1976

Elisabeth Noelle-Neumann: Konrad Adenauer, die öffentliche Meinung und Wahlen

Ich kam, von Ewert gefahren, über Lugano. Nach der telefonischen Information, die mir Ministerialrat Selbach in Bonn gegeben hatte, sollte ich um 11 Uhr beim Kanzler sein. Zunächst sah es nach Verspätung aus, aber dann kamen wir wieder schnell voran. Kurz nach 10.30 Uhr stotterten wir am Ufer des Comer Sees entlang, um die richtige Auffahrt zu suchen. Ich kannte sie nicht; denn seit meinem letzten Besuch bei Adenauer in Cadenabbia waren mehr als fünf Jahre vergangen, und damals wohnte er noch nicht in der Villa Collina, sondern in einem kleineren Haus.

Während wir langsam in Richtung Como fuhren, sah ich plötzlich den Mercedes 300 mit den blauen Lampen - den Polizeibegleitwagen des Kanzlers. Und fast im gleichen Augenblick trat von links her ein jüngerer Mann in die Straße und winkte mit ruhiger Hand. Wir hielten. Ich war avisiert. Der Mann stellte sich als Kriminalbeamter von der Sicherungsgruppe vor. Er stieg auf den Rücksitz. Dann kurvten wir hoch. Ziemlich lange. Ein Stück müßten wir laufen, sagte der Kriminalbeamte. Wir blieben an einem kleinen Haus mit einer Garage stehen. Darin stand der Mercedes 0-02.

Wir liefen die Kehren zur Höhe. Es ging steil hinauf. Der Kriminalbeamte erzählte mir, daß der Kanzler zum 13. Mal in Cadenabbia sei, und daß er genauso oft an den Vorbereitungen mitgewirkt habe. Es sei vor allem immer schwierig mit den Telefonleitungen und dem Fernschreiber - deshalb sei er schon immer 14 Tage vor dem Eintreffen des Kanzlers da. Die italienische Post könne das nicht machen, Siemens mache das immer. Wir gingen langsam und hielten ein paarmal an. Nein, bisher sei kaum jemand beim Kanzler gewesen - die beiden Journalisten säßen unten, Henkels und Schulze-Vorberg. Nächste Woche, da werde mehr los sein.

Auf der Höhe. Palmen, rechts weiter hinten das Haus. Vor dem Eingang standen Adenauer mit dem Pepita-Hut in der Hand und Selbach. Der Kanzler, etwas erregt, Selbach ergeben, hinnehmend. Die Sonne schien ganz hell. Selbach machte den Kanzler auf mich aufmerksam; denn ich war, in der Meinung, er habe ein dringliches Gespräch mit dem Referenten, mit dreißig Meter Abstand stehengeblieben; der Kriminalbeamte retirierte. Der Kanzler winkte mir zu, ich sah, daß er gewartet hatte.

Dies ist der Anfang einer Aufzeichnung von Erich Peter Neumann, Mitbegründer des Instituts für Demoskopie Allensbach. Als er das schrieb, am 29. März 1963, war er Bundestagsabgeordneter der CDU, für die Legislaturperiode von 1961 bis 1965. Er war auch der Verfasser der knappen Allensbacher Berichte, mit denen die Bundesregierung seit 1950 laufend über „Die Stimmung im Bundesgebiet“ informiert wurde. Den ersten Auftrag - drei Umfragen - erteilte Erhard, als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, im Juni 1948 gleich nach der Währungsreform, um zu verfolgen, wie sich die Menschen mit dem neuen Geld einrichteten. 1949 wurden Carlo Schmid und Fritz Heine, Pressesprecher der SPD, Allensbacher Vorschläge für regelmäßige Meinungsforschung unterbreitet; aber damals gab es bei den Parteien noch keine Etats dafür. Mit einem Vertrag vom September 1950 beauftragte das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung das Allensbacher Institut, in die monatlichen Mehr-Themen-Umfragen - Umfragen mit 2000 Interviews bei einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung im Bundesgebiet mit West-Berlin, ab 18 Jahre zuerst, später ab 16 Jahre - 10 bis 12 Fragen zu aktuellen politischen Themen einzuschließen. Die Auswahl der Themen und die Formulierung war Sache des Instituts, es wurde kein Einfluß darauf ausgeübt und auch keine Abstimmung vor Beginn der Umfragen verlangt.

Der Diener hatte einen Tisch vor das Haus gestellt. „Wollen wir uns hierher setzen? Sie haben schönes Wetter mitgebracht. Hoffentlich bleibt es auch, wenn Sie wieder gehen. Wir haben es nötig. Bisher war es nicht so doll. Wird es Ihnen auch nicht zu kalt? Wo haben Sie Ihren Mantel? Ach, dann gebe ich Ihnen einen von meinen Mänteln. Holen Sie mal zwei Mäntel und nehmen Sie die gestreifte Decke weg, die ist zu unruhig, nehmen Sie einfach eine weiße.“

Wir setzten uns an den Klubtisch, den der Diener aufgestellt hatte. Aber Adenauer wurde durch die Waschmaschine, deren Geräusch aus dem Keller hinter uns kam, irritiert. „Das hat keinen Zweck“, sagte er, „da kann man sich nicht unterhalten, und außerdem können die da unten zuhören, was wir reden.“ Er winkte mit dem Zeigefinger den Diener heran. „Stellen Sie den Tisch da unten hin.“ Er wies auf einen von Bäumen abgeschirmten Winkel der Terrasse, etwa 50 Schritt entfernt, und wir gingen langsam hinüber, während der Diener den Tisch und die Korbstühle brachte.

Unvermittelt, noch während wir über den Kies gingen, fragte er: „Sagen Sie mal, wie wählen Sie eigentlich die Leute aus, die Sie befragen?“ Ich begann eine Erklärung, aber er unterbrach mich: „Sind das immer dieselben?“ - Nein, sagte ich, und ehe ich fortfahren konnte, fiel er mir wieder ins Wort: „Wie erklären Sie sich aber, daß ich niemand kenne, der schon mal befragt worden ist?“ Ich erwiderte mit dem Bestreben nach Trockenheit, der Verkehr des Kanzlers beschränke sich im Wesentlichen auf eine so illustre Schicht von Menschen, daß sie statistisch kaum faßbar sei. Ich schätzte sie quantitativ auf ein Hundertstel pro Mille der Bevölkerung. Aber ich sei sicher, wenn er, der Bundeskanzler selbst, 100 Jahre alt werde, würden auch eine oder zwei derjenigen Personen im statistischen Querschnitt gegriffen sein, mit denen er umgehe.

Er nickte zufrieden. Wir hatten den Tisch mit den Stühlen erreicht. Der Diener kam mit den Mänteln. Adenauer zog den einen an. Die Sonne schien warm. Ich machte dem Diener ein Fingerzeichen, den anderen Mantel wieder mitzunehmen. „Nein, nein, dat wird kühl, zieh'n Sie ruhig mal einen Mantel von mir an.“ Ich ließ mir in einen schwarzen Paletot helfen, der mir sehr bequem paßte. Dann setzten wir uns.

Den größten Teil seiner Regierungszeit hatte Konrad Adenauer den Wind der Öffentlichen Meinung gegen sich gehabt. Die Allensbacher Berichte waren vom ersten Berichtsjahr 1950 an meist nicht erfreulich für ihn zu lesen. Er hatte sich auf die Demoskopie eingelassen auf Ratschlag seines Staatssekretärs Otto Lenz. Der 74jährige ergriff das neue Informationsmittel ganz selbstverständlich, ohne Scheu vor den repräsentativen Prozentzahlen, wahrscheinlich als einer der ersten Politiker überhaupt. Die Besatzungsmächte in den drei Westzonen informierten sich regelmäßig durch Umfragen, davon hatte er wahrscheinlich gehört.

Schon zwischen Januar und März 1950 schlug die Stimmung gegen Adenauer um. Die Frage: „Sind Sie im Großen und Ganzen mit der Politik Adenauers einverstanden oder nicht einverstanden?“ - bis zu seinem Rücktritt im Oktober 1963 insgesamt 172mal gestellt, wurde am Anfang des Jahres 1950 noch von einer relativen Mehrheit von 33 Prozent positiv beantwortet „einverstanden“, 22 Prozent waren nicht einverstanden, 45 Prozent, fast die Hälfte also, enthielten sich der Stimme. Im März 1950 überwog bereits die Ablehnung (23 Prozent einverstanden, 29 Prozent nicht einverstanden). Bis zum November 1950 hatte sich eine erdrückende Mehrheit gegen ihn gebildet (19 Prozent einverstanden, 41 Prozent nicht einverstanden), wie sie selbst Erhard im September 1966 in der ungünstigsten Situation (28 Prozent einverstanden, 46 Prozent nicht einverstanden) oder Willy Brandt im März 1974 nicht erlebten (33 Prozent mit Brandt einverstanden, 45 Prozent nicht einverstanden). Erst Anfang 1952 gewannen günstige Urteile über Adenauer wieder die Oberhand.

Der Ausbruch des Koreakrieges im April 1950, schon in den Wochen zuvor die steigende Kriegsfurcht und dann als Folge des Koreakrieges Wirtschaftsrezession, steigende Arbeitslosigkeit, hatten die Stimmung verfinstert. Im Juni 1951 wurde etwas eingehender nach den Gründen der Ablehnung gefragt: „Man hört ganz verschiedene Einwände gegen Adenauer. Hier ist eine Reihe davon aufgezeichnet. Könnten Sie mir sagen, was der Haupteinwand ist, den Sie gegen Adenauer haben?“ An der Spitze, von 19 Prozent genannt, rangierte: „Er ist zu nachgiebig gegenüber den Besatzungsmächten“, dann „er ist unsozial eingestellt“ (15 Prozent), „er ist für sein Amt zu alt“ (12 Prozent), „er ist zu abhängig von der Kirche“ (11 Prozent), „seine Einstellung zur Wiederbewaffnung“ (7 Prozent), „er ist zu diktatorisch, fragt das Volk zu wenig“ (3 Prozent). 16 Prozent erklärten: „Ich habe nichts gegen Adenauer.“ Auf die Frage: „Glauben Sie, daß es besser wäre, wenn ein anderer Mann als Adenauer an die Spitze der Regierung käme?“ antwortete im Juni 1951 die relative Mehrheit von 35 Prozent „besser ein anderer Mann“ - „nein, wäre nicht besser“, meinten 33 Prozent, 32 Prozent blieben unentschieden.

„Ich wollte mich gern mal ausführlich mit Ihnen unterhalten“, so fing er an, „wir kennen uns jetzt schon so lange, und es interessiert mich, was Sie so denken.“ Er hatte den kleinen Pepita-Hut auf dem Kopf, der aus der Nähe etwas abgegriffen und nicht ganz sauber wirkte, und sah mit etwas zusammengekniffenen Augen auf den Comer See hinunter. Er wirkte ein wenig müde, aber nur so wie ein Mensch, der einmal schlecht geschlafen hat. Ich habe ihn im Laufe der letzten zehn Jahre oft so aus der Nähe gesehen. Er ist älter geworden, die Haut faltet sich mehr als früher, aber der Unterschied ist nicht sehr auffällig. Wenn der vier Wochen hier bliebe und besseres Wetter als jetzt - die Tage zuvor waren schlecht gewesen - die Haut braun macht, so, dachte ich, erschrickt die Fraktion, wenn er wieder nach Bonn kommt.

„Denken, Herr Bundeskanzler“, fragte ich, „worüber?“ Ich wollte absichtlich ein Stichwort von ihm haben. Es wäre leicht, auf das Thema schlechthin loszugehen, aber ich war neugierig darauf, welche Karten er ausspielen würde.

„Nun“, sagte er, „wenn man alles so bedenkt, was so passiert ist, so haben die Leute das doch eigentlich sehr gelassen hingenommen.“ Er spielte auf die verhältnismäßig günstigen Umfragezahlen an, die („... mit Adenauer einverstanden oder nicht einverstanden“) zur Zeit der Berlin-Wahlen ermittelt worden waren.

Das habe sich, so sagte ich, inzwischen leider beträchtlich geändert. Ich zeigte ihm die Tabelle mit den letzten Werten für die Partei: 46 Prozent für die CDU/CSU, 44 Prozent für die SPD.

„Donnerwetter“, sagte er, „da hat sich die SPD ja wieder mächtig nach vorn geschoben. Ich will Ihnen mal was sagen, das liegt nur daran, daß bei uns zuviel geredet und zu wenig getan wird.“

Die Stimmung im Land, die Adenauers Rücktritt als Bundeskanzler forderte, war bis zum Dezember 1962 übermächtig geworden. Allerdings: Er war in dieser Hinsicht viel gewohnt. 1956, vor dem großen Wahlsieg des Jahres 1957, wurde die Frage gestellt: „Im Herbst 1957 wird der Bundestag neu gewählt. Würden Sie es für gut halten, wenn Adenauer noch einmal für vier Jahre Bundeskanzler bleiben würde, oder hielten Sie es für besser, wenn ein anderer Mann an die Spitze der Regierung käme?“ 44 Prozent antworteten „besser ein anderer Bundeskanzler“, 34 Prozent: „Adenauer soll bleiben“. Als er nach der Bundestagswahl von 1961 abermals Bundeskanzler geworden war, steigerte sich die Ungeduld der Politiker, der Journalisten, der Bevölkerung unerträglich. „Was meinen Sie - sollte Adenauer sein Amt als Bundeskanzler bald abgeben, oder sollte er noch möglichst lange Bundeskanzler bleiben?“ lautete eine Allensbacher Frage, die im Februar/März 1962 zum ersten Mal und im Dezember zum zweiten Mal gestellt wurde. Beim ersten Mal erklärten 59 Prozent, beim zweiten Mal 67 Prozent, Adenauer solle sein Amt bald abgeben. Nur 17 Prozent hielten im Frühjahr und 13 Prozent am Jahresende dagegen, „er soll noch möglichst lange Bundeskanzler bleiben“. Bei den CDU/CSU-Wählern war die Einstellung kaum anders: 52 Prozent forderten im Dezember 1963 „er soll das Amt abgeben“, 29 Prozent wollten, daß er noch bleibe. Und dennoch hätte Adenauer nicht nachgegeben, wenn Erhard nicht im Dezember 1962 eine feste Terminangabe verlangt und andernfalls seinen Austritt aus dem Kabinett angedroht hätte.

„Neulich mußte ich mal in Bonn zum Ohrenarzt, zum ... - das ist eine Autorität auf dem Gebiet. Als er mich untersuchen sollte, hat er mir nur in die Augen gesehen. Ich sagte zu ihm, warum sehen Sie mir in die Augen, Sie sollten mir lieber in die Ohren sehen. Da antwortete er, Herr Bundeskanzler, ich muß immer in Ihre Augen sehen, weil ich es noch nicht erlebt habe, daß ein Mann von 60 oder 70 noch so schnell mit den Augen reagiert hat wie Sie. Die Verkalkung - hat er dann erklärt - fängt nämlich bei den Augen an, und da sei bei mir noch nichts ...“

Man kann nicht über Konrad Adenauer und die Öffentliche Meinung berichten, ohne vom Alter zu sprechen. Als Adenauer im Herbst 1955 erkrankte, wurde gefragt: „In ungefähr zwei Jahren sind die nächsten Bundestagswahlen. Glauben Sie, Adenauer wird sich so gut erholen, daß er noch einmal Bundeskanzler werden kann?“ „Nein, glaube ich nicht“, antworteten 43 Prozent, „ja, glaube ich“ 25 Prozent. - „Glauben Sie, daß es besser wäre, wenn ein jüngerer Mann als Adenauer an die Spitze der Regierung käme?“ „Ja“ sagte die widerspenstige Bevölkerung zu 45 Prozent, „nein“ zu 31 Prozent.

Der Einwand „Adenauer ist zu alt“, schon 1951 am dritten Platz mit 12 Prozent der Stimmen, stieg auf 27 Prozent 1956 und rückte bis zum Mai 1959 mit 44 Prozent weit vor allen anderen Einwänden auf den ersten Platz.

Adenauer war gewohnt, gegen die öffentliche Meinung zu regieren, vielleicht trug die Unmöglichkeit, an dem Einwand gegen sein Alter etwas zu ändern, dazu bei.

Gegen die Demoskopie wird bis heute eingewendet, sie verführe den Politiker, opportunistisch nach der Mehrheit zu handeln statt nach eigenem Urteil. Adenauer hat für einen solchen törichten Umgang mit Demoskopie sicher keine Anhaltspunkte geliefert. Mit vollem Bewußtsein ging er in die Konfrontation mit der öffentlichen Meinung in der Frage der Wiederbewaffnung. Von 1950 an überschattete diese Frage das Verhältnis zwischen Kanzler und Bevölkerung - ganz anders als 25 Jahre später, als Bundeskanzler Brandt bei seiner Wendung in der Ostpolitik die volle Kraft der veröffentlichten und öffentlichen Meinung hinter sich hatte. Der erste Bericht über den Widerstand erreichte die Bundesregierung im Dezember 1950. Das Projekt „Aufbau einer selbständigen deutschen Armee“ wurde ebenso abgelehnt - nach der November-Umfrage waren 30 Prozent dafür, 50 Prozent dagegen - wie die Teilnahme deutscher Truppen an einer westeuropäischen Armee; 22 Prozent dafür, 45 Prozent dagegen.

Trotzig trat der Antimilitarismus hervor bei der Frage: „Wenn jemand sich im Kriegsfall weigert, als Soldat an die Front zu gehen, was würden Sie dazu sagen?“ „Das würde ich billigen“, erklärten 49 Prozent, „nicht billigen“ 30 Prozent. Zugleich war sich die Bevölkerung völlig einig, in dieser Sache könne nicht über ihre Meinung hinweggegangen werden. „Wer soll über die Wiederbewaffnung Deutschlands entscheiden?“ lautete eine Frage im November 1950. Es antworteten: „Der Bundestag“ 5 Prozent, „die Bundesregierung“ 6 Prozent, „eine Volksabstimmung“ 77 Prozent, 12 Prozent blieben unentschieden. Wahrscheinlich geht das negative Stereotyp, das Adenauer anhaftete, „eigensinnig“ - unter allen negativen Attributen von 1956 bis 1959 am häufigsten, nämlich jeweils von rund einem Drittel genannt und noch verstärkt durch die am zweiten und dritten Platz der Negativliste rangierenden Eigenschaften „unnachgiebig“ und „herrschsüchtig“ - auf diesen Konflikt zwischen Meinung und Empfindung der Bevölkerung und beharrlich verfolgter Politik des Kanzlers zurück. Bis zur Einführung der Wehrpflicht 1956 blieb die Bevölkerung gespalten, etwa zwei Fünftel befürworteten die Wiederbewaffnung, etwa zwei Fünftel lehnten sie ab (Eine Frage lautete im Oktober 1956: „Was ist in der heutigen Lage für Deutschland das beste: schnell unsere Bundeswehr aufzubauen, oder ist es besser, keine Armee zu haben?“ 42 Prozent erklärten sich für den schnellen Aufbau der Bundeswehr, 39 Prozent dagegen). Ähnlich hat nur Ludwig Erhard das Konzept der sozialen Marktwirtschaft gegen die Bevölkerung durchsetzen müssen.

Das Bild Adenauers, wie es sich nach Bevölkerungsumfragen der fünfziger Jahre abzeichnete, war hart. Klug, diplomatisch, ausdauernd, fromm - das waren die Züge, die am meisten, etwa von der Hälfte der Bevölkerung, genannt wurden. Nicht: sympathisch (nur 27 Prozent 1956, 22 Prozent 1959), nicht: aufrichtig (13 Prozent 1956, 10 Prozent 1959). „Gütig“, „genial“ waren unter 17 zur Auswahl gestellten positiven Eigenschaften die zwei, die am wenigsten genannt wurden. Gemildert wurde das Bild durch die Vorstellung, Adenauer habe Humor, und er züchte Rosen - auf eine andere Frage: was Adenauer in seiner Freizeit tue, am häufigsten genannt, von 29 Prozent.

Es gab eigentümliche Erfolge Adenauers in der öffentlichen Meinung, so wenn ihm die Rückkehr der Saar als sein eigentliches Werk gutgeschrieben wurde. Und es gab ernstliche Niederlagen, zum Beispiel den Streit um das Zweite Fernsehen 1960 oder als Adenauer 1959 erst Bundespräsident werden und dann lieber Bundeskanzler bleiben wollte. Mit relativer, aber beträchtlicher Mehrheit von 43 Prozent zu 18 Prozent fand die Bevölkerung das Taktieren Adenauers im Fernsehstreit ungeschickt und ärgerte sich, weil sie sich mit großer Mehrheit (56 Prozent) ein zweites Fernsehprogramm wünschte; nur 21 Prozent meinten, ein Programm genüge. Es dauerte auch lange, bis die Verstimmung wegen des Hin und Her in der Sache der Kandidatur zum Bundespräsidenten überwunden war. „Spricht es Ihrer Meinung nach für oder gegen Adenauer, daß er seinen Entschluß geändert hat?“ lautete eine Frage im Juni 1959. „Spricht gegen ihn“, erklärten 46 Prozent, kaum jemand (14 Prozent) war bereit, ihn zu verteidigen: „spricht für ihn“. 40 Prozent (mit 29 Prozent Gegenstimmen) forderten, die CDU hätte bei dieser Gelegenheit Adenauer stürzen sollen.

Der Mißmut, der sich so oft in der Bevölkerung gegen „den Alten“ sammelte, hat den Gegnern nichts genutzt. Jedesmal, wenn eine Bundestagswahl anstand, kam eine Adenauer- und CDU/CSU-Konjunktur in Gang. So war es 1953, 1957, 1961. 1952 hörte er aufmerksam zu, als ihm aufgrund von Allensbacher Zahlen ein bestimmter Zusammenhang gezeigt wurde: „Glauben Sie, daß die Preise im nächsten Vierteljahr im Großen und Ganzen gleich bleiben, oder daß sie steigen oder fallen werden?“ lautete die Schlüsselfrage. Mit ansteigender Furcht vor Preissteigerungen gab es immer mehr Stimmen für die SPD, weniger Stimmen für „mit Adenauer einverstanden“.

1953 und wahrscheinlich auch in späteren Wahljahren versuchte er die Wirtschaft zum Stillhalten bei den Preisen zu bewegen, 1957 kamen im Frühjahr die Rentennachzahlungen auf der Grundlage der Rentenreform. Als im August 1961 der Aufschwung der CDU/CSU jäh durch den Berliner Mauerbau unterbrochen wurde, ließ er durch Allensbacher Blitz-Umfragen wöchentlich die Stimmung erkunden, baute das Wahlkampfkonzept für die letzten Wochen um und erreichte eine erstaunlich rasche, wenn auch nicht vollständige Rückkehr zu den vorher gemessenen CDU/CSU-Werten. Es bildete sich die Legende, die CDU/CSU sei unschlagbar, der hohe Stimmenanteil, den die SPD immer wieder zwischen den Wahljahren erreichte, sei praktisch wertlos.

Manchmal rügte Adenauer die Demoskopie, zum Beispiel den pessimistischen Ton eines Berichts vom August 1956, also ein Jahr vor dem Triumph der absoluten Mehrheit von 1957:

„lch muß allerdings gestehen, daß Sie den Ton hier und da etwas hätten mildern können, denn so schlecht ist nach meiner Meinung die Sache doch nicht, vorausgesetzt natürlich, daß wir arbeiten. Vielleicht weisen Sie auch einmal darauf hin, daß offenbar die Ungewißheit der ganzen außenpolitischen Situation das Urteil stark beeinflußt.“ (Brief von Bundeskanzler Adenauer an Erich Peter Neumann, datiert Bühler Höhe vom 28.8.1956.)

Und er kritisierte die Fragetechnik:

„Warum unterscheiden Sie in Ihren Fragen nach ‚unentschieden‘ und ,weiß nicht‘? Warum streichen Sie nicht das ‚unentschieden‘ und sagen einfach ‚weiß nicht‘? Tatsächlich ist es doch dasselbe. Ich bin der Auffassung, je weniger Fragen“ (gemeint sind offenbar Antwortvorgaben), „desto klarer ist das Ergebnis“ (Bühler Höhe am 20. August 1956).

Nach einer ausführlichen Entgegnung Neumanns antwortet Adenauer:

„Ihr Brief vom 25. August hat mich nicht völlig überzeugt. Ich bin der Auffassung, daß man ein umso klareres Bild über die Meinung zu einer bestimmten Angelegenheit bekommt, je weniger Fragen man dem Befragten stellt. Wenn man ihm viele Fragen stellt und insbesondere, wenn man ihm Fragen so unbestimmten Charakters stellt, wie Sie es bei Frage“ (gemeint ist Antwortvorgabe) „3 und 4 tun, ermöglicht man ihm, einer Stellungnahme auszuweichen. Vielleicht versuchen Sie einmal, wie weit Sie mit drei Fragen kommen“ (Bühler Höhe am 27. August 1956).

