1976

Helmut Kohl: Konrad Adenauer - Erbe und Auftrag

Die Ära Adenauer hat gewichtige Eindrücke im Bewußtsein unseres Volkes hinterlassen. Für die meisten Bürger bedeutet sie eine unmittelbar erlebte Erfahrungswelt mit mannigfachen individuellen Erlebnissen. Insofern ist diese Epoche deutscher Nachkriegspolitik noch vielen gegenwärtig, und die Interpretation der Ereignisse jener Zeit noch im Fluß.

Dies erklärt sogleich aber auch, daß das Bild vieler Zeitgenossen von der Ära Adenauers noch häufig von punktuellen Erfahrungen und Eindrücken geprägt ist. Sie verstellen vielfach noch immer den Blick für die zentralen Konturen jener Epoche. Sie erschweren die Vermittlung jener Eindeutigkeit, die diese Ära als Ganzes charakterisiert.

Im Bewußtsein vieler gewinnt Adenauer Gestalt in der Erinnerung an einzelne Ereignisse und Geschehnisse. Diese Erinnerungen sind lebendig und wirken noch immer und oft sehr unmittelbar in die aktuelle Politik hinein.

Die Vorstellungen über die Epoche als Ganzes dagegen sind vielfach blaß und vielfältig schillernd; die Ära Adenauers scheint im Bewußtsein der Deutschen bereits weit zurückzuliegen, ein abgeschlossener Teil der Geschichte zu sein.

Diese Distanz, ja Entfremdung zwischen politischer Gegenwart und jüngster Geschichte hat mehrere Ursachen: sie sind allgemeiner und besonderer Natur. Eine dieser Ursachen sehe ich in dem befangenen Verhältnis vieler Deutschen zu ihrer Geschichte. Geschichte als erlebte Vergangenheit und gemeinsame Erfahrung zu betrachten, zu der man sich bekennt, mit der man sich identifiziert, die man annimmt: als Erbe und Auftrag, bald in kritischer Distanz, bald mit Respekt vor den Leistungen unserer Vorfahren, immer aber mit natürlichem, jedem Nationalismus abholden Patriotismus. Dies fällt den Deutschen schwer, und es gibt dafür ja auch gute Gründe.

In dieser Not liegt es nahe, sich mit einem selektiven Geschichtsverständnis zu behelfen: einige Epochen der eigenen Geschichte zu verdrängen, andere dafür zu verabsolutieren. Dieses Bemühen gleicht dem erfolglosen Versuch, aus der Geschichte partiell auszusteigen: Die Geschichte wird fragmentiert, in Abschnitte und Kapitel gegliedert, deren man sich dann und wann, aus gegebenem Anlaß, feierlich zwar, aber mehr mit Verlegenheit denn Stolz erinnert, um diese Phase danach wieder abzulegen und sich der Gegenwart mit allen ihren bedrängenden Problemen zuzuwenden: ohne Zukunftsperspektive wie auch ohne historische Dimension.

Zu diesen allgemeinen treten besondere Gründe. Das Ende der Kanzlerschaft Adenauers markiert das Ende der Nachkriegszeit in einem, wie sich bald zeigen sollte, viel grundsätzlicheren, ja radikaleren Sinne, als man es sich damals, in der Mitte der 60er Jahre, vorstellen konnte. Konrad Adenauer hatte wesentliche Ziele seines politischen Werkes erreicht: der demokratische und soziale Rechtsstaat hatte in Deutschland eine neue und dauerhafte Heimat gefunden: die Soziale Marktwirtschaft war als freiheitliche und soziale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung anerkannt; das wirtschaftliche Wachstum ermöglichte individuellen Wohlstand und soziale Sicherheit; die internationale Anerkennung und außenpolitische Integration des freien Teils Deutschlands war abgeschlossen; die Koordinaten des internationalen Systems waren klar und einfach, eindeutig und einprägsam.

Diese Ziele waren erreicht, die elementaren Bedürfnisse der Nachkriegszeit befriedigt, die Grundlagen unseres Gemeinwesens schienen sicher. Der Erfolg der Adenauerschen Politik wurde als selbstverständlich erlebt; deren Voraussetzungen entschwanden dem Bewußtsein; die Frage nach der Legitimation unserer demokratischen Ordnung beantwortete sich durch die historische Nähe der nationalsozialistischen Zeit wie durch die räumliche Nähe der DDR von selbst - soweit solch „theoretische“ Fragen nicht ohnehin durch die Nöte des Alltags zugeschüttet waren.

Die Veränderungen nach Adenauer, deren Zeuge wir wurden, spielten sich nicht nur an der politischen Oberfläche ab, erkennbar an Kanzler- und Regierungswechseln. Sie ereigneten sich in tieferen Schichten unseres politischen Bewußtseins und Selbstverständnisses. Die studentische Protestbewegung offenbarte Ansätze einer Legitimationskrise unserer politischen Ordnung. Wir leben heute in einer anderen politischen und gesellschaftlichen Welt als zu Zeiten von Konrad Adenauer.

Ein dritter Grund schließlich, der uns Adenauer bereits als historische Größe erscheinen läßt, verweist direkt auf die prägende und dauerhafte Wirkung des ersten deutschen Bundeskanzlers. Konrad Adenauer hat in den 50er Jahren die Institutionen unseres Staates geprägt und die Verfassungswirklichkeit in einer Weise geformt, die, wie wir heute wissen, auch die Umbrüche späterer Jahre überdauert hat. Die Geschichte kennt nur wenige Beispiele dafür, daß der Wiederaufstieg eines Landes nach einem totalen Zusammenbruch mit dem Namen eines Staatsmannes so sehr verbunden ist wie das Schicksal der Bundesrepublik Deutschland mit dem Namen Konrad Adenauer. Das Gesicht unseres Staates und unserer Gesellschaft trägt noch heute die Züge seiner Politik. Was von der Ära Adenauer als Erbe und Ergebnis seiner Politik geblieben ist, ist uns zur politischen Natur und Kultur geworden, die uns umgibt und prägt, in der wir leben, ohne uns ihrer Eigenart bewußt zu sein. Die Leistung eines demokratischen Staatsmannes läßt sich nicht an den Huldigungen ablesen, die ihm auf der Höhe seiner Macht zuteil werden und - wir haben es erlebt - oft schon nach wenigen Jahren fremd und unwirklich anmuten; sie zeigt sich vielmehr darin, daß wir seine Erfolge auf Dauer gar nicht mehr bewußt mit seinem Namen verbinden.

In der Zeit Konrad Adenauers haben sich die Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland nach innen und außen stabilisiert. Die Legitimität ihrer staatlichen Ordnung, die Freiheit ihrer Gesellschaft und die Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaft schienen verbürgt. Erst im Rückblick zeigt sich, wie vordergründig diese Sicherheit der 50er und frühen 60er Jahre war. Die studentische Protestbewegung offenbarte nicht eine Stärke neomarxistischer Argumente, sondern eine Schwäche des politischen „Establishments“ - jener, die in Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft Verantwortung trugen. Sie offenbarte auch, daß wir uns der geistigen Grundlagen unserer Ordnung so sicher nicht sind, vor allem aber, daß wir deren Überlegenheit nicht überzeugend genug zu vertreten wußten. Trotzdem: von einer eigentlichen Krise blieb die Bundesrepublik Deutschland bisher verschont. Die staatlichen, ökonomischen und außenpolitischen Verstrebungen deutscher Stabilität haben sich als stärker und dauerhafter erwiesen.

In Zeiten einer inneren oder äußeren Krise könnte es sich freilich zeigen, daß diese für viele selbstverständliche Sicherheit nur vordergründig ist, daß die Grundlagen unseres Gemeinwesens brüchig zu werden beginnen. Ein freier Staat hat auf Dauer nur Bestand, wenn er sich in ruhigen Zeiten der Grundlagen seiner Stärke vergewissert und in Zeiten der Krise Geschlossenheit des Handelns mit republikanisch-selbstbewußter Gelassenheit verbindet. Die Besinnung auf Konrad Adenauer, soll sie mehr sein als eine bloße Erinnerung an ihn oder sentimentale Verklärung der Gründerjahre dieser Republik, kann und muß den Deutschen das Selbstverständliche, das Bleibende, die Grundlagen unserer Ordnung wieder bewußt machen - um der Zukunft der deutschen Demokratie willen.

Die Besinnung auf Konrad Adenauer dient deshalb nicht alleine seiner historischen Würdigung - seine Verdienste sind ohnehin unbestritten. Es geht hier auch nicht um eine Nachzeichnung seines persönlichen oder politischen Lebensweges - das haben andere getan. Nicht das damals Aktuelle, sondern das für die Zukunft Bleibende ins Gedächtnis zurückzurufen, ist unsere politische Aufgabe. Dem Erbe Adenauers wird nur gerecht, wer es als Auftrag begreift.

Die Ära Adenauer ist eine Epoche deutscher Geschichte - gewiß. Geschichte jedoch ist für den einzelnen wie für ein Volk immer mehr als bloße Vergangenheit. Gerade moderne Gesellschaften zeichnen sich durch ihre Zukunftsorientiertheit aus. Sie nehmen ihre Zukunft nicht einfach als Schicksal hin, sehen in ihr mehr als eine bloße Verlängerung gegenwärtiger Tendenzen. Wer heute eine aktive und nicht nur eine reaktive, den Krisen und Problemen nachlaufende Politik betreiben will, muß seine Entscheidungen im Lichte der Zukunft treffen. Gegenwart ist offene Zukunft - aber auch geronnene Geschichte. Eine aktive Einstellung zur Zukunft des eigenen Volkes setzt ein aktives Verhältnis zur eigenen Geschichte voraus. Die Zukunft kann nicht gewinnen, wer seine eigene Geschichte aus dem Gedächtnis verloren hat.

Geschichte beeinflußt Gegenwart und Zukunft: sie eröffnet Alternativen, verschüttet Möglichkeiten, schließt ein Volk über Gegensätze hinweg zusammen oder reißt neue Gegensätze auf. Ob der politische Streit, ob gesellschaftliche Konflikte eine Gesellschaft polarisieren oder integrieren, hängt davon ab, ob die streitenden Parteien bei allen Gegensätzen noch aus einer gemeinsamen Geschichte leben und für eine gemeinsame Zukunft arbeiten. Die Kontinuität der Geschichte und der Generationen, der Staat als „eine Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der Kommenden“ (E. Burke) ist Grundlage für eine politische Kultur des Friedens und der Freiheit, nach innen wie nach außen.

Menschen und Völker gewinnen ihre Identität nur in historischer Kontinuität. Den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft sind sie nur gewachsen, wenn sie ihre eigene Geschichte weder verleugnen noch passiv hinnehmen oder einfach in die Zukunft hinein verlängern, sondern sich mit ihr aktiv, wenn nötig kritisch auseinandersetzen. Jede Generation schreibt ihre eigene Geschichte, muß sie sich neu zu eigen machen.

Politik ohne Geschichte ist wurzel- und ziellos, ohne Grund und ohne Perspektive. Wer politisch die Zukunft gestaltet, muß aus der geschichtlichen Erfahrung leben, ohne bei ihr stehenzubleiben. Tradition heißt nicht, die Asche bewahren, sondern das Feuer hüten.

Die Ära Adenauer als Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, jene Phase des Übergangs, des erstrebten Aufbruchs zu neuen Ufern brachte Parteien in die Regierung, die sich als Ausdruck jener Grundstimmung verstanden und diese zugleich bewußt verstärkten. Es mag psychologisch verständlich sein, daß nach 20 Jahren Opposition der erste sozialdemokratische Bundeskanzler die Zäsur besonders markant zeichnete: der Kontinuität des jungen Staates Bundesrepublik Deutschland wie der Integration seiner Gesellschaft war dies gewiß nicht förderlich. Die Versöhnung alter Gegensätze, deren Zeichen die Große Koalition hätte sein können, wurde in den folgenden Jahren durch eine neue Polarisierung verhindert.

Zum anderen lag es aber auch offensichtlich im Interesse der Regierung Brandt, die Ära Adenauers als eine abgeschlossene Epoche zu betrachten und darzustellen. Das brachte der SPD/FDP-Regierung verschiedene Vorteile:

- Sie konnte den eigentlichen Beginn der Bundesrepublik Deutschland auf ihren Regierungsantritt datieren. Brandts Pathos: „Wir fangen erst richtig an“ setzte seine Regierung nicht nur radikal und konsequent von der Vergangenheit ab, es erklärte die Ära Adenauers unausgesprochen, aber wirksam zur Vor- und Frühgeschichte. Jetzt erst, mit der sich sozialliberal nennenden Koalition, sollte die Fülle der Zeiten beginnen, sollten die Verheißungen des Grundgesetzes politische Wirklichkeit werden.

- Auf diese Weise konnte sie die Ära Adenauer als eine in sich abgeschlossene, eben „historische“ Epoche würdigen,

- ohne sich mit den Prinzipien der Adenauer'schen Politik auseinandersetzen, sie anerkennen oder sich ausdrücklich von ihnen distanzieren zu müssen;

- ohne sich an Konrad Adenauer und seinen Erfolgen messen lassen zu müssen.

Es geht mir hier weniger um die persönlichen Absichten des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers und mehr um die Wirkungen seiner Worte, Taten und Einstellungen: Das Selbstverständnis der Regierung Brandt hat im Ergebnis die Langzeitwirkung der Politik Konrad Adenauers - ob gewollt oder nicht - zu unterlaufen versucht. Er leistete damit einer zeitgeschichtlichen Bewußtseinslage der Deutschen Vorschub, die es ihm überhaupt erst ermöglichte, Konrad Adenauer selbst zum Zeugen seiner Außen-, insbesondere Ostpolitik anzurufen, einer Politik, die Konrad Adenauer so weder eingeleitet, noch durchgeführt, noch abgeschlossen hätte. In jenen Jahren der leidenschaftlichen Auseinandersetzung um die Ostpolitik versuchten jene, die sie erdacht, gewollt und durchgeführt hatten, immer wieder, mit dem Nachweis der außenpolitischen Kontinuität sich auch die Zustimmung der politischen Gegner zu dieser Politik zu erschleichen. Konrad Adenauer wurde zum Kronzeugen der „neuen“ Ostpolitik der SPD/FDP-Regierung. Das Argument war denkbar einfach, es schien vordergründig plausibel: was Konrad Adenauer nach Westen getan, tut Willy Brandt nun nach Osten. Adenauer und Brandt: beide verfolgen sie die gleichen Ziele, sind sie motiviert durch die gleichen Prinzipien: Willy Brandts Ostpolitik als sinnvolle, ja notwendige Ergänzung der Westpolitik Konrad Adenauers, die dieser in den 60er Jahren nicht mehr hatte verwirklichen können. Dieses Selbstverständnis vermochte beides zu leisten: Abgrenzung und Kontinuität.

Diese Argumentation enthält gewiß einen wahren Kern. Sie verkennt jedoch das Grundgesetz der Adenauer'schen Außenpolitik. Sie ist halb richtig - und deshalb ganz falsch.

Zweifellos war Konrad Adenauer in seiner Außenpolitik beweglicher, als viele es damals wie heute wahrhaben wollen. Auch aus neueren Dokumenten wissen wir, daß er eine aktive Ostpolitik betrieb. Diese Beweglichkeit der Adenauer'schen Außenpolitik, seine Bereitschaft zur Entspannung mit Osteuropa dokumentierte sich beispielsweise in den sogenannten Globke-Plänen von 1959/60. Adenauers Ostpolitik war alles andere als phantasielos. Sie war Bestandteil seiner gesamten Außenpolitik. Diese verfolgte kein starres Konzept, sie enthielt immer mehrere Möglichkeiten, die er den wechselnden Ereignissen anzupassen verstand.

Daß diese Flexibilität seiner Außen- und die Ansätze seiner Ostpolitik erst spät bekannt wurden, hängt sehr eng mit dem politischen Stil Konrad Adenauers zusammen. Der erste Bundeskanzler versprach sich durch ein geduldiges Sondieren auf diplomatischem Wege mehr Erfolg für die deutschen Interessen als durch spektakuläre Ankündigungen auf dem politischen Markte, die den Handlungsspielraum einer Regierung durch den Druck selbst erzeugter öffentlicher Erwartungen hätte einengen müssen. Adenauers Stil war geprägt durch eine seltene politische Tugend: Geduld. Der frühere britische Außen- und Premierminister Anthony Eden hat diesen beherrschenden Zug Adenauer'scher Politik erkannt: „Der Kanzler glaubt fest an Geduld und die heilsamen Kräfte der Zeit. Kein Wunder, daß die Sowjets es schwer hatten, ihn von seinen einmal gesetzten Zielen abzubringen.“ Und Eden überliefert auch, wie Adenauer nach einer Londoner Pressekonferenz das italienische Sprichwort zitiert hat: „Wer langsam geht, geht sicher und kommt weit.“ Der frühere englische Premier kennzeichnet dieses Sprichwort zu Recht als eine „offenherzige Zusammenfassung seiner Methoden.“

Brandts Ostpolitik mit Adenauers Westpolitik auf eine Stufe zu stellen, bedeutet Unvergleichbares miteinander zu vergleichen. Adenauers Westpolitik gründete auf der Gemeinsamkeit demokratischer Prinzipien und Ideale. Nur diese Gemeinsamkeit ermöglichte vertrauensvolle Zusammenarbeit der Regierungen und Integration der Staaten. Eine solche Gemeinsamkeit besteht zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR oder der Sowjetunion nicht. Bei den totalitären kommunistischen Staaten handelte und handelt es sich auch nicht um Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, wie eine leichtfertige, im östlichen Sprachgebrauch entstandene, im Zuge der Entspannungspolitik bei uns leider üblich gewordene politische Phrase meint, sondern um Staaten, deren Ordnungs- und Gestaltungsprinzipien nicht nur unvereinbar mit, sondern gegensätzlich zu den unseren sind. Diesen fundamentalen Sachverhalt hat Konrad Adenauer zu keinem Zeitpunkt außer acht gelassen. Er nannte kommunistische Staaten „kommunistisch“ - und nicht verharmlosend „sozialistisch“, eine Unterscheidung, an der festzuhalten gerade demokratische Sozialisten in eigenem Interesse allen Grund hätten.

Adenauers Außenpolitik diente dem Ziel, die Stabilität der Demokratie im Innern zu gewährleisten. Von Anfang an hat er erkannt, daß die Stabilisierung der Demokratie in Deutschland aufgrund der geopolitischen Lage, wie aufgrund der deutschen Tradition nur im Bunde freier Völker, das aber heißt: durch eine enge Westbindung möglich ist. Adenauers Außenpolitik verband Sicherheit in den Grundsätzen und Festigkeit in der Zielsetzung mit einer Flexibilität in der Methode und einem Reichtum an Alternativen. Er legte Priorität auf Sicherung und Ausbau der Freiheit vor der Wiederherstellung der nationalen Einheit. Diese Priorität der seiner Politik zugrunde liegenden Werte hielt er während seiner gesamten Regierungszeit strikt durch: Freiheit, Frieden, Einheit.

Sozialer Ausgleich und wirtschaftliches Wachstum im Inneren wiederum waren Voraussetzung dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland international handlungsfähig blieb. Diese normativ begründete und auf die Integration freier Staaten zielende Verzahnung von Innen- und Außenpolitik war das Grundgesetz der Adenauer'schen Politik schlechthin. Mit den östlichen Staaten wollte er zu einem Abbau von Spannungen kommen, mit den westlichen Staaten konnte er zu Zusammenarbeit und Integration kommen. Zugleich war Adenauer sich stets bewußt, daß internationale Entspannung für die DDR und Sowjetunion mit einer stärkeren Abgrenzung und auch ideologischen Offensive verbunden sein würde, daß keine Entspannung etwas an dem Gegensatz politischer Prinzipien würde ändern können, daß der Kommunismus aus moralischen Gründen abzulehnen und politisch-ideologisch offensiv zu bekämpfen bleibt.

Dieser politische und moralische Realismus bewahrte Adenauer vor jener Ernüchterung, die sich jetzt, nach dem Abschluß der Ostverträge, allenthalben ausbreitet. Adenauers Antikommunismus war weder ein Produkt des „kalten Krieges“ noch Instrument der innenpolitischen Auseinandersetzung, sondern Ergebnis seiner Einsicht in die Unvereinbarkeit demokratischer und totalitärer Prinzipien.

In dieser Einschätzung realpolitischer Faktoren, die einen atmosphärischen Wandel nicht mit tatsächlicher Entspannung verwechselte, liegt der qualitative Unterschied zwischen der Westpolitik Konrad Adenauers und der Ostpolitik Willy Brandts begründet. Konrad Adenauer hätte seine Ostpolitik nicht an den eigenen Hoffnungen und an den bloßen Absichten der anderen Seite festgemacht. Eine Regierung Adenauers hatte die Ostpolitik nicht so hektisch begonnen, nicht so kurzatmig durchgeführt, vertraglich nicht so vieldeutig beendet. Er hätte die Verträge freilich auch, wären sie von einer anderen Regierung geschlossen worden, nicht nur formal beachtet im Sinne des formal-juridischen „pacta sunt servanda“, sondern sie aktiv als Instrument zur Durchsetzung deutscher Interessen eingesetzt. Mit ihrer kritischen, aber nicht vergangenheitsbewältigenden, sondern pragmatisch-zukunftsorientierten Haltung zu den Ostverträgen steht die CDU/CSU in der Tradition Konrad Adenauers.

Die Polarisierung der deutschen Politik, die mit dem Regierungsantritt Willy Brandts einsetzte und sich nicht nur, aber vor allem an dessen Ostpolitik entzündete, gründete somit in einem doppelten Sachverhalt:

- Die Priorität der Westbindung wurde tatsächlich und im Bewußtsein vieler Zeitgenossen zurückgedrängt durch euphorische Hoffnungen in die Entspannungspolitik mit dem Osten, an deren Ende ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem stehen sollte;

- Adenauers modernes Verständnis von Außenpolitik, die für ihn mehr war als nur „Außen“politik, da sie im Dienste der Verwirklichung der gleichen Prinzipien und Ideale stand wie seine Innen- und Gesellschaftspolitik, wurde unter Willy Brandt und Egon Bahr mehr und mehr abgelöst durch ein bereits überwundenes nationalstaatliches Verständnis von Außenpolitik, die sich auf intergouvernmentale Beziehungen beschränkte und ihre gesellschaftlichen Grundlagen und Konsequenzen aus den Augen verlor.

Die Folgen dieses anachronistischen Verständnisses von Außenpolitik konnten nicht ausbleiben, sie zeigten sich schnell und nachdrücklich:

- Es förderte die Renaissance des nationalstaatlichen Denkens in Europa, das den Willen zur europäischen Einigung zunehmend überlagerte;

- Mit dem Ende des „kalten Krieges“ schliff sich auch das Unterscheidungsvermögen zwischen freiheitlicher Demokratie und totalitären Systemen zusehends ab: die Toleranzbreite verschob sich nach links, das Parteiensystem franzte an seinem linken Rand aus; die SPD integrierte nicht nur Personen und Gruppen, sondern auch politische Inhalte und Programme, die in der Nachkriegszeit keine Heimat mehr in dieser Partei hatten.

