2. September 1961

Fernsehansprache von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer zur sowjetischen Regierungserklärung (zur Wiederaufnahme der Atomversuche) und zur Sowjethetze gegen die Bundesregierung

Verehrte Zuhörer und Zuhörerinnen in der Bundesrepublik Deutschland, in Berlin und in der Zone!

Die Berlin-Krise ist von Chruschtschew bewusst und gewollt durch die Wiederaufnahme der Versuche mit Atombomben zu einer Weltkrise erweitert worden. Ich begrüße es, dass der Präsident der Vereinigten Staaten trotz der außerordentlichen Vergrößerung der den Erdball umfassenden Spannungen an den Verhandlungen über eine kontrollierte Abrüstung festhält. Die Lage in der Welt ist jetzt so gespannt, dass jede Maßnahme mit größter Überlegung vorgenommen werden muss.

Chruschtschew hat die Wiederaufnahme der Atomversuche in einer längeren Regierungserklärung zu begründen versucht. Er sagte, die aggressiven Vorbereitungen der westlichen Mächte zwängen ihn dazu.

Nun, Sie alle, meine Zuhörer, wissen, dass die Nato-Mächte nicht Aggressoren sind. Sie wissen, dass wir alle den Frieden wollen, dass wir aber gegenüber einem Angriff uns mit aller Kraft zur Wehr setzen werden. Chruschtschew droht in seiner Erklärung mit der Anfertigung von Superbomben. Sie wissen, dass er schon jetzt genügend Atombomben besitzt, um die ganze Erde in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Er selbst hat das mehr als einmal erklärt. Was er über Superbomben sagt, soll Angst hervorrufen.

Wir wissen, dass die Vereinigten Staaten in Atomwaffen stärker sind als die Sowjetunion, und wir wissen - Chruschtschew weiß das auch -, dass aus einem weltweiten, nuklearen Kriege weder Sieger noch Besiegte hervorgehen werden, dass insbesondere auch Sowjetrussland in einem solchen Krieg ein großes Trümmerfeld werden würde.

Das ist alles schrecklich, und darum will ja Nato und wollen insbesondere wir die kontrollierte Abrüstung aller Waffen.

In der Regierungserklärung wendet sich Chruschtschew auch an die Bundesrepublik. Das, was er über sie sagt, muss ich Ihnen wörtlich vorlesen:

„Unglücklicherweise", so heißt es dort, „gibt es zuviel Beweise für die Tatsache, dass die in Westdeutschland lebenden Deutschen sich wieder dem Gift der Revanche ergeben haben und Führer-Nachfolgern erlauben, sie auf den Weg des Krieges zu führen. Was für eine andere Erklärung", so fährt er fort, „kann es für die Tatsache geben, dass bei jeder Wahl zum Bundestag die Bevölkerung der Bundesrepublik gehorsam Bundeskanzler Adenauer und diejenigen Politiker wählt, die unbelehrbar die Deutschen in neue Angriffshandlungen hineinziehen wollen? Deutsche, die Adenauer wählen, müssen wissen, dass Adenauer und die Anhänger seiner Politik in Westdeutschland sich genau die gleichen antikommunistischen und revanchistischen Schlagworte zu eigen gemacht haben, mit denen Hitler zur Macht kam und in der Folge den zweiten Weltkrieg entfesselte."

Chruschtschew nennt mich „Führer-Nachfolger"; er vergleicht mich mit Hitler! Er behauptet, dass bei jeder Wahl zum Bundestag die Bevölkerung der Bundesrepublik gehorsam mich und diejenigen Politiker wähle, die unbelehrbar die Deutschen in neue Angriffshandlungen hineinziehen wollen.

Zunächst, meine Zuhörer und Zuhörerinnen, möchte ich feststellen, dass diese in einer so wichtigen Regierungserklärung der Sowjetunion stehenden Sätze eine krasse Einmischung in unsere am 17. September stattfindenden Bundestagswahlen sind, die alle Parteien mit Entrüstung zurückweisen.

Dann aber möchte ich der Sowjetunion folgendes sagen: Die Bundesrepublik Deutschland hat in feierlicher Form erklärt, dass wir gegen jeden Angriffskrieg sind, dass die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes nur auf friedlichem Wege erfolgen soll. Am 31. August dieses Jahres, als ich diese Erklärung Chruschtschews also noch gar nicht kannte, habe ich in einer Ansprache an die Soldaten des Fliegerhorstes Wunstorf gesagt: „Ihr, Soldaten der Bundeswehr, seid da zur Sicherung des Friedens!"

Wir haben keine antikommunistischen Kreuzzugsideen! Wir achten das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Volkes. Wir sind der einzige Staat, der sich schon im Jahre 1954 verpflichtet hat, keine Atomwaffen herzustellen.

Meine verehrten Zuhörer und Zuhörerinnen! Weder die Bundesregierung noch das Deutsche Volk brauchen sich von den Sowjets nachsagen zu lassen, dass sie sich dem „Gift der Revanche" ergeben hätten. Wir möchten wahrhaftig mit allen Völkern in Frieden leben, auch mit den Völkern der Sowjetunion!