Am 8. und 9. März 1957 bedankt er sich aus Cadenabbia für einen Bericht über die Zusammensetzung der Wählerschaft der verschiedenen Parteien, verlangt Auskunft, wie bestimmte statistische Kategorien abgegrenzt seien und fügt handschriftlich hinzu:

„Es ist sehr schade, daß die Entwicklungen der letzten Monate nicht berücksichtigt werden konnten. Ist vielleicht ein Nachtrag möglich?“ (Cadenabbia am 8. März 1957).

Ein halbes Jahr später kam der Triumph der absoluten Mehrheit. Adenauer an E. P. Neumann:

„Ein so gutes Wahlergebnis hätte weder allein durch unsere Politik während der letzten Jahre, noch allein durch unsere Werbung während des Wahlkampfes erreicht werden können. Vielmehr gehören eine gute Politik und eine geschickte Werbung untrennbar zusammen“ (Bonn am 28. September 1957).

Damals hat er einmal übermütig gesagt:

„Ich verstehe die Leute nicht. Erst sind alle gegen mich und dann sind sie alle für mich und dabei mache ich immer die gleiche Politik.“

Wann hat es angefangen, daß die Bevölkerung in Adenauer den großen Staatsmann sah? Wann begann sich der Nimbus zu bilden? Es läßt sich ziemlich genau datieren: 1956. Wir folgen der Aufzeichnung des Gesprächs von Cadenabbia vom 29. März 1963.

„Ich will Ihnen, Herr Bundeskanzler, eine Geschichte erzählen. Anfang 1950 bekam das Institut für Demoskopie einen Auftrag von einer Illustrierten in München - der Revue. Sie kennen Herrn Kindler. Er hat ja auch eine Biographie über Sie herausgebracht. Herr Kindler wollte damals ein Preisausschreiben über die populärsten historischen Persönlichkeiten der ‚nahen Geschichte‘ machen. Wir sollten für seine Zeitschrift herausfinden, wer denn nun wirklich von der öffentlichen Meinung ‚anerkannt‘ würde. Wir machten es. Wir stellten damals die Frage: ‚Welcher große Deutsche hat Ihrer Meinung nach am meisten für Deutschland geleistet?‘ Damals, das muß man sich vorstellen, konnte niemand wissen, was dabei herauskommen würde - Hitler oder Goethe. Was herauskam, ist inzwischen immer wiederholt worden: an der Spitze lag Bismarck.“

Der Alte hörte sehr genau zu.

„Und dann das wichtigste: Der Name Adenauer kam so gut wie überhaupt nicht vor. Es gab ein paar Einzelangaben. Wie hätte es auch anders sein können.“

Adenauer nickte.

„lm Laufe der folgenden Jahre, und Sie kennen das, Herr Bundeskanzler, hat sich das Bild entscheidend verändert. Immer steiler stieg in der Kurve der Name Adenauers empor, Hitler verschwamm und Bismarck verlor. Wenn ich mich recht erinnere, war es schon 1957 - aber man kann das ja nachschlagen -, daß mehr Menschen in der Bundesrepublik Sie, Herr Dr. Adenauer, als ‚großen Deutschen‘ bezeichneten, ich würde sagen, mehr Leute nannten Adenauer als Bismarck.“

Er hörte weiter zu, nickte, sah auf den Comer See.

1956 nannten 24 Prozent Adenauer, 27 Prozent Bismarck, 1958 26 Prozent Adenauer, 23 Prozent Bismarck - Adenauer hatte die Spitze erreicht, die er seitdem gehalten hat. Im Jahr vor seinem Tod, 1966, bezeichneten ihn 44 Prozent als „großen Deutschen, der am meisten für Deutschland geleistet hat“, 13 Prozent nannten Bismarck.

Noch die Umfrage wenige Wochen nach seinem Tode, im Mai 1967 - 70 Prozent sahen die Trauerfeierlichkeiten im Fernsehen -, verrät, was für die Bevölkerung das entscheidende Adenauer-Erlebnis gewesen ist. Die Moskau-Reise 1955, die damals erreichte Heimführung der deutschen Kriegsgefangenen aus Rußland. Die Frage, die im Mai 1967 Bilanz zog, lautete: „Adenauer war ja von 1949 bis 1963 Bundeskanzler. Was sind Ihrer Ansicht nach Adenauers größte Verdienste?“ An der Spitze, von 75 Prozent genannt, erschien: „die Heimführung der deutschen Kriegsgefangenen aus Rußland“. Am zweiten Platz: „die Aussöhnung und Freundschaft mit Frankreich (70 Prozent), am dritten Platz: „daß er Deutschland wieder zu Ansehen und Geltung in der Welt verholfen hat“ (65 Prozent). So viel Zustimmung wie nach der Moskau-Reise - 59 Prozent „mit Adenauer einverstanden“ - fand er erst wieder - 60 Prozent - im Monat seines Rücktritts, Oktober 1963.

Eine der drei Sekretärinnen, die in der Villa Collina arbeiten, kam vom Wohnhaus herüber und schwenkte ein Blatt Papier in der Hand. Sie gab es dem Kanzler.

„ln einer halben Stunde“, sagte er. „Und hat Herr Globke geantwortet?“

„Ja“, sagte sie.

„Nu, mal ganz ehrlich, Herr Neumann“, nahm er das Gespräch wieder auf, „wie sehen Sie denn die Nachfolge-Frage?“

Die Schlüsselfrage: „Angenommen, es müßte neu entschieden werden, wer Bundeskanzler werden soll, und es gäbe nur zwei Möglichkeiten: Adenauer oder Erhard, wer wäre Ihnen da lieber als Bundeskanzler?“ wurde schon 1960 mit einer Mehrheit für Erhard (31 Prozent gegen 25 Prozent Adenauer) beantwortet. Bis Februar 1962 wuchs der Vorsprung von Erhard auf 50 Prozent gegen 19 Prozent für Adenauer. Bei der Frage: Adenauer oder Willy Brandt, lag Brandt schon im Februar 1960 mit 40 Prozent vor Adenauer mit 30 Prozent.

„Und nun“, so fuhr er fort, „möchte ich Ihnen einmal erklären, weshalb ich den Herrn Erhard nicht als meinen Nachfolger sehen möchte. Viele Gründe sind ja bekannt. Aber ich möchte noch eines hinzufügen. Die CDU ist eine Volkspartei. Und eine Volkspartei darf nicht von einem Mann aus der Wirtschaft geführt werden. Das schadet. Passen Sie auf, das ist so. Die Leute sind gegenüber der Wirtschaft mißtrauisch und sagen, wenn der Bundeskanzler aus der Wirtschaft kommt, da kommen die Interessengruppen gleich mit. Die Leute und auch die Presse vor allem - die denken immer, ich ließe mich da von Antipathien leiten. Das ist gar nicht so.“

Wieder erschien die Sekretärin. Sie brachte ein Fernschreiben. Er las es. „Gut“, sagte er, „wir kommen schon. Sie kommen doch mit. Ich spiele mittags immer Boccia. Da kann man sich etwas Bewegung machen - sonst komme ich zu wenig dazu.“

Er war aufgestanden. Wir gingen zum Haus zurück.

„Na, wo sind die Damen?“

Zwei Sekretärinnen kamen heraus.

„Den Mantel müssen Sie aber hier lassen“, sagte er zu mir.

Wir lachten. Ich zog den Paletot ans.

Wir liefen bergab, den langen Weg zum Hügel hinunter ... Wir kamen am Fuße des Hügels an. Die Carabinieri bewachten auch den hinteren Ausgang der Villa. Wir gingen durch ein größeres Tor, gegenüber lag der Boccia-Platz.

Die Sonne verschwand jetzt manchmal hinter Wolken.

„Also, wie spielen wir?“ fragte der Alte.

Die beiden Sekretärinnen kicherten. Der Kanzler nahm eine rote Kugel. „Also, ich nehme rot. Ich werde zusammen mit dem Herrn Neumann gegen Sie spielen.“ 

Quelle: Konrad Adenauer 1876-1976. Hg. von Helmut Kohl in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Stuttgart-Zürich 1976, S. 147-155.