20. August 1963

Gemeinsam für Europa

Von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer

 

Die Beziehungen Italiens und Deutschlands zueinander sind von einem ständigen Geben und Nehmen geprägt. Durch eine zweitausendjährige Geschichte ist so ein gemeinsames geistiges Erbe in reicher Fülle geschaffen worden. Die beiderseitigen Leistungen auf dem Gebiet der Philosophie, der Politik, der Architektur und der Technik haben einen großen Beitrag zur menschlichen Kultur geleistet. Aus diesem geschichtlichen Erleben heraus fühlen sich beide Völker in der Gemeinsamkeit ihrer Ziele stärker aneinander gebunden. Der Dienst an der Freiheit, dem Fortschritt und dem Frieden ist mächtiger denn je in ihr Bewusstsein gedrungen.

In der jüngsten Zeit der Geschichte erlitten die Beziehungen der beiden Völker einen gewissen Rückschlag. Diese Beziehungen sind nach dem kürzlichen Besuch des Staatspräsidenten Segni so eng geworden wie kaum zuvor im Laufe der Geschichte. Es ist das gemeinsame Streben Italiens und Deutschlands, den Aufbau des neuen Europa voranzutreiben, den Frieden in der Welt und die internationale Ordnung weiter sichern zu helfen. Das ist die Lehre aus der Vergangenheit, die zu Entschlossenheit und Verpflichtung antreibt. Die Deutschen sind sich bewusst, dass Europa nur bestehen kann, wenn es sein höchstes Gut, die Freiheit, weiter entschlossen verteidigt.

In dem Ziel der europäischen Einigung stimmen Deutsche und Italiener überein. Es ist die gemeinsame Überzeugung, dass die politische und wirtschaftliche Einigung Europas für die Stabilität der freien Welt von erstrangiger Bedeutung ist. Diese Übereinstimmung bedeutet, dass das europäische Einigungswerk weitergeführt und vollendet wird. Der unvergessene italienische Staatsmann Alcide de Gasperi hat seine ganze Kraft dieser Aufgabe gewidmet, die unsere hohe Verpflichtung in der Zukunft bleibt. Daher begrüßen auch die italienischen Freunde Deutschlands die deutsch-französische Verständigung, die eine der Voraussetzungen auf dem Wege zur Einigung Europas ist. So hoffe ich, dass das Ideal der Einigung Europas zwischen den anderen europäischen Nationen sich durchsetzen wird.

Über das Politische hinaus stellt sich nun die Frage, auf welchen weiteren Gebieten die beiden Länder enger zusammenarbeiten können. Ich habe bereits von den engen geistigen und kulturellen Beziehungen im Laufe einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte gesprochen. Die Verehrung all dessen, was in Italien geschah und geschieht, ist nur zu gut bekannt. Neben dem wirtschaftlichen Sektor bieten sich gerade auf der kulturellen Seite noch viele Möglichkeiten einer intensiveren Zusammenarbeit. Es ist für mich nach dem Besuch von Staatspräsident Segni eine besondere Genugtuung zu wissen, dass Italien für die Lösung so vieler ernster Probleme, denen unser Volk gegenübersteht, Verständnis zeigt. Wir hoffen gemeinsam, dass Deutschland die Anerkennung seiner Rechte und die Erfüllung seiner Wünsche in einem gerechten Frieden finden wird.

 

Quelle: Neue Tagespost, Osnabrück vom 20. August 1963.