Warum, meine verehrten Zuhörer, ist die Lage jetzt so kritisch geworden? Ich glaube, dass die Antwort auf diese Frage heute leichter ist als noch vor wenigen Tagen. Nachdem die Sowjets den atomaren Versuchsstopp gekündigt haben, wird kaum noch jemand so töricht sein können, die Krise, in der die Welt sich befindet, etwa nur für eine Krise um Berlin zu halten. Die sowjetrussische Regierungserklärung zeigt in dem Passus, der sich mit der gegenwärtigen Bundestagsmehrheit und mit mir beschäftigt, sehr klar, was die Sowjetunion will:

Sie will mit ihrem Eingriff in die Bundestagswahlen eine Änderung in der Außenpolitik der Bundesrepublik herbeiführen, eine Abkehr von unserer bisherigen Nato- und Sicherheitspolitik; sie will damit dem Zusammenschluss der europäischen und der nordatlantischen Gemeinschaft ein Ende machen. Denn diese Politik ist es ja, die sie angreift, vor der sie die Deutschen warnt.

Wie oft habe ich in den vergangenen Jahren gesagt, dass wir zu einer Lösung der großen politischen Fragen erst kommen werden, wenn auf dem Gebiet der allgemeinen Abrüstung erste wirksame Schritte verwirklicht worden sind!

Erinnern Sie sich noch, meine verehrten Zuhörer, wie die Londoner Abrüstungsverhandlungen kurz vor dem Start des ersten „Sputnik" plötzlich zusammenbrachen? Und haben wir dann auf der anderen Seite nicht erlebt, dass dieselben Sowjets, die 1955 in Genf die Ver­pflichtung zur Wiedervereinigung Deutschlands durch freie Wahlen anerkannt hatten, nun die Endgültigkeit der Spaltung Deutschlands durchsetzen wollen und die Umwandlung Westberlins in eine schutzlose „Freie Stadt"?

Ist wirklich alles getan worden, so werden Sie mich sicher fragen, damit die Bundesrepublik und Berlin auch diese kritischste Phase der Nachkriegsentwicklung überstehen können? Zu dieser Frage möchte ich Ihnen, meine verehrten Zuhörer und Zuhörerinnen, sagen, dass die von mir geführte Regierung seit dem Jahre 1949 gegen heftige Widerstände die Eingliederung der Bundesrepublik in den freien Westen Schritt für Schritt zu verwirklichen vermochte.

Ich habe nicht die Absicht, heute abend noch einmal über die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen wegen des Eintritts in die Nato und der Aufstellung der Bundeswehr zu sprechen. Ich möchte nur betonen, dass wir dabei nicht, wie uns immer vorgeworfen wurdeeine Politik der Stärke verfolgten, sondern eine Politik der Schwäche mit Erfolg vermieden. Wo ständen wir heute, wenn wir den Prophe­ten des Neutralismus gefolgt wären? Was wäre jetzt aus dem freien Berlin geworden? Mit welchem Recht könnten wir auf die Solidarität der atlantischen Gemeinschaft rechnen, hätten wir der Aufforderung, auch selbst einen Beitrag zur militärischen Verteidigung zu leisten, nicht Folge gegeben?

Friede und Freiheit verlangen heute erhöhte Verteidigungsanstrengungen der westlichen Bündnisgemeinschaft. Bedenken Sie bitte auch, dass Westberlin noch mehr Hilfe braucht!

Seit gestern tagt in Belgrad eine Konferenz von 25 neutralen Staaten. Die dort versammelten Staatsoberhäupter und Regierungschefs wollen auch zum Abbau der internationalen Spannungen beitragen und damit auch zur Erhaltung des Friedens in der Welt. Wir begrüßen diese ihre Absicht.

Der neue Bundestag, meine Zuhörer, wird die Verantwortung für die deutsche Politik in dieser kritischen Phase übernehmen müssen. Die Bundesregierung, die aus ihm hervorgeht, wird nur dann erfolg­reich sein, wenn sie nicht experimentiert, sondern den bisherigen Weg konsequent fortsetzt. Wir brauchen eine starke Regierung, die vom Vertrauen einer großen Mehrheit im Parlament und Volk getragen ist. Wir werden durch Verhandlungen zu einer Lösung des Deutsch­land- und damit des Berlinproblems kommen müssen, die für beide Teile, den Osten und den Westen, aber auch für das deutsche Volk, annehmbar ist. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Verhandlungen mit den Sowjetrussen schwierig sind. Aber wie 1955 meine Verhandlun­gen in Moskau schließlich doch zur Freilassung der Kriegsgefangenen und zur Herstellung diplomatischer Beziehungen geführt haben, so bin ich überzeugt, dass wir auch jetzt in Verhandlungen zu einer Lösung kommen werden. Ich werde alles tun, dass der Friede erhalten bleibt, dass wir in Sicherheit und Freiheit leben können. Ich bin davon überzeugt, dass wir auch in absehbarer Zeit zur deutschen Einheit in Frieden und in Freiheit kommen werden!

 

Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung.