die kontinentalen Völker die Engländer, das britische Volk nicht immer ganz verstehen. Sie halten uns manchmal für schlecht und böswillig, wenn wir ganz offenherzig und wohlmeinend sind. Es ist eine gewisse Schwierigkeit. Mit jedem verstehen wir uns auch nicht. Daher ist es ganz gut, einzusehen, dass die Länder uns nicht immer verstehen. Ich habe immer das Gefühl, wenn wir in einer Wahl unterliegen, so liegt es daran, dass wir in dem Verständnis unseres Volkes gefehlt haben.

In ein oder zwei Punkten möchte ich Aufklärung von Ihnen haben. Ich verstehe das Problem der Vertriebenen sehr wohl. Es ist selbstverständlich, dass diese Leute, solange sie keine Wurzel gefasst haben, immer eine große soziale Gefahr darstellen werden. Ist aber die Hauptschwierigkeit diejenige der Unterbringung in Wohnungen und der Erziehung? Haben die Leute Arbeit, kann man Arbeit für sie finden?

Dr. Adenauer: Wohnung und Arbeit hängen eng zusammen. Wir sind jetzt nicht in der Lage, für die Flüchtlinge an den Orten, an denen es Arbeit gibt, in ausreichendem Maße Wohnungen zu schaffen.

Mr. Morrison: Was Niedersachsen angeht, so möchte ich Sie fragen, wann nach Ihrer Auffassung das Bundesverfassungsgericht bestehen wird, das sich der Sache annehmen kann. Ich stimme mit Ihnen überein, dass man die Bedeutung der SRP-Erfolge in Niedersachsen nicht überschätzen sollte. Nichtsdestoweniger ist es eine Angelegenheit, die zu ernster Sorge Anlass gibt. Jeder Mensch kann sich denken, wo diese vielen jungen Leute einmal hingehen werden, wenn sie zur Wahl kommen. Diese Angelegenheit hat in Großbritannien Sorge ausgelöst. Es besteht die Gefahr, dass man in England denkt: Aha, da kommen die Nazis wieder ans Werk. Demnach ist die Frage doch von einer gewissen Dringlichkeit.

Dr. Adenauer: Den Gesetzentwurf über die Errichtung des Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesregierung dem Bundestag im März 1950, also vor 15 Monaten zugeleitet. Wir haben so schnell wie möglich gearbeitet, weil in der Tat die Notwendigkeit hierfür besteht. Der Bundesjustizminister hat mir jetzt noch erklärt, dass das Bundesverfassungsgericht im Juni - er hat sogar gesagt, am 1. Juni; ich will mich vorsichtig ausdrücken - zusammentreten wird.

Mr. Morrison: Zweifellos werden Sie bei der Zusammensetzung des Gerichtshofes vorsichtig sein.

Dr. Adenauer: Ja. Die Mitglieder werden von einem Ausschuss des Parlaments gewählt.

Lord Henderson: Herr Bundeskanzler, die Errichtung des Bundesverfassungsgerichts kann eine Wiederholung dessen, was sich in Niedersachsen abgespielt hat, vermeiden. Sie haben aber gesagt, dass es, wenn die niedersächsische Landesregierung stärkere Maßnahmen getroffen hätte, überhaupt nicht so weit hätte zu kommen brauchen. Welches sind die Maßnahmen, die die niedersächsische Regierung hätte treffen können und nicht getroffen hat?

Dr. Adenauer: Die niedersächsische Landesregierung hätte nach meiner Meinung die Pflicht gehabt, in den Versammlungen gegen die Ausschreitungen, gegen die Beleidigungen der Bundesregierung und gegen diese ganzen Geschichten entschieden einzuschreiten. Das hat sie nicht getan. Sie war dazu ohne Bundesverfassungsgericht berechtigt und verpflichtet. Dadurch, dass das nicht geschehen ist, wurde der Zulauf zu den Versammlungen natürlich immer größer.

Lord Henderson: Die Regierung in Niedersachsen ist eine SPD-Regierung. Hat es irgendein politisches Motiv gegeben, aus welchem es ratsam schien, diese Versammlungen nicht zu unterbinden?

Dr. Adenauer: Natürlich! Der niedersächsische Innenminister, der Polizeiminister, wollte vorgehen. Aber der Ministerpräsident wollte nicht vorgehen. Es ist ja ganz klar, den nicht-sozialdemokratischen Parteien sind durch diese Agitation der Remer-Partei eine ganze Anzahl Stimmen weggenommen worden, die ihnen sonst zugeflossen wären.

Mr. Morrison: Haben die Sozialisten an die SRP Stimmen verloren?

Dr. Adenauer: Nein. Aber die Sozialisten haben keinen Sieg gehabt. Sie haben gehofft und geglaubt, dass sie die Mehrheit bekommen würden. Sie können ohne die eine oder die andere Partei keine Regierung bilden.

Ich tue es sehr ungern, aber da Mr. Morrison mit Herrn Dr. Schumacher zusammentreffen wird, ist es vielleicht ganz gut, wenn ich doch einiges über seine Haltung sage. Offenbar hat Herr Dr. Schumacher geglaubt, wenn er von Seiten der Sozialdemokratischen Partei die nationalistischen Instinkte für sich in Anspruch nimmt, zu verhärten, dass eine extreme rechtsradikale, nationalistische Partei entsteht. Er hat früher einmal solche Äußerungen getan und gemeint, wenn man nach dem Jahre 1918 den nationalen Gedanken seitens der Sozialdemokratie stärker unterstrichen hätte, dann wäre kein Nationalsozialismus entstanden. Diese Überlegung von Dr. Schumacher ist nach meiner Überzeugung - die ich immer gehabt habe - völlig falsch. Man kann wohl ein Feuerchen anstecken. Aber ob man dieses Feuerchen immer in der Hand hat, ob es nicht zu einem großen Brand wird, das ist eine andere Frage. Wenn ein Nationalismus - und es ist ausgesprochener Nationalismus, den er zeigt - mal irgendwo anfängt, dann geht er immer bis an das Äußerste und geht dann eben zu einer rechtsradikalen, nationalistischen Partei. Aber, Mr. Morrison, ich bitte Sie sehr, wenn Sie mit Dr. Schumacher sprechen, nennen Sie um Gottes Willen nicht meinen Namen. Sonst ist es schon vorbei.

(Heiterkeit.)

Mr. Morrison: Ich habe eine Reihe von Dingen, die ich mit Dr. Schumacher zu besprechen habe. Ich folge Ihnen, Herr Bundeskanzler, in dem Argument, dass es sehr schwierig ist, den Staat attraktiv zu machen, wenn er keine Macht und wenn er vor allen Dingen keinen Glanz hat. Ich habe immer das Gefühl gehabt, es ist für einen Staat von größter Wichtigkeit, dass er einen gewissen Glanz entfalten kann. Das ist unbedingt nötig. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass die Weimarer Republik die traurigste, grauste Alltagserscheinung voller schwarzer Hosen und Jacken und steifer Hüte gewesen ist, ohne irgendwelches Prestige und ohne irgendwelchen Glanz. Ich glaube, sie müssen unbedingt versuchen, das in Deutschland einzuführen. Ich spreche jetzt nicht von militärischem Gepränge und Pomp, sondern eigentlich mehr von dem zivilen Glanz, der erforderlich ist, selbst wenn es sich darum handelt, gewisse Roben zu tragen, solange man sich damit nicht lächerlich macht. Das ist einer der großen Werte der britischen Monarchie.

Was die sozialen Lasten und den deutschen Verteidigungsbeitrag anbelangt, so hätte ich gern von Ihnen gehört, welches die Besteuerung in Deutschland gegenüber derjenigen in England ist. Die englische Besteuerung kenne ich zu meinem Leidwesen sehr genau. Sie wissen, dass wir in England sehr hohe soziale Lasten tragen. Die sozialen Leistungen in England sind beispielgebend. Ich weiß auch, dass die Rentenempfänger es immer am schlechtesten haben. Wir versuchen es in England, gerade diesen Leuten etwas zu helfen. Wir haben enorme Aufwendungen, die wir zu unserer Verteidigung leisten müssen, die Sie selber in Deutschland nicht zu leisten haben. Andererseits weiß ich, dass Sie ihren Beitrag zur Besatzung leisten. Ich möchte doch gern in die Lage versetzt werden, irgendeinen Vergleich zwischen den Steuerlasten in Deutschland und in England zu ziehen.

Dr. Adenauer: Ich möchte darauf so offen antworten, wie ich überhaupt gesprochen habe. Ich schicke aber voraus, was unsere finanzielle Lage so besonders schwer macht, ist der Umstand, dass wir kein Kapital und keinen Kredit haben, dass wir also auch diejenigen Ausgaben, die man normalerweise mit Krediten deckt, aus laufenden Einnahmen zahlen müssen.

Mr. Morrison: Das müssen wir auch tun.

Dr. Adenauer: Ich wünsche, wir hätten den Kredit, den England hat. Was die zweite Frage angeht, so lasse ich darüber für die Hohe Kommission eine genaue Aufstellung machen. Aber ich möchte folgende Erklärung geben. Ich glaube, dass nach den gesetzlichen Bestimmungen, nach den Übersichten, die mir dabei gegeben worden sind, die steuerliche Belastung bei uns mindestens so groß, größer als in irgendeinem anderen Land ist. Aber - und ich sage das ganz offen - bei einem Teil der Steuern, bei denen es möglich ist, uns stark zu betrügen, werden wir nach meiner Auffassung sehr betrogen. Das kommt daher, dass einmal seit dem Jahre 1933 jeder normale Deutsche in dem Staat einen Todfeind erblickt, dessen Gewalt man sich nur fügt. Insofern haben sich die Jahre des Nationalsozialismus auf die moralische Verfassung des deutschen Volkes gegenüber dem Staat als solchem, gegenüber den Verpflichtungen, die jeder gegenüber dem Staat hat, sehr unheilvoll ausgewirkt. Wir bemühen uns jetzt mit ganzer Kraft, einen Nachprüfungsapparat aufzubauen, der da Ordnung schafft. Wenn man jedoch bedenkt, dass wir im September 1949, vor anderthalb Jahren, blank, ohne jeden Apparat angefangen haben und dass es ziemlich schwer ist, tüchtige Leute zu finden, wird man verstehen können, wenn über dem Aufbau eines solchen Apparats mindestens noch ein Jahr vergeht.

Mr. Morrison: Herr Bundeskanzler, ich glaube, wir müssen jetzt zum Essen fahren. Ich habe noch ein oder zwei Punkte, die ich mit Ihnen besprechen möchte. Diese könnten wir vielleicht heute nach dem Essen besprechen.

 

Quelle: StBKAH III/96.