Damit gerieten die außen- und innenpolitischen Koordinaten der Ära Adenauer, die seit Ende der 50er Jahre auch durch die SPD als verbindlich anerkannt waren, wieder ins Wanken. Die Opposition gegen diese Verschiebung des politischen Koordinatensystems ließ dann einige auch in der CDU/CSU vergessen, daß die Ursprünge einer Politik der Entspannung in die Zeit Konrad Adenauers fallen und mit seinem Namen verbunden sind.

Es entstand eine Polarisierung in der deutschen Politik, die so nicht nötig war. Jetzt sind die Schlachten geschlagen, die Verträge gültig, die Ergebnisse verbindlich. Es entspricht der Politik Konrad Adenauers, seinem Sinn für Realitäten, die er hinnahm, ohne sich mit ihnen abzufinden, wenn die CDU/CSU nun auf dieser neuen Grundlage eine offensive, prinzipienorientierte Außenpolitik betreibt.

Konrad Adenauers Politik gab ein überzeugendes Beispiel dafür, wie sich ein Volk zur Last und zur Kontinuität seiner Geschichte bekennen kann und muß. Die Wiedergutmachung für Israel entsprang dieser politisch-historischen Grundidee. Seine Politik zielte auf die Aussöhnung der Völker: er verwirklichte jene mit Frankreich und erstrebte die Aussöhnung im Osten, vor allem mit dem polnischen Volk: gegenüber beiden Ländern war er überzeugt davon, daß die Deutschen in besonderer Weise verpflichtet sind, Jahrhunderte alte Feindschaften zu überwinden. Die unter Adenauers Regierung begonnene Entwicklungshilfe setzte erste Zeichen internationaler Solidarität. Die Eingliederung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge war nicht nur eine innen- und sozialpolitische Leistung ersten Ranges, sie hatte auch eine außenpolitische Bedeutung: Adenauer verzichtete bewußt darauf, ein ungelöstes Flüchtlingsproblem als Mittel außenpolitischen Druckes einzusetzen.

In der Außenpolitik hat Konrad Adenauer der Bundesrepublik Deutschland in der westlichen Welt Vertrauen, Einfluß und Gleichberechtigung zurückgewonnen. Es gelang ihm, Gründe oder Vorwände der anderen für ihre Furcht vor den Deutschen gegenstandslos und unglaubwürdig zu machen, nicht zuletzt deshalb, weil seine Außenpolitik von Anfang an ein nationalistisches Verständnis deutscher Ziele und Interessen überwand. Adenauer wußte und handelte danach: unsere nationalen sind keine nationalstaatlichen Interessen. Auf diese Weise war es ihm möglich, als gleichberechtigter Partner in der Gemeinschaft freier Staaten die wohlverstandenen deutschen Interessen vorzutragen und durchzusetzen und die westlichen Verbündeten aus deren eigener Interessenlage heraus an das Schicksal eines freien Deutschlands zu binden.

Konrad Adenauer verkörperte das geläuterte Nationalbewußtsein des deutschen Volkes. Er war ein Patriot, der seinem Vaterlande dienen und dessen Interessen vertreten wollte. Gleichwohl war für ihn die Interessenidentität zwischen den Staaten der westlichen Welt grundsätzlich gewichtiger und bedeutsamer als jede Form nationaler Sonderinteressen. Diese Interessenidentität ergab sich für ihn nicht aus aktuellen Gründen der damaligen Zeit und Situation - sie war prinzipieller Natur. Konrad Adenauer verstand die Atlantische Allianz und die Europäische Gemeinschaft niemals nur als politische oder gar militärische Gemeinschaft; er definierte beide in geistig-moralischen Begriffen als eine Gemeinschaft, deren Konsens auf der Grundlage gemeinsamer Werte beruhte, ein Konsens, der allein die Gemeinschaft letztlich instand setzt, Konflikte und Meinungsverschiedenheiten immer wieder produktiv zu überwinden. Adenauer verstand es, diese Idee ebenso einfach wie nachdrücklich vorzutragen. Mit Robert Schuman und Alcide de Gasperi trug er dazu bei, die Interessengegensätze nach dem zweiten Weltkrieg zu überwinden.

Nach Adenauers Auffassung hatte Europa zwischen den großen Mächten nicht nur eine wirtschaftliche, sondern eine kulturelle, politisch-friedenssichernde Rolle zu spielen. Deshalb zielte sein Bemühen ständig darauf, die von Auflösung bedrohte Staatengemeinschaft der freien Welt zu stabilisieren und zu institutionalisieren. Diese Außenpolitik Konrad Adenauers war Voraussetzung und Konsequenz seiner Entscheidung für eine demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung im Innern. Außenpolitik war für ihn mehr als nur Außenpolitik. Ein politisch, sozial und wirtschaftlich stabiles Gemeinwesen war für ihn wiederum Bedingung für eine erfolgreiche Außenpolitik. Konrad Adenauer wußte und handelte gemäß dieser Einsicht, daß die Stabilität der Europäischen Gemeinschaft wie der Atlantischen Allianz der inneren Stabilität ihrer Mitgliedsstaaten als Voraussetzung ebenso bedarf wie diese der außenpolitischen Absicherung.

Dieses äußerst moderne Verständnis der Wechselbeziehung zwischen Innen- und Außenpolitik zog auch einen endgültigen Schlußstrich unter die unselige Dichotomie zwischen westlich-liberalem und deutsch-nationalem Verständnis von Freiheit und Demokratie. Adenauers Westintegration war ein Beitrag zur geistigen Neuorientierung von historischem Rang, ein entscheidender Schritt zur Überwindung fragwürdiger Traditionsbestände der deutschen Geschichte.

Die von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard durchgesetzte Soziale Marktwirtschaft überwand den sterilen Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus durch eine neue, in der Geschichte erstmalige Wirtschaftsordnung. Die Soziale Marktwirtschaft war die Verwirklichung einer neuen, mutigen politischen Konzeption. Sie führte nicht nur zu einem wirtschaftlichen Wachstum, das, wie sich im Rückblick zeigt, für viele in den 50er Jahren allzu sehr im Vordergrund stand, sondern vor allem zu wirtschaftlicher und politischer Freiheit und zu einer sozialen Befriedigung der deutschen Gesellschaft - zu einer Überwindung des Klassenkampfes durch soziale Partnerschaft.

Die Bundesrepublik Deutschland hat unter Konrad Adenauer mit der Sozialen Marktwirtschaft den dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus erfolgreich eingeschlagen. So blieben der Bundesrepublik Deutschland jene sozialen Spannungen erspart, die gerade in den letzten Jahren viele unserer europäischen Nachbarländer erschüttern.

Konrad Adenauer und Ludwig Erhard trafen die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft nicht aus materiell-ökonomischen - ihr Erfolg war damals durchaus offen und umstritten -, sondern aus ethisch-moralischen Gründen. Nur diese Wirtschaftsordnung verbürgte ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Zuerst die CDU/CSU und dann die Bundesregierung entschieden sich für die Soziale Marktwirtschaft, weil sie in ihr die Entsprechung der demokratischen Staatsverfassung sahen, weil sie demokratische und soziale Prinzipien auch auf dem Gebiet der Wirtschaft verwirklichen wollen. Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft gelten nicht nur für den wirtschaftlichen Bereich im engeren Sinne; sie in allen gesellschaftlichen Bereichen zur Anwendung zu bringen, stellt sich heute als eine wichtige politische Aufgabe.

Die Politik der Sozialen Marktwirtschaft stellt die Wirtschaft in den Dienst der Menschen und der Gesellschaft. Die Wirtschaft - auch die Unternehmer - sind für die Gesellschaft da - und nicht umgekehrt. Soziale Marktwirtschaft ist keine konservative Wirtschaftsideologie im Interesse einiger Weniger. Gerade Konrad Adenauer hat die soziale Dimension der Sozialen Marktwirtschaft immer wieder betont und in der politischen Praxis auch sehr ernst genommen. Er hat sie gegenüber einem bloßen Wirtschaftsliberalismus verteidigt und ihren Anspruch durch seine Sozialpolitik eingelöst. Auch dieses Erbe Adenauers verpflichtet die CDU. In der „Mannheimer Erklärung“ versucht sie, diesem Erbe erneut gerecht zu werden, indem sie sich neben der alten auch der neuen Sozialen Frage zuwendet. Sie entspricht damit der Sozialpolitik der Regierung Adenauers, der diese immer als Auftrag und Verpflichtung des christlichen Gedankens der Solidarität ansah, als politische Antwort auf das christliche Gebot der Nächstenliebe.

Die entscheidenden Wegmarken dieser Sozialpolitik hat die Regierung Adenauer schon früh gesetzt:

- Der soziale Wohnungsbau und eine in dieser Konsequenz weder zuvor noch danach verfolgte Familienpolitik mit dem Ziel, das unmittelbare soziale Umfeld des Menschen so zu gestalten, daß dessen individuelle Entfaltungsmöglichkeiten erhöht, seine emotionale Geborgenheit gefördert und die Gesellschaft insgesamt stabilisiert wird. Damals wie heute muß Politik den Menschen dort aufsuchen, wo sein Glück sich entscheidet.

- Der Lastenausgleich als jene Form gemeinsamer Solidarität eines besiegten Volkes, die allein es ermöglichte, zehn Millionen Flüchtlinge in ein zerbombtes Land aufzunehmen und in einen jungen, noch nicht gefestigten Staat zu integrieren.

- Die dynamische Rentenversicherung - ebenfalls eine neue sozialpolitische Erfindung der Ära Adenauer - als die moderne Form der Rente anstelle einer allgemeinen Volksversicherung, die die Solidarität zwischen den Generationen, zwischen den Erwerbstätigen und den Nicht-Mehr-Erwerbstätigen verwirklicht hat.

- Mitbestimmung und Betriebsverfassung als verwirklichte soziale Partnerschaft in Betrieb und Unternehmen, die den Gegensatz zwischen „Kapital“ und „Arbeit“ überwand.

Konrad Adenauer hat seine Sozialpolitik in entscheidenden Augenblicken auch gegen Widerstand in Kabinett und Fraktion durchgesetzt. Er setzte sich für eine sozial gerechte Gesellschaft ein, lehnte jedoch einen perfektionistischen Wohlfahrtsstaat ab, der den einzelnen in Abhängigkeit vom Staat hält und am Ende in eine finanzielle Katastrophe treiben muß. Adenauer wußte, daß der Staat, gerade wenn er ein sozial gerechter sein und jenen wirksam helfen will, die seiner Hilfe am meisten bedürfen, sich beschränken und in seinen Aufgaben begrenzen muß. Für ihn waren die Beitragskraft und der Leistungsanreiz der aktiv Erwerbstätigen Grundlage und Voraussetzung jeder Sozialpolitik. Seine Gesellschaftspolitik diente dem Ziel, den einzelnen instand zu setzen, sich selbst helfen zu können. In ihrer Mitte stand die Idee des freiheitlichen Sozialstaates: der Staat muß die Voraussetzungen dafür schaffen, daß der einzelne seine individuellen Rechte und Chancen mit Aussicht auf Erfolg wahrnehmen kann. Adenauer entwickelte das christliche Prinzip der Subsidiarität auf eine moderne Weise weiter fort. Seine Politik verwirklichte die heute noch ebenso aktuelle wie grundsätzliche Alternative zu allen Formen des Sozialismus: den freiheitlichen und demokratischen Sozialstaat. Eine Überforderung des Sozialstaatsprinzips durch einen alle betreuenden und jeden bevormundenden Wohlfahrtsstaat lehnte er aus ökonomischen wie aus sozialen Gründen stets ab.

Konrad Adenauer hat nicht nur die Institutionen unseres Staates, sondern auch den politischen Stil unseres Landes geprägt. Wie er seine Politik durchsetzte und vier Bundesregierungen führte, dokumentiert überzeugend, daß Autorität und Freiheit sich in einer parlamentarischen Demokratie nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen. Kanzlerdemokratie hat man seinen Führungsstil und die von ihm geprägte Bonner Republik genannt. Die Kritik an Adenauers Kanzlerdemokratie ist verstummt, seit wir seinen Regierungsstil vergleichen können mit jenem eines autoritären wie eines führungsschwachen Kanzlers. Konrad Adenauer wuchs Autorität zu, er hatte es nicht nötig, autoritär zu sein. Die Richtlinien-Kompetenz übte er aus, er brauchte nicht auf sie zu pochen. Seine Politik war konfliktbereit: er nützte den Aktivitätsbonus der Regierung aus, wenn es darum ging, das als notwendig und richtig Erkannte in die Tat umzusetzen. Er verstand es, Interessen zu koordinieren und zu kanalisieren und die Vertreter von Verbänden zu überzeugen. Sein Beitrag zur Konsolidierung der Bundesrepublik Deutschland bestand in der Kunst, den widersprüchlichen Pluralismus der Interessen zu entschärfen und auf gemeinsame nationale Ziele hinzulenken. Konrad Adenauer hatte den Mut zu unpopulären Entscheidungen, für die er auf demokratische Weise immer wieder um Zustimmung warb und deren Legitimation er in überzeugenden Wahlsiegen auch stets erhielt. Er betrieb eine aktive, umsichtige und vorausschauende - und keine reaktive Politik der nachträglichen Anpassung. Konrad Adenauer wußte und handelte danach: die Demokratie bedarf im Interesse der Bürger, gerade der schwachen, nichtorganisierten Mitmenschen eine starke, handlungsfähige Regierung.

Adenauers Politik war umstritten. Seine historische Leistung gehört zur gemeinsamen, nachwirkenden Geschichte der Deutschen, ob sie nun seine Politik unterstützt, kritisiert oder bekämpft haben. Der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands hinterließ er ein besonderes Vermächtnis: mit der CDU schuf er die erste Volkspartei in der deutschen Parteiengeschichte. Damit leitete er eine Entwicklung ein, in deren Verlauf auch die SPD sich von einer Klassenpartei zu einer Volkspartei wandeln mußte. Idee und Wirklichkeit dieser beiden Volksparteien trugen entscheidend zur Stabilität, Integration und Regierbarkeit der Bundesrepublik Deutschland bei. Die politischen Gegensätze und sozialen Konflikte konnten nun schon im vorparlamentarischen Raum ausgetragen und ausgeglichen werden. Das deutsche Parteiensystem, das uns Konrad Adenauer hinterlassen hat, ist im historischen wie im internationalen Vergleich ein kostbares Gut: niemand, dem die Zukunft der deutschen Demokratie am Herzen liegt, wird es leichtfertig aufs Spiel setzen.

Mit der überkonfessionellen Volkspartei CDU leistete Konrad Adenauer einen entscheidenden Beitrag zur Beendigung der konfessionellen Auseinandersetzung in Deutschland. Die Volkspartei CDU vereinigte auch in anderer Hinsicht soziale Gruppen und Schichten unseres Volkes zu gemeinsamer politischer Arbeit, die sich früher gegensätzlich bis feindlich gegenüberstanden. Die Integrationskraft der CDU als einer sozialen, liberalen und konservativen Volkspartei trug ebenso sehr zum sozialen Frieden und zur sozialen Entspannung in unserem Lande bei wie die Politik Konrad Adenauers. Als der erste Bundeskanzler abtrat, war die deutsche Gesellschaft befriedet und sozial ausgeglichen wie selten zuvor in ihrer Geschichte.

Mit der CDU stand Adenauer eine junge, in vieler Hinsicht unbelastete Partei zur Verfügung, die in der ungebrochenen Tradition antinationalistischen Denkens in Deutschland stand. Die Volkspartei CDU war das wesentlich Neue in der Bundesrepublik Deutschland. Die Idee dieser Volkspartei umfaßte für Adenauer prinzipiell mehr als nur die Addition organisierter Sozial- oder gar nur wirtschaftlicher Interessen. Gerade als Volkspartei war und ist die CDU dem Ganzen verpflichtet - nicht zuletzt jenen, deren Interessen und Bedürfnisse nicht von mächtigen Organisationen vertreten werden. Solidarität mit den Schwachen und dem Ganzen war für Adenauer und die CDU Auftrag einer Politik aus christlicher Verantwortung.

Als Vorsitzender der CDU wie als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland verfügte Adenauer über eine außerordentliche Integrationskraft. Deren Geheimnis gründete in der Einfachheit und Klarheit seiner Grundgedanken. Konrad Adenauers Politik war nie nur pragmatisch, sondern orientiert an Ideen und Zielen, die er mit großer Geduld und Beharrlichkeit verfolgte.

Jenseits aller Erfolge des Politikers, jenseits auch aller historischen Leistungen des Staatsmannes Konrad Adenauer bleibt in lebhafter Erinnerung das Bild seiner Persönlichkeit, seiner distanzierten und doch verbindenden und verbindlichen Menschlichkeit. Den Menschen Konrad Adenauer kennzeichnete

- seine persönliche Integrität, der jedoch jeder Anflug unpolitischer Sentimentalität fern war;

- sein Pragmatismus, der nicht Ziel- oder Prinzipienlosigkeit, sondern ein Zeichen seiner politischen Disziplin war;

- sein ernster, skeptischer Realismus, der jedoch dank seines Witzes und seiner Ironie nie die Züge einer warmen Menschlichkeit verlor.

War Konrad Adenauer ein konservativer oder ein moderner Politiker? Die Frage wurde zu seiner Zeit kaum gestellt, für das publizistische Establishment der 50er und frühen 60er Jahre war die Antwort ohnehin eindeutig. Die intellektuellen Kritiker der Ära Adenauer ließen sich in ihrem Urteil auch nicht beirren durch den offenkundigen Sachverhalt, daß sich die deutsche Gesellschaft nie zuvor in so kurzer Zeit auf friedliche Weise so grundlegend verändert hat wie unter seiner Regierung. Gewiß: Unter Adenauer erlebten die Deutschen - nach langen Jahren der Unruhe, der Irrungen und Wirrungen - eine Periode der Stabilität. Doch diese Stabilität war gekennzeichnet durch neue Ideen, außerordentliche Dynamik und weitreichende Fortschritte.

Im Rückblick auf die Zeit Adenauers und angesichts jüngster Entwicklungen erscheint es freilich mehr als fraglich, ob die Kategorien „fortschrittlich“ und „konservativ“ noch angemessen sind für die Würdigung Konrad Adenauers wie zur Identifizierung unserer eigenen Probleme, die heute und in Zukunft von der Politik bewältigt werden müssen. Die eindeutige Zielgerichtetheit des Fortschritts ist uns verlorengegangen. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß der Fortschritt auf Grenzen stößt. Wir haben erkannt, daß aus dem Schema „fortschrittlich-konservativ“ Problemlösungen kaum mehr zu gewinnen sind. Diese falsche Alternative hat die Öffentliche Auseinandersetzung über politische Streitfragen oft in die Nähe eines politischen Kreuzzuges gerückt, das Freund-Feind-Denken in der Politik gefordert, die Atmosphäre vergiftet und der deutschen Demokratie geschadet.

In den nächsten Jahrzehnten wird es Politik vorwiegend damit zu tun haben, die Folgen jener Entwicklungen abzufangen, die wir mit guten Absichten in Gang gesetzt haben. Was scheinbar dem Fortschritt den Weg bahnte, hat uns nur tiefer in die Krise hineingeführt. Den Weg aus dieser Krise werden wir mit den Denkmustern der Vergangenheit nicht finden. Wer Politik in den Kategorien „fortschrittlich-konservativ“ denkt und betreibt, der sieht in der politischen Auseinandersetzung einen Kampf der legitimen, fortschrittlichen Interessen der Mehrheit gegen die illegitimen konservativen Privilegien einer Minderheit, Wer so denkt und handelt, verschärft die Probleme und gefährdet die Grundlagen der Demokratie.

Konrad Adenauer war weder ein „konservativer“ noch ein „fortschrittlicher“ Staatsmann. Den Herausforderungen seiner Zeit ist er gerecht geworden, weil er nicht in den Kategorien der Vergangenheit dachte. Er hat eine verspätete Nation ohne innere Konflikte und Brüche in das Industriezeitalter geführt, hat die aus den beiden großen westlichen Revolutionen entstandene liberale Demokratie bei uns heimisch gemacht. Seine Politik war geprägt durch eine zielorientierte Beständigkeit und eine beständige Prinzipientreue. Sein Führungsstil bleibt Vorbild für den demokratischen Gebrauch politischer Macht. Die Bundesrepublik Deutschland hat er stabil gebaut. Wir alle stehen auf der Grundlage seiner Politik. „Die Ära Adenauer wird noch lange andauern.“ (Friedrich Sieburg im Jahre 1967)

Adenauers Erbe ist für uns Verpflichtung. Was er unter schwierigen Bedingungen geschaffen hat, steht heute unter erneut schwierigen Bedingungen auf dem Spiel. Die inneren und äußeren Gefahren für die freiheitliche Demokratie haben nicht ihren Charakter, wohl aber ihre Erscheinungsformen geändert - und dadurch die Wachsamkeit der Demokraten eingeschläfert. Die europäische Einigung erzielt kaum Fortschritte, weil der politische Wille ebenso fehlt wie jene „spürbare Leidenschaft“, die „Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen“, die Konrad Adenauer nach dem Urteil des früheren NATO-Generalsekretärs Paul-Henri Spaak auszeichnete: „Unter allen Staatsmännern, die ich gekannt habe, gehört er zu den wenigen, die eine Vision besitzen, die fähig sind, das Unmittelbare der Zukunft, den materiellen Vorteil der Verwirklichung einer Idee zu opfern.“ (Spaak)

In der Tat: Adenauer hatte noch im hohen Alter eine originelle, zukunftsweisende politische Idee, mit der sich die Menschen identifizieren, unter der sie sich integrieren und für die sie sich einsetzen konnten - und er hatte den Mut, sie auch gegen Widerstände durchzusetzen. Adenauer hatte die Vision eines neuen Europas, dessen Mitglieder nicht mehr Vorrang durch Vorherrschaft suchen.

Uns, den nachkommenden Generationen, stellt sich die Aufgabe, Adenauers Erbe nicht nur zu bewahren, sondern es weiterzuentwickeln. Den Weg aus den Nöten unserer Zeit kann nur eine neue Perspektive für eine neue Politik weisen. Nach einer Zeit der Illusionen ohne Nüchternheit und der Beschränkung auf das Machbare ohne Perspektiven kommt es jetzt und in Zukunft darauf an, wie Konrad Adenauer mit politischer Leidenschaft und Disziplin nicht nur Krisen zu bewältigen, sondern in einer Situation zerbrochener Hoffnungen und Träume den Aufbruch zu neuen Zielen für unser Gemeinwesen freizusetzen, zu Zielen, für die unsere Mitbürger - heute wie damals - zu Einsatz und Opfer bereit sind. 

Quelle: Konrad Adenauer 1876-1976. Hg. von Helmut Kohl in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Stuttgart-Zürich 1976, S. 89-